Ernährungsbericht: Wo bleibt die Wissenschaftlichkeit?

25.10.2012 | Politik

Ernährungsbericht: Wo bleibt die Wissenschafltichkeit?

Der Ernährungsbericht, der vom Bundesministerium für Gesundheit – ohne öffentliche Ausschreibung direkt an das Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Wien in Auftrag gegeben worden ist -, sollte nach dem Vorwort von Herrn Minister Stöger eine „wichtige Grundlage für Maßnahmen in der Gesundheitsförderung und Prävention von Ernährungsmitbedingten Erkrankungen, die den Alltag der Betroffenen stark beeinträchtigen können und auch in Österreich die häufigste Ursache von vorzeitigen Todesfällen und Krankenhausaufenthalten sind“, darstellen. Dieser hohe Anspruch erfordert eine äußerst sorgfältige und mit wissenschaftlichen Methoden durchgeführte Erfassung der vorhandenen Daten und – falls diese dem gesetzten Ziel entsprechend nicht vorhanden sein sollten – eine mit ebensolchen Methoden erarbeitete Erhebung relevanter Daten. Diese müssten dann mit entsprechender Akribie unter Einbeziehung von Statistikern, Epidemiologen und Experten aus den einzelnen Subdisziplinen ausgewertet und interpretiert werden. Solch ein Unterfangen ist ohne Zweifel eine diffizile und sehr aufwendige Angelegenheit und erfordert eine ausgewiesene Expertise.

Diese Voraussetzungen erfüllt der genannte Ernährungsbericht nur marginal: Daher ist es äußerst gewagt, aus diesem Bericht irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen; in der Zusammenfassung sind auch keine als solche dargestellt.

Zu einigen Punkten soll hier Stellung bezogen werden:
1) Auswahl des Probandenkollektivs: 1.002 Personen wurden einbezogen; davon 188 Mädchen, 199 Buben, 251 Frauen, 168 Männer (jeweils von 18 bis 64 Jahren), 133 Seniorinnen und 63 Senioren (65 bis 80 Jahre). Nicht angegeben ist , wie diese „Probanden“ rekrutiert wurden, wie das mittlere Alter ist, wie viele aus welchen Teilen Österreichs, wie viele aus dem städtischen beziehungsweise ländlichen Bereich stammen. Daher sind Rückschlüsse auf die österreichische Bevölkerung nur sehr bedingt möglich.

2) Die Daten zur Nahrungsaufnahme wurde mittels zweier 24h-Erinnerungsprotokollen bei Erwachsenen beziehungsweise Drei-Tages-Schätzprotokollen bei Kindern erhoben. Obwohl ein Verfahren zum Ausschluss so genannter „Underreporter“ angewendet wurde, kann eine Verzerrung der Daten nicht ausgeschlossen werden. Die Daten zur Energiezufuhr bei Kindern liegen bei den Gruppen zehn bis zwölf Jahre und 13 bis 14 Jahre deutlich unter den Empfehlungen! Somit dürfte es – wenn die Daten stimmen – keine übergewichtigen Kinder geben. Bei den Erwachsenen liegt die angegebene Energiezufuhr bei der Altersgruppe 18 bis 50 Jahre überwiegend unter den Empfehlungen, das heißt das Übergewicht ist nicht erklärbar – außer man zweifelt die Daten an. Derartige Widersprüche lassen die Angabe von mit diesen Methoden berechneten Energiezufuhren als entbehrlich erscheinen, da ihnen keinerlei Realitätswert zugeordnet werden kann. Dies wird unterstrichen, wenn man die angegebenen (gemessenen) Daten zum Energieverbrauch heranzieht: Daraus ergibt sich ein Energiedefizit (!) bei Kindern von circa 400 kcal/d, bei erwachsenen Frauen von circa 200 und bei erwachsenen Männern von bis zu 900 kcal/d!

3) Angaben zur Prävalenz des Übergewichtes von Kindern: Mädchen: 25 Prozent haben einen erhöhten Fettanteil, 21 Prozent sind nach der Beurteilung mittels BMI übergewichtig beziehungsweise adipös. Buben: Elf Prozent haben einen erhöhten Fettanteil, 25 Prozent sind nach der Beurteilung mittels BMI adipös. Eine plausible Erklärung für diese Differenz findet sich nicht.

4) Beispiel für Vitaminstatus: Der gemessene Wert für ß-Carotin (95 Prozent Confidenzintervall) liegt über dem Status-Referenzwert; dieser ist nach Recherchen für eine andere Altersgruppe (Säuglinge) angegeben. Aus der Zusammenfassung ist nicht ersichtlich, warum dann 40 bis 48 Prozent der Kinder eine Unterversorgung aufweisen sollen. Die Plasmavitamin-C-Spiegel übersteigen ebenso die Referenzwerte; die Aufnahmemengen liegen jedoch angeblich bei den 13- bis 14-Jährigen unter den Zufuhrempfehlungen.

5) Der gemessene Status an Selen liegt in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen im Normalbereich; in der Zusammenfassung findet sich Selen unter den „kritischen Nährstoffen“.

6) Körperliche Aktivität: 97 Prozent der Buben und 90 Prozent der Mädchen erreichen die empfohlenen 60 Minuten moderate bis anstrengende körperliche Aktivität pro Tag. Demnach wäre die Forderung nach mehr körperlicher Aktivität bei Kindern hinfällig. Dies widerspricht krass den Ergebnissen der EU-Studie, die in einer internationalen (reviewten) Fachzeitschrift veröffentlicht wurden, wonach nur rund die Hälfte der Jugendlichen ausreichend aktiv ist.

Man könnte die Kritik am sogenannten Ernährungsbericht, der in vielen Teilen nicht mit der gebotenen Sorgfalt und vor allem nicht nach den üblichen wissenschaftlichen Regeln verfasst wurde, lange fortsetzen. Unverständlich ist, dass der Rohbericht nicht einem unabhängigen Fachgremium aus dem Ausland vorgelegt wurde; damit hätte er vielleicht – auf circa 30 Seiten zusammengefasst – tatsächlich ein reliables  Instrument für die Gesundheitspolitik werden können.

Die bereits in zahlreichen öffentlichen Erklärungen präsentierten Schlussfolgerungen sind in vielen Fällen unzulässig. Eines ist jedoch sicher: Nämlich dass Übergewicht mit seinen Folgeerkrankungen bereits jetzt das vorrangige Gesundheitsproblem in Österreich darstellt.

*) Univ. Prof. Dr. Kurt Widhalm
Präsident des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin/Wien

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2012