Patientensicherheit: CIRS ist „Chefsache“

25.11.2012 | Politik


Seit nunmehr drei Jahren existiert in Österreich das Fehlerberichts- und Lernsystem CIRSmedical. Von der Schwierigkeit, ein solches System zu implementieren und der noch größeren Herausforderung, es am Leben zu erhalten, berichteten Experten bei einer Tagung im November in Wien.
Von Marion Huber

„Wir wollen die Leisen lauter machen – die leisen Fehler ebenso wie die leisen Mitarbeiter“, sagt Herbert Kaloud, Anästhesist und Projektleiter des Programms CIRPS (Critical Incident Reporting & Prevention System) am Unfallkrankenhaus Graz. Neben zahlreichen anderen Experten schildert er im Rahmen der Tagung „CIRS 2.0-Anwenderforum – Modelle, Spannungsfelder und Perspektiven“, zu der die Plattform Patientensicherheit gemeinsam mit der Österreichischen Ärztekammer eingeladen hatte, die Möglichkeiten und Grenzen
von CIRS.

In erster Linie dient ein Fehlermelde-System dazu, unbeabsichtigten Patientenschaden zu vermeiden und die Patientensicherheit zu erhöhen. Die häufigsten Fehler in dieser Hinsicht passieren in Zusammenhang mit der korrekten Identifikation von Patienten, der Kommunikation im Behandlungsteam, dem sicheren Umgang mit Medikamenten, dem Team-Time-Out vor chirurgischen Eingriffen und der Einhaltung der Hygiene-Richtlinien. „Die Probleme und Schwierigkeiten sind fast immer und überall die gleichen“, resümiert Thomas Müller, ärztlicher Direktor am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Linz. Müller weiter: „Dennoch kann ein Vorfall-Berichtssystem nur einen kleinen Teil zur Patientensicherheit beitragen.“ Denn CIRS ist nicht mit Risikomanagement gleichzusetzen – wohl aber ein wichtiger Bestandteil davon. Auch für Univ. Prof. Norbert Pateisky, Leiter der Abteilung für Klinisches Risikomanagement an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde der Medizinischen Universität Wien, kann ein Meldesystem nur ein „Hilfswerkzeug“ sein: „Allein kann es keinerlei Wirkung entfalten. Es sollte nicht eingeführt werden, wenn nicht bereits zuvor andere Maßnahmen zur Patientensicherheit getroffen worden sind.“

CIRS ist daher prinzipiell eindeutig „Chefsache“, sind sich die Experten einig. „Das ist ganz klar eine Führungsaufgabe“, stellt Brigitte Ettl, ärztliche Direktorin des Krankenhauses Hietzing in Wien, klar. Aber auch wenn die Führungsebene in die Pflicht genommen wird, leben kann ein Meldesystem für Beinahe-Fehler nur durch die aktive Teilnahme der Mitarbeiter. „Ausgehen muss ein CIRS von oben, getragen muss es aber von einem ambitionierten Team werden“, weiß Kaloud aus seiner Erfahrung als Projektleiter
von CIRPS.

Selbst wenn CIRS einmal implementiert ist, ist es noch lange kein Selbstläufer, sind sich die Experten einig. „Ein solches System zu implementieren, ist schwierig, es am Leben zu halten, ist allerdings noch viel schwieriger“, betont Kaloud. Man müsse die Mitarbeiter immer wieder neu dazu motivieren, ins System einzutragen und das Programm bewerben, fügt auch Müller hinzu. Ohne Schulungen der Mitarbeiter geht jedenfalls nichts, erklären die Experten unisono. Müller dazu: „Ohne Medical Team Trainings ist man zum Scheitern verurteilt.“

Die Grundprinzipien

Oft scheitert ein Fehler-Berichtssystem aber auch daran, dass die Anwender es nicht oder nicht mehr nutzen: etwa dann, wenn sie unsicher sind, ob eine Meldung nicht doch zu Sanktionen führt. Dabei gehört die Sanktionsfreiheit neben der Anonymität, der Freiwilligkeit und der Vertraulichkeit zu den absoluten Grundprinzipien von CIRS. Jeder, der eine Meldung abgibt, kann dies anonym tun. Wird aber – und das ist das Ziel von CIRS – eine Fehlerkultur entwickelt und es kommt zu einem Kulturwandel, tritt die Anonymität automatisch wieder in den Hintergrund. Nach einer gewissen Eingewöhnungsphase und nachdem Vertrauen zum System aufgebaut wurde, zeigt sich die Tendenz, dass immer mehr Eintragende bewusst auf ihre Anonymität verzichten. So werden im St. Josef Krankenhaus in Wien bereits 50 bis 70 Prozent der Meldungen im Risk- und Fehlermanagement-System hiSAM (high Safetymanagement) nicht anonym eingegeben, so Harald Fuchs, Beauftragter für das Qualitätsmanagement im St. Josef Krankenhaus. „Wir brauchen eine Gesellschaft, die toleriert, dass wir Fehler machen, uns damit beschäftigen und daran arbeiten“, bringt es Pateisky auf den Punkt.

Mitarbeiter tragen aber auch dann nichts ins System ein, wenn sie keine Rückmeldung erhalten oder keine Verbesserungen erkennen. Daher sei das rechtzeitige Rückmelden an die Eintragenden von entscheidender Bedeutung, um das System am Leben zu erhalten, ist Kaloud überzeugt: „Sonst werden immer weniger Meldungen eingetragen.“

Wichtig ist, abgesehen vom raschen Feedback, auch die interdisziplinäre und interprofessionelle Besetzung des CIRS-Teams durch Medizin, Pflege, Verwaltung sowie Psychologen. Sie versuchen, Lösungen für konkrete Fälle zu finden aber auch systemische Strategien und Maßnahmen zu entwickeln, die helfen, die gemeldeten Beinahe-Vorfälle künftig zu vermeiden. Außerdem müsse das Team analysieren, in welchem Umfeld und unter welchen Umständen es zu den Fehlern kommt – ob ein Fehler etwa einem jungen oder einem erfahrenen Arzt passiert, ist Pateisky überzeugt: „Nur so kann man effektive Lösungsstrategien finden.“ Dabei seien neben operativen Problemen auch menschliche Faktoren und menschliche Leistungsgrenzen in den Mittelpunkt zu rücken. Als schlimmste Kombination nennt er ein operatives Problem und einen menschlichen Fehler gepaart mit einem erschwerenden sozialen Faktor. „Soziale Probleme im Team erhöhen die Unfallsrate um das Fünffache“, weiß Pateisky.

Gemeinsam lernen

Ziel eines CIRS sei neben der erhöhten Patientensicherheit jedenfalls die Enttabuisierung von Fehlern, betont der Präsident der Stiftung Patientensicherheit in der Schweiz, Prof. Dieter Conen: „Wir können gemeinsam aus Fehlern und voneinander lernen. Nicht jeden Fehler muss man selbst machen.“ Daher brauche es bei solchen Meldesystemen auch zwangsläufig die Vernetzung. „Ich kann mir kein CIRS vorstellen, an dem die Öffentlichkeit nicht teilnimmt“, erklärt Conen. Gleichzeitig bedürfe das Lernen aber auch der Expertise vor Ort: „Es braucht Strategien und Lösungen der Experten vor Ort, weil sie die Umstände und Bedingungen am besten kennen.“ Für ihn stelle sich die Frage nach einem zentralen oder dezentralen System daher nicht: „Das sind komplementäre Begriffe.“

Eine Erfolgsgeschichte in Sachen Fehlermelde-Systeme ist das österreichweite Fehlerberichts- und Lernsystem CIRSmedical, das auf Initiative der ÖÄK und mit Beteiligung des Gesundheitsministeriums eingeführt wurde. „CIRSmedical feiert in diesen Tagen seinen dritten Geburtstag“, zeigt sich Esther Thaler, Geschäftsführerin der ÖQMed (Österreichische Gesellschaft für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in der Medizin GmbH) – jene Organisation, die die ÖÄK mit der Umsetzung des Systems betraut hat – erfreut. „Alle im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen arbeiten mit, helfen mit und profitieren auch davon“, so Thaler.

Seit der Implementierung im November 2009 zählt CIRSmedical.at 316 Berichte. 55 Prozent der Meldungen stammen von Ärzten; in 22 Prozent der Fälle berichten Pflegepersonen von Beinahe-Fehlern und Beinahe-Zwischenfällen. Zum Ablauf: Ein einlangender Bericht wird von den in der ÖQMed zuständigen Personen – sie unterliegen der Verschwiegenheitspflicht – anonymisiert und abstrahiert; die Daten werden verschlüsselt an einen Server in der Schweiz übertragen, die IP-Adresse wird gelöscht, wodurch die Anonymität gewährleistet ist. Nach einer inhaltlichen Prüfung des Berichts wird er an die Experten zur Stellungnahme übermittelt. Erst nachdem die Freigabe durch das Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen (BIQG) erfolgt ist, wird der Bericht veröffentlicht.

Anstatt nur im nationalen CIRSmedical einzutragen oder ein eigenes CIRS aufzubauen und zu implementieren, können Organisationen auch Meldegruppen von CIRSmedical im eigenen Haus installieren. Dabei handelt es sich um Duplikate von CIRSmedical.at, die je nach Bedarf der Organisation nur intern verwendet oder im Sinne der Vernetzung als offenes System bedient und mit einer Schnittstelle versehen werden können. Mittlerweile gibt es bereits neun solche aktive Meldegruppen.

Finanziert wird das nationale CIRSmedical. at derzeit ausschließlich aus Mitteln der ÖÄK. „Der nächste Schritt ist, dass die öffentliche Hand Ressourcen dafür zur Verfügung stellt. Schließlich ist CIRS ein Public Health-Auftrag, der auch finanziert werden muss“, stellt Ursula Frohner, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes, klar.

Tipp:
www.cirsmedical.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2012