Schlaganfall-Prävention: Antikoagulieren – aber richtig!

25.10.2012 | Medizin

25 Prozent aller Patienten, die einen Schlaganfall erleiden, haben Vorhofflimmern. Besonders bei diesen Patienten ist die Primärprävention schwierig. Eine besondere Rolle kommt hierbei den neuen Antikoagulantien zu, erklärten Fachleute bei einem von der ÖÄZ veranstalteten Expertengespräch. Von Marion Huber

Ein Schlaganfall ist ein devastierendes Ereignis, an dem 20 Prozent der Patienten sterben“, verdeutlicht Univ. Prof. Herbert Watzke, Leiter der Palliativstation an der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Medizinischen Universität Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Innere Medizin (ÖGIM), die Tragweite: „Von den Überlebenden ist ein Drittel schwerst und ein Drittel wenig abhängig. Nur ein Drittel lebt ohne Beschwerden.“

In den letzten Jahren habe sich aber auf dem Gebiet des Schlaganfalls nicht nur in der Therapie und Rehabilitation „sehr viel getan“, ist Univ. Prof. Johann Willeit, Leiter der Stroke Unit an der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck und Präsident der Österreichischen Schlaganfall-Gesellschaft (ÖGSF), überzeugt. „Es liegen dank großer Interventionsstudien klare, evidenzbasierte Richtlinien für die Primärund Sekundärprävention des Schlaganfalls auf dem Tisch. Diese betreffen die Empfehlungen zur antithrombotischen Therapie und Langzeit-Antikoagulation, die Indikation zur Karotisendarteriektomie und Stentbehandlung bei asymptomatischen und symptomatischen Karotisstenosen, die Therapie der Hypertonie und Dyslipidämie sowie Effekte, die durch Änderungen des Lebensstils zu erzielen sind.“

Risikofaktor Vorhofflimmern

Die klassischen Risikofaktoren für einen Schlaganfall wie beispielsweise Diabetes mellitus, Hypertonie oder Vorhofflimmern sind in der Regel sehr symptomarm und werden deshalb entweder zufällig oder bei gezieltem Screening gefunden. Im Gegensatz zu Hypertonie oder Diabetes, die erst nach längerem Bestehen über Sekundärschädigung der Gefäße Schlaganfälle auslösen, können Schlaganfälle bei Vorhofflimmern prinzipiell auch nach kurzer Zeit auftreten. Watzke dazu: „Beim Schlaganfall ist die Primärprävention sehr schwierig anzugehen, weil viele Risikofaktoren keine Symptome machen.“ Vorhofflimmern sei davon „wahrscheinlich das Schlimmste, denn es ist ein großer Risikofaktor, der schon bei kurzem Bestehen voll zum Tragen kommt“, so Watzke. Schließlich haben etwa 25 Prozent der Schlaganfall-Patienten Vorhofflimmern, ergänzt Univ. Doz. Franz Xaver Roithinger, Kardiologe und Leiter der Abteilung für Innere Medizin am Landesklinikum Mödling und Sekretär der Österreichichen Kardiologischen Gesellschaft (ÖKG). Beim embolisch bedingten Schlaganfall mit Vorhofflimmern sei es auch so, dass sich der Insult selten ankündige, wie Willeit betont: „Es ist ein Ereignis ohne Vorboten; TIAs sind im Vorfeld selten zu eruieren.“ Nicht nur deshalb sind Patienten mit Vorhofflimmern besonders gefährdet. „Bei ihnen sind außerdem die Morbidität, die Mortalität und die Rezidiv-Wahrscheinlichkeit höher“, sagt Roithinger.

Im Umkehrschluss bedeute das allerdings nicht, dass ein Patient keinen Schlaganfall erleidet, wenn das Vorhofflimmern behandelt wird. „Das ist eine Strategie, die überhaupt nicht aufgegangen ist. Die Mortalität ist gleich, ob man versucht, das Vorhofflimmern zu unterdrücken oder nicht“, stellt Roithinger klar. Das Risiko für einen ischämischen Schlaganfall könne nur durch Antikoagulation verringert werden. „Einmal Vorhofflimmern bedeutet immer Vorhofflimmern. Nur weil es wieder verschwindet, bedeutet das nicht, dass der Patient keine Antikoagulation mehr braucht – weil eben viele Vorhofflimmer-Episoden asymptomatisch sind.“ Dies sei nach Aussage von Roithinger die zentrale Botschaft, die der Arzt dem Patienten zu vermitteln habe.

Hochrisikofaktor Hypertonie

Neben Vorhofflimmern ist Hypertonie der entscheidende Faktor für die Entstehung eines Schlaganfalls, sind sich die Experten einig. Bei einem 60-Jährigen etwa ist die Hypertonie mit 30 Prozent sogar der höchste Risikofaktor für einen Insult; ein Prozent wird durch Vorhofflimmern verursacht. Beim alten Menschen seien 25 Prozent aufseiten des Vorhofflimmerns, aber immer noch 30 Prozent aufseiten der Hypertonie. „Hypertonie ist damit quasi der Killer Nr. 1“, stellt Watzke klar.

Hier sei die große pharmazeutische und technologische Entwicklung besonders gut erkennbar, sagt Reinhold Glehr, Allgemeinmediziner und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM). Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „Meilenstein“, denn durch die hervorragenden Antihypertonika gibt es keine Therapieresistente Hypertonie mehr. Auch die Schlaganfall-Prävention bei Vorhofflimmern werde sich durch die neuen Antikoagulantien verbessern, weil man die Patienten nun eher zur Therapie motivieren könne, sind die Experten überzeugt. Denn mit einer Antikoagulation kann das Risiko für einen Schlaganfall um 66 bis 70 Prozent verringert werden. Allerdings sei bei der Verschreibung von Antikoagulantien die Adherence der Patienten zum Medikament bislang „extrem schlecht“, räumt Watzke ein: „Es gibt Daten, dass nach sechs Jahren nur mehr 20 Prozent der Patienten das Medikament einnehmen.“ Aber auch die Adherence der Ärzte zum Behandlungsprotokoll sei „denkbar schlecht“, erklärt Watzke: „Nur 70 Prozent der Patienten, die eine Indikation haben, bekommen auch wirklich ein Medikament.“ Der Grund dafür liegt in den Nebenwirkungen: Ein Antihypertonikum kann man nehmen – ohne gravierende Nebenwirkungen. Wenn man aber einen Schlaganfall verhindern will, muss man ein Präparat mit einer sehr seltenen, aber schwerwiegenden Nebenwirkung, nämlich einer Hirnblutung, nehmen. In diesem Dilemma befinden sich sowohl Patienten als auch Ärzte. Watzke weiter: „Auch wenn insgesamt dadurch extrem viele Schlaganfälle verhindert werden können und nur ganz selten Hirnblutungen auftreten, gehen beide Beteiligte eine Allianz ein und sind sehr vorsichtig und zurückhaltend.“ Dem schließt sich Roithinger an: „Wir sehen als Ärzte nicht den Insult, den wir verhindern, sondern die zerebrale Blutung, die wir verursachen, weil wir dem Patienten das Medikament verordnet haben. Das ist das Damoklesschwert, das über uns hängt.“ Mit den neuen Antikoagulantien gebe es jetzt eine Alternative, bei der die Komplikation einer intrazerebralen Blutung laut Studienergebnissen um 50 Prozent seltener auftrete als unter Vitamin K-Antagonisten, betont Willeit.

Neue Antikoagulantien: vielfach besser

Um das „herrschende Misstrauen“ (Roithinger) zu entkräften, sei Folgendes festzuhalten: „Alle neuen Substanzen sind in Summe nicht schlechter als die bekannten Vitamin-K-Antagonisten.“ In gewissen Teilbereichen seien sie sogar besser: So kommt es etwa zu einer signifikanten Reduktion des ischämischen Insults und die Zahl der zerebralen Blutungen wird verringert. Aus den bislang vorliegenden Studien sei überdies ersichtlich, dass die neuen Antikoagulantien zu einer signifikanten Senkung der Mortalität führen. Und Roithinger bringt noch  einen weiteren Aspekt in die Diskussion ein: „Ein großer Teil der Patienten konnte bislang – aus welchen Gründen auch immer – nicht antikoaguliert werden.“ Dass dies nun möglich sei, müsse Ärzten und Patienten vermittelt werden. Richtig eingesetzt, sind die neuen Antikoagulantien auch nach Ansicht von Willeit in vielen Bereichen besser: „Außerdem haben wir  jetzt Präparate an der Hand, die mindestensgleich gut, in der Handhabung aber oft bequemer sind.“ Ein Vorteil der neuen Substanzen besteht darin, dass regelmäßige Kontrollen nicht erforderlich sind. Daraus ergibt sich jedoch auch ein Nachteil, wie der Kardiologe Roithinger weiß: „Da gibt es das Problem, den Patienten bei der Stange zu halten. Hier werden wir noch gefordert sein.“

Kein Antidot

Bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion können die neuen Antikoagulantien nur mit Vorsicht eingesetzt werden. Wesentlich problematischer ist jedoch die Tatsache, dass es kein Antidot gibt. Wie geht man also in einer Notfallsituation vor? „Das ist ein großes Problem bei den neuen Antikoagulantien. Die gute Nachricht ist jedoch: Es treten von vornherein um die Hälfte weniger Hirnblutungen im Vergleich zur Antikoagulation unter Warfarin auf. Wenn doch, wird man alles einsetzen, was auch bei den Vitamin-K-Antagonisten sinnvoll ist“, sagt Willeit. Seinen Aussagen zufolge liegt die Mortalität bei einer intrazerebralen Blutung auch unter den Vitamin-K-Antagonisten bei 60 bis 70 Prozent – selbst, wenn sofort versucht wird, die Gerinnung zu normalisieren. Watzke dazu: „Man könnte der Behörde vorwerfen, dass sie die neuen Präparate zugelassen hat, obwohl es kein Antidot gibt. Das wurde allerdings sehr bewusst und weltweit so gemacht, weil der Vorteil so groß ist und in den Studien diesbezüglich so wenig Probleme aufgetreten sind, dass man nicht warten muss, bis ein Antidot da ist.“ Man habe jetzt zweifelsohne ein viel besseres Medikament, weil es „die Rate der Gehirnblutungen so stark senkt“.

Und Watzke bringt eine grundsätzliche Überlegung in die Diskussion ein: „Wir haben auch mit den Vitamin K-Antagonisten eine extrem lange Lernkurve gehabt. Sie sind immer verteufelt worden. Aber wir haben gelernt, damit umzugehen.“ Eben diese Lernkurve werde es auch mit den neuen Antikoagulantien geben. Watzke weiter: „Man muss sich nun darauf konzentrieren, die Lernkurve möglichst steil zu halten, und am Anfang besonders aufmerksam sein, um alles richtig zu machen.“ Die neuen Substanzen aufgrund der bekannten Problematik nicht zu verwenden, sei seiner Ansicht nach nicht der richtige Weg. Vielmehr gehe es darum, sie bewusst und kontrolliert einzusetzen.

Für die Praxis heißt das: Gut eingestellte Patienten sollten noch nicht umgestellt werden, solange die Erfahrung noch gering ist. Neue Patienten hingegen sollten „sehr wohl von vornherein auf die neuen Antikoagulantien eingestellt werden“, betont Roithinger. Wovon Allgemeinmediziner Glehr überzeugt ist: „Die Vorteile einer Therapie mit den neuen Antikoagulantien wiegen auch die höheren Medikamenten-Kosten auf.“ Denn ein Schlaganfall koste – unabhängig von der Lebensqualität der Betroffenen – „unglaublich viel Geld“. Die Gesamtsumme der Sekundärkosten wie etwa jene, die durch die Pflege erforderlich sind, ist allerdings im Gegensatz zu den Medikamenten-Kosten schwer zu berechnen.

Kurze Flimmerphasen ernst nehmen

Wenn auch bei der Behandlung und bei der Prävention viele Fortschritte erzielt worden sind, hat sich im Hinblick auf die Awareness der Bevölkerung über die schwerwiegenden Komplikationen sehr wenig getan, kritisiert Watzke. Deswegen sein Appell: „Es braucht mehr Awareness von allen Seiten.“ Und Glehr fügt hinzu: „Man muss sich dem Vorhofflimmern als großem Risikofaktor in jedem Alter zuwenden und es nicht ab einem gewissen Alter als normale Alterserscheinung abtun.“ Der Arzt sollte immer daran denken, dass ein intermittierendes Vorhofflimmern Ursache für bestimmte Symptome gewesen sein könnte. „Erscheinungen wie kurzzeitige, vorübergehende Atemnot, Schwindel oder Schwächegefühl könnten auch Hinweise auf eine kurze Flimmerphase sein. Beim Bewusstsein für paroxysmales Flimmern ist eindeutig noch aufzuholen“, so Glehr. Dem stimmt auch Roithinger zu: „Man muss die Bedeutung von kurzen Flimmerepisoden begreifen und in die Praxis umsetzen. Denn eine Vorhofflimmer-Episode von nur sechs Minuten innerhalb von drei Monaten bedeutete in einer Studie bereits ein dreifach höheres Schlaganfall-Risiko.“

Ärzte und Patienten sollten verinnerlichen, dass die Antikoagulation notwendig ist und man sie „richtig machen muss“, so Roithinger. So sei erst kürzlich Aspirin als Therapie beim Vorhofflimmern „zu Grabe getragen worden. Denn es ist nicht nur nicht wirksam, sondern auch potentiell schädlich. Das ist ein Umdenken, das erst jetzt im Gange ist“, wie er klarstellt. Und Glehr ist überzeugt davon, dass es bei den neuen Antikoagulantien in erster Linie darum gehe, die „Hürde des Misstrauens“ zu überwinden. Dieses sei derzeit noch sehr groß – nicht nur bei den Allgemeinmedizinern, sondern auch bei den Fachärzten. Wenn diese Hürde überwunden ist, werde auch die Compliance der Patienten steigen. Glehr weiter: „Der Arzt kann mit viel Zuwendung und psychologischem Vermögen die teils verständlichen Ängste der Patienten ausräumen.“

Welchen Stellenwert die neuen Antikoagulantien tatsächlich haben, erläutert Watzke anhand folgender Fakten: „Man muss 37 Patienten mit Vorhofflimmern ein Jahr lang mit den neuen Medikamenten behandeln, um im Vergleich zu den alten einen Schlaganfall mehr zu verhindern. Behandelt man sie weitere zehn Jahre, hätte man zehn Schlaganfälle mehr verhindert, und es wäre trotzdem, ganz im Gegensatz zu den alten Medikamenten, noch keine Hirnblutung aufgetreten.“ Mit den neuen Antikoagulantien könnten noch zehn weitere Jahre vergehen, bis die erste intrazerebrale Blutung bei einem dieser 37 Patienten auftritt. „Das ist sicher ein enormer Fortschritt“, so sein Resümee.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2012