Inter­view – Univ. Prof. Tat­jana Pater­nos­tro-Sluga: Schon früh einbeziehen

10.10.2012 | Medizin

Für den frü­hen Ein­satz von reha­bi­li­ta­tiv phy­si­ka­li­schen Maß­nah­men auf spe­zi­el­len Früh-Reha-Sta­tio­nen im Spi­tal spricht sich Univ. Prof. Tat­jana Pater­nos­tro-Sluga, Juni­or­prä­si­den­tin der Öster­rei­chi­schen Gesell­schaft für Phy­si­ka­li­sche Medi­zin
und Reha­bi­li­ta­tion (ÖGPMR), anläss­lich der Jah­res­ta­gung im Gespräch mit
Eli­sa­beth Gers­ten­dor­fer
aus.

ÖÄZ: Was sind die häu­figs­ten Ein­satz­ge­biete der Phy­si­ka­li­schen Medi­zin?
Pater­nos­tro: Phy­si­ka­li­sche und reha­bi­li­ta­tive The­ra­pien wer­den am häu­figs­ten bei Schmer­zen wie etwa dem Zer­vi­kal­syn­drom, Rücken- und Gelenks­schmer­zen und Arthro­sen sowie bei Bewe­gungs­stö­run­gen ver­ord­net, sei es nach einem Unfall, nach einer Knie­ope­ra­tion, nach einem Schlag­an­fall oder im Rah­men einer Quer­schnitt­läh­mung. Es gibt aber auch sehr viele Spe­zi­al­ge­biete der phy­si­ka­li­schen Medi­zin wie zum Bei­spiel die Handreha­bi­li­ta­tion oder Ampu­ta­tio­nen. Die The­ra­pien sind immer Sym­ptom-ori­en­tiert und wer­den je nach Fra­ge­stel­lung zusam­men­ge­stellt. Die rich­tige Kom­bi­na­tion ist ent­schei­dend und hängt vom kli­ni­schen Bild und der Dia­gnose ab, mit dem Ziel, dass der Pati­ent zurück in ein selbst­stän­di­ges Leben mit einer guten Lebens­qua­li­tät kommt.

Typi­sches Anwen­dungs­ge­biet sind auch Schul­ter­schmer­zen. Wel­che phy­si­ka­li­schen The­ra­pien sind hier sinn­voll?
Am Beginn steht die Frage nach der Ursa­che. Abge­klärt wer­den muss, ob der Schmerz von der Schul­ter selbst kommt wie zum Bei­spiel von einem Pro­blem der Bän­der oder des Gelen­kes, oder ob es sich um eine Aus­strah­lung von der Hals­wir­bel­säule han­delt. Vor allem, wenn Abnüt­zun­gen der Aus­lö­ser sind, ist Wärme eine wich­tige The­ra­pie­op­tion, bei Ver­span­nun­gen die Mas­sage. Stellt sich her­aus, dass der Schmerz von der Hals­wir­bel­säule aus­geht und eine neu­ro­pa­thi­sche Schmerz­kom­po­nente hat, sollte außer­dem eine anal­ge­ti­sche Elek­tro­the­ra­pie im Aus­strah­lungs­ge­biet ein­ge­setzt wer­den. Sowohl bei der Schul­ter als auch bei der Hals­wir­bel­säule ist die Opti­mie­rung der Bewe­gungs­ab­läufe und Bio­me­cha­nik von gro­ßer Bedeu­tung. Sind die Schmer­zen sehr stark, hilft Infil­trie­ren und eine unter­stüt­zende medi­ka­men­töse The­ra­pie. Bei Ver­kal­kun­gen im Schul­ter­be­reich ist die Stoß­wel­len­the­ra­pie indi­ziert. Wich­tig ist, schon früh mit der Behand­lung zu begin­nen, um eine Chro­ni­fi­zie­rung zu verhindern.

Wel­che Rolle spielt die Bewe­gungs­the­ra­pie? Bei Schmer­zen den­ken die meis­ten Men­schen ja daran, sich zu scho­nen.
Bewe­gung ist eine wesent­li­che Kom­po­nente im Behand­lungs­kon­zept. Viele der Pro­bleme ent­ste­hen einer­seits durch den Alte­rungs­pro­zess, aber ande­rer­seits auch durch fal­sche Bewe­gungs­ab­läufe, weil ich bei­spiels­weise schlecht sitze, meine Mus­keln nicht trai­niere oder mei­nen Arbeits­platz nicht ergo­no­misch gestalte. Im Rah­men der Bewe­gungs­the­ra­pie sol­len die Pati­en­ten hin­sicht­lich der All­tags­ab­läufe instru­iert wer­den, um etwa die mus­ku­läre Füh­rung der Hals­wir­bel­säule zu ver­bes­sern. Oft haben wir mit chro­ni­schen Erkran­kun­gen zu tun, bei denen eine Hei­lung im Sinne einer voll­stän­di­gen Wie­der­her­stel­lung nicht mög­lich ist. Aber wir wol­len ver­su­chen, für den Pati­en­ten das best­mög­li­che Ergeb­nis zu erzielen.

Ein Thema der heu­ri­gen Jah­res­ta­gung wird Gen­der und Diver­sity sein.
Gerade in der Phy­si­ka­li­schen Medi­zin und Reha­bi­li­ta­tion ist der soziale Kon­text zen­tral. Die Bewe­gung und der Kör­per sind etwas, das kul­tu­rell sehr unter­schied­lich wahr­ge­nom­men wird. Auch das Geschlecht spielt bei der Schmerz­emp­fin­dung eine große Rolle. Frauen geben nach wie vor frü­her an, dass sie Schmer­zen haben. Das ist ein Vor­teil, weil man sie dadurch frü­her behan­deln kann. Auch Frak­tu­ren und Krank­hei­ten sind gen­der­spe­zi­fisch. Frauen sind etwa frü­her von Osteo­po­rose betrof­fen als Män­ner, erlei­den in jün­ge­ren Jah­ren Schen­kel­hals- und Radi­us­frak­tu­ren. Bei Män­nern besteht hin­ge­gen eine schlech­tere Pro­gnose, wenn sie stür­zen. Die Frage, ob jemand nach einem Schlag­an­fall in ein Pfle­ge­heim kommt, hängt bei Män­nern ganz wesent­lich davon ab, ob sie in einer Bezie­hung leben oder nicht. In einer intak­ten Bezie­hung über­nimmt die Frau häu­fig die Pflege, wäh­rend bei ihr die Bezie­hung kein Ein­fluss­fak­tor ist, ob sie in ein Pfle­ge­heim kommt oder nicht. Ein Thema sind auch Müt­ter mit Kin­dern, die prin­zi­pi­ell nicht auf Reha gehen, auch wenn sie es brau­chen wür­den. In der Reha­bi­li­ta­tion gibt es ganz mas­sive Geschlechtsunterschiede.

Reha­bi­li­ta­tion erfolgt häu­fig in Reha-Zen­tren, weni­ger noch im Spi­tal. Soll­ten phy­si­ka­li­sche Maß­nah­men im Rah­men der Reha­bi­li­ta­tion schon im Kran­ken­haus mehr Platz bekom­men?
Dadurch, dass die Men­schen immer län­ger leben und man schwere Erkran­kun­gen bes­ser über­steht, brau­chen viele schon sehr früh reha­bi­li­ta­tive phy­si­ka­li­sche Maß­nah­men. Uns ist wich­tig, auf­zu­zei­gen, dass man auch in den Spi­tä­lern Früh-Reha-Sta­tio­nen macht, wo Pati­en­ten, die schwere Krank­hei­ten gut über­stan­den haben, unmit­tel­bar und krank­heits­nahe reha­bi­li­ta­tiv ver­sorgt wer­den. Für Pati­en­ten, die zwar gut medi­zi­nisch ver­sorgt sind, aber noch zu krank sind, um sie aus dem Akut­spi­tal zu ent­las­sen, wären kleine Reha-Sta­tio­nen, wo sie gleich ver­sorgt wer­den kön­nen, sinn­voll. Wenn sie sta­bil sind, kön­nen sie ins Reha-Zen­trum gehen oder viel­leicht sogar nach Hause ent­las­sen und ambu­lant betreut wer­den. Teil­weise sehen wir in unse­rem Fach diese Pati­en­ten erst viel zu spät.

Ältere Pati­en­ten sind beson­ders wegen der Abnut­zungs­er­schei­nun­gen die häu­figs­ten Nut­zer von phy­si­ka­li­schen The­ra­pien.
Ger­ia­trie ist ein wich­ti­ger Teil in unse­rem Fach und wird auch immer wich­ti­ger wer­den. Bei aller guter Medi­ka­tion und best­mög­li­cher Betreu­ung kön­nen Schmer­zen blei­ben und man muss schauen, dass der Pati­ent trotz sei­ner Schmer­zen seine Mobi­li­tät und seine Lebens­freude behält. Aber nicht nur der alte, zer­brech­li­che Pati­ent ist Thema, son­dern auch der sport­li­che Alte. Das über­ge­ord­nete Ziel in der Phy­si­ka­li­schen Medi­zin und Reha­bi­li­ta­tion ist, aktiv zu blei­ben und eine gute Lebens­qua­li­tät zu haben. Dadurch erst sind Selbst­stän­dig­keit und Unab­hän­gig­keit möglich.

Details zur Jahrestagung

Wann: 12.10. bis 13.10.2012, ab 9.00 Uhr

Wo: Wien, AKH/​Hörsaalzentrum

Ver­an­stal­ter: ÖGPMR – Öster­rei­chi­sche Gesell­schaft für Phy­si­ka­li­sche Medi­zin und Rehabilitation

Anmel­dung: Tel. 01/​531 16/​38 oder online.

Nähere Infos unter: www.oegpmr-tagung.at

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2012