Interview – Dr. Erwin Rasinger: Gesundheitsreform: reine Finanzkosmetik?

10.11.2012 | Politik

Wer in der Gesundheitspolitik nur Finanzkosmetik betreibt, betreibt à la longue Rationierung – sagt ÖVP-Gesundheitssprecher Erwin Rasinger. Er fordert 1.000 Kassenplanstellen, um die Spitalsambulanzen zu entlasten und sieht bei der Umsetzung von ELGA nun Länder und Sozialversicherung gefordert.
Das Gespräch führte Agnes M. Mühlgassner.


ÖÄZ: ELGA ist jetzt, nachdem es vor eineinhalb Jahren den ersten Gesetzesentwurf gegeben hat, sehr rasch in den Ministerrat gekommen und beschlossen worden. Wieso diese Eile?

Rasinger: Es hat – leider – eineinhalb Jahre gedauert, weil Minister Alois Stöger anfangs nicht zu wesentlichen Änderungen bereit war. Ich kann so ein Gesetz nicht gegen die Ärzte durchsetzen. Im Gesetz ist gestanden, ein Arzt ist mit bis zu 10.000 Euro zu bestrafen, wenn er es nicht anwendet. Das musste tiefe Verbitterung bei den Ärzten hervorrufen. Das ist die dreifache Strafe, wenn man alkoholisiert fährt.

Auf Drängen der ÖÄK hat es im Sommer dieses Jahres noch drei Arbeitsgruppen gegeben, die noch einiges in Bewegung gebracht haben. Trotzdem: Nach wie vor sind viele Fragen offen.

Ich habe in der ÖVP mit Nachdruck vertreten, dass es im Sommer zusätzliche Verhandlungsrunden gibt und durchgesetzt. Der Minister wollte das ELGA-Gesetz im Frühjahr ja alle 14 Tage durch den Ministerrat jagen, ohne mit mir oder den Ärzten zu verhandeln. Wir haben ihn zu Verhandlungen mit der Ärzteschaft gezwungen. Die konstruktive Haltung der Ärztekammer mit ihren fünf Forderungen hat den Minister natürlich verhandlungstechnisch gegenüber der ÖVP unter hohen Druck gebracht. Die ÖVP war nicht bereit, über die Ärzte drüber zu fahren. Und meine Verhandlungserfolge wären ohne die Vorarbeit der Ärztekammer nicht möglich gewesen. Wobei man sagen muss: Dieses Gesetz ist das schwierigste, das ich in meiner Tätigkeit im Gesundheitsbereich erlebt habe. Und in Zeiten wie diesen, wo gespart werden muss, stellt sich natürlich schon die Frage: Ist der Nutzen vereinbar mit den zu erwartenden Kosten?

Ist er das?
Die Kostenrechnung, die der Minister aufgestellt hat, mit einer Ersparnis von 129 Millionen ist durch nichts bewiesen, weil er schlicht und einfach die Kosten für die Ärzte
vergessen hat.

Der Minister will jetzt 15 Millionen Euro als Anschubfinanzierung zur Verfügung stellen – reicht das?
Die Benützung von ELGA für die Ärzte ist umsonst. Ursprünglich war geplant, dass man für die Benutzung von ELGA-Daten jedes Mal zahlen muss. Da ELGA im niedergelassenen Bereich freiwillig ist, will der Minister mit der Anschubfinanzierung erreichen, dass möglichst alle Ärzte freiwillig teilnehmen.

Aber genau diese Freiwilligkeit ist ja ein Punkt, der eher tricky ist. Man sagt den Ärzten, sie können es freiwillig nutzen, sie haften aber trotzdem nach dem Ärztegesetz, wenn etwas passiert und in ELGA etwas Wissenswertes steht.
Das stimmt so nicht, denn der Arzt ist immer verantwortlich für die Behandlung seiner Patienten. Wie er sich die Information besorgt, ist ja jetzt schon seine Sache. Es stehen ihm auch jetzt schriftliche Befunde zur Verfügung und das wird bei ELGA auch so sein. ELGA ist ein Zusatz-Tool, mehr nicht. Man muss aber auch sagen, dass ELGA in vielen Ländern Europas schlicht und einfach gescheitert ist: In Großbritannien etwa bezeichnet man es nur noch als ‚Nightmare‘; in der Tschechoslowakei, in Holland ist es gescheitert, auch in Deutschland.

Wie kann man sicherstellen, dass es bei uns nicht auch ein ‚Nightmare‘ wird?
Ganz einfach. Durch den Begriff der Freiwilligkeit: Wenn das Ministerium, die Länder und die Sozialversicherung keine gescheite Lösung zusammenbringen, wird es nicht angewendet werden, weil es nicht angewendet werden muss. Es wird sich einfach nicht durchsetzen.

Eine Umfrage hat ergeben, dass zwei Drittel der Spitäler derzeit EDV-mäßig nicht den Level aufweisen, der für ELGA erforderlich ist. Da wird man Geld brauchen und den Trägern sagen, dass sie aufrüsten müssen.
Richtig. Die sogenannte Usability und eine entsprechende Suchfunktion wurden verstärkt von Präsident Wechselberger in die Diskussion eingebracht. Das ist eine Kernfrage. Diese Funktionen sind vorgesehen, müssen aber erst erarbeitet werden. Der Minister und die Länder haben eine fast dreijährige Galgenfrist.

Wenn das technisch nicht möglich ist, gibt es ELGA nicht?
Richtig. Das wäre dann die letzte Konsequenz, dass es nicht angewendet wird. Dann hat der Minister einen Millionen-Flop zu verantworten.

Die ÖÄK setzt große Hoffnungen in die Parlamentarier. Man glaubt, dass mit Argumenten der Vernunft noch Änderungen möglich sind.
Das Gesetz steht im Wesentlichen. Für jede Änderung ist die Zustimmung des Koalitionspartners erforderlich. Das Gesetz ist völlig anders als der erste Entwurf. Es ist beispielsweise festgeschrieben, dass weder Hauptverband noch Ministerium die Daten für die statistische Auswertung oder Leitlinien-Erstellung benutzen dürfen.

Themenwechsel. Brauchen wir eine Gesundheitsreform oder besser: Brauchen wir diese Gesundheitsreform?
Ich bin jetzt seit 16 Jahren Gesundheitssprecher und alle zwei, drei Jahre gibt es Reformbemühungen. Ein Bereich, in dem elf Prozent des BIP erwirtschaftet werden und 400.000 Personen beschäftigt sind, braucht ständig Nachjustierungen. Manche Politiker glauben, das österreichische Gesundheitswesen sei schlecht und gehört reformiert. Das stimmt nicht und auch die Kosten ufern nicht aus, denn die liegen unter dem OECD-Wachstum. Trotzdem ist es nicht verboten, über Verbesserungen nachzudenken. Der Grundgedanke der jetzigen Gesundheitsreform, dass man das Spital entlasten will, wo wir Weltmeister bei den Spitalsaufnahmen sind, ist nicht falsch.

Seit Jahrzehnten ist in den diversen Regierungserklärungen von der Stärkung der wohnortnahen Versorgung die Rede. Jetzt ist ja genau das Gegenteil geplant.
Ich habe in das Regierungsprogramm ein Hausarztmodell einarbeiten lassen. Der Minister hat das nicht einmal ignoriert. Im Moment gibt es dazu nichts. Aber im Licht der EU-Finanzkrise sparsam umzugehen, ist sicherlich ein gutes Ziel. Die vorgeschlagenen 3,6 Prozent Einsparungen sind machbar, wenn ich mir die Steigerungen im Spitalsbereich anschaue. Das zweite Hauptziel der Reform, dass die Krankenkassen und die Länder enger zusammenarbeiten mit dem Ziel, die Leistungen dort zu erbringen, wo sie kostengünstiger und näher sind, ist sinnvoll. Und das bedeutet die Aufwertung des niedergelassenen Bereichs. Jede Reform lebt von der Ernsthaftigkeit, mit der man sie umsetzt.

Trotzdem: Es entsteht der Eindruck, als wolle man in Österreich gerade im Gesundheitswesen einsparen, anstelle gewisse Bauvorhaben zu überdenken oder etwa in der Verwaltung einzusparen, wie es der Rechnungshof ständig einfordert.
Das Reduzieren von Gesundheitspolitik auf Sparziele geht am Thema vorbei. Der Kernsatz der Gesundheitspolitik heißt: hochqualifizierte Versorgung unabhängig vom Alter und vom Einkommen. Das steht im Regierungsprogramm und sollte die Leitlinie für alle Politiker sein.

Die Gesundheitsreform hat einen ambitionierten Zeitplan. Nach der Einigung in der Steuerungsgruppe Gesundheit im Juni soll Ende November alles unter Dach und Fach sein. Aber jetzt wird noch immer gestritten, und zwar nicht über Versorgungsfragen, sondern über’s Geld.
Der Minister hat sich entschlossen, nur Finanzpolitiker und Sozialpolitiker an den Tisch zu holen. Ich bin in diese Gespräche nicht involviert. Er bekommt dort die Politik, die gemacht wird, wenn Finanzpolitiker zusammensitzen. Das macht keinen einzigen Patienten gesund. Für mich schaut eine Reform anders aus.

Und zwar wie?
Ganz einfach. Eine gute Gesundheitspolitik schaut, wo die Lücken sind. Es gelingt immer weniger, Hausarztpraxen zu besetzen, es gibt kein Angebot in der Kinderrehabilitation. Die ärztliche Zuwendung wird extrem schlecht bezahlt. Zusammenarbeitsformen gehören definiert. Es gibt genügend Ansätze unabhängig vom Finanzierungsansatz. Eine gute Gesundheitspolitik schaut, dass es gute Arbeitsbedingungen gibt. Wer nur Finanzkosmetik betreibt, betreibt à la longue Rationierung.

Aber passiert das nicht gerade angesichts des geplanten Einsparvolumens von 3,4 Milliarden bis 2016?

Nein, das Überziel ist, dass die Gesundheitskosten nicht mehr als 3,6 Prozent wachsen. Dieses Ziel ist erreichbar. Entscheidend ist, ob es gelingt, die nicht notwendigen Spitalsleistungen in den ambulanten Bereich zu verschieben. Es gibt zig Beispiele dafür. Nur: Man muss es tun. Das beste Gesetz nützt nichts, wenn sich Krankenkassen und Sozialversicherung nicht auf diese Leistungsverschiebung einigen.

Der Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte in der ÖÄK, Johannes Steinhart, hat vorgeschlagen, mehr als 1.000 neuen Kassenplanstellen zu schaffen, um die Spitalsambulanzen zu entlasten. Was halten Sie davon?
Österreich hat rund 7.000 Kassenärzte inclusive Fachärzte, Deutschland hat 130.000. Umgelegt auf Österreich heißt das, dass wir rund 6.000 Stellen im niedergelassenen Bereich weniger haben. Wir brauchen daher zur Spitalsentlastung mindestens 1.000 neue Kassenplanstellen. Wenn man jetzt nichts macht, bleibt die Entlastung der Spitäler so wie in den letzten 30 Jahren ein Lippenbekenntnis und wir reden in drei Jahren über die nächste Gesundheitsreform.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2012