Interview – Univ. Prof. Martin Friedrich: Breiter Konsens erzielt

25.04.2012 | Medizin

In der neuen Leitlinie zum chronischen Rückenschmerz werden psychosoziale Faktoren noch stärker berücksichtigt, wie der Vorsitzende der Arbeitsgruppe nd Leiter der Abteilung für Orthopädische Schmerztherapie im orthopädischen Spital Speising in Wien, Univ. Prof. Martin Friedrich, im Gespräch mit Elisabeth Gerstendorfer erklärt.


ÖÄZ: Warum braucht es eine neue Leitlinie für chronischen Rückenschmerz?

Friedrich: Bei der Leitlinie handelt es sich um ein Update, das auf unser nationales Gesundheits- und Sozialsystem eingeht, und nicht nur Evidenz-, sondern auch Konsens-orientiert ist. Ich bin sehr stolz, dass wir einen breiten Konsens zwischen allen in der Diagnostik und Therapie von Kreuzschmerzen beteiligten Berufsgruppen und Institutionen in Österreich finden konnten. Ziel war, die aktuelle wissenschaftliche Evidenz mit subjektiven Erfahrungen zu verbinden und diese auch auf Umsetzbarkeit zu prüfen. Dass Leitlinien implementiert und gelebt werden, ist mir sehr wichtig. Sie sollen nicht als Vorschriften verstanden werden und auch nicht zu einer Kochbuchmedizin führen, sondern wirklich Orientierungs- und Entscheidungshilfen sein. Manchmal wird vergessen, dass sie keinen verpflichtenden Charakter haben. In der neuen Leitlinie ist daher angeführt, dass abweichende Einzelfälle angezeigt sein können.

Was sind die wichtigsten Neuerungen?
Das Spezielle, das sich wie ein roter Faden durchzieht, ist die Re-Evaluierung.
Das heißt, vor allem wenn der Verlauf der Rückenschmerzen nicht ein gewohnter ist, müssen wir immer wieder eruieren – anamnestisch oder entsprechend bildgebend – ob nicht doch ein spezifischer Kreuzschmerz vorliegt. Ursachen können etwa Traumen, Entzündungen, auch die seltenen Tumore, Nervenwurzelirritationen – sei es durch Bandscheiben oder durch andere die Nervenwurzel irritierende Strukturen – oder auch metabolische Knochenerkrankungen wie Osteoporose sein. Auch psychische Erkrankungen können spezifischen Rückenschmerz auslösen. Da finden Sie eine Auflistung in der Leitlinie. Was sich auch geändert hat, ist der zeitliche Verlauf. Ursprünglich war der akute Kreuzschmerz mit einer Dauer von bis sechs Wochen definiert, zwischen sechs und zwölf Wochen der subakute und über zwölf Wochen der chronische Rückenschmerz. Wir sind jetzt mit dem zeitlichen Verlauf beim akuten etwas kürzer verfahren, das heißt akut ist der Zeitraum vier bis maximal sechs Wochen, ab vier Wochen sprechen wir bereits von einem subakuten Kreuzschmerz.

Welche Konsequenz hat diese Änderung?
Man hat festgestellt, dass der Chronifizierungsprozess schon früher beginnt – zwischen der fünften und sechsten Woche. Uns war daher wichtig, dass man psychosoziale Faktoren auch schon früher in Betracht zieht. Zu betonen sind hier auch die degenerativen Veränderungen, also die Abnützungszeichen, die man mit der Röntgenuntersuchung feststellen kann. Ein Großteil der degenerativen Veränderungen, die Pathomorphologien, korrelieren nicht mit den Beschwerden. In letzter Zeit hat man aber gesehen, dass dies bei bestimmten Veränderungen doch der Fall sein kann. Es gibt also eine gewisse Übergangssituation zwischen spezifischem und unspezifischem Rückenschmerz.

Hat sich die Bedeutung psychosozialer Faktoren für die Therapie geändert?
Die psychosozialen Faktoren werden bei den neuen Leitlinien noch mehr in den
Vordergrund gebracht. Und zwar soll die Therapie die Eigenverantwortung und die Aktivität fördern. Der Erhalt der Funktionen des täglichen Lebens soll Beachtung finden und die Therapie grundsätzlich auf die Lebensqualität ausgerichtet sein. Wir haben auch eine Erweiterung der physikalischen Maßnahmen vorgenommen, beispielsweise sind nun Massagen, im Einzelfall auch Wärme, in die Behandlung einbezogen. Wichtig ist, zu unterscheiden, ob es sich um beginnende oder schon massiv chronische Rückenschmerzen handelt, die mit großen Aktivitätseinschränkungen einhergehen, mit langen Krankenständen und dergleichen. Dann ist ein umfassendes multimodales
Therapieprogramm erforderlich.

Was fließt in diese Therapie ein?
Die Programme sollen multidisziplinär sein, das heißt neben medizinischer Therapie die Psychologie und arbeitsbezogenes Verhaltenstraining einschließen sowie bewegungstherapeutisch funktionelle Therapien und das von einer entsprechenden Intensität. Das geht derzeit in der Regel im ambulanten Bereich schwierig. Die multidisziplinäre Therapie muss zumindest zum Teil eine stationärePhase haben, nicht nur tagesklinisch oder ambulant. Da sind wir leider mit entsprechenden Einrichtungen in Österreich noch nicht ausreichend bestückt.

Welche Bedeutung haben nichtmedizinische Verfahren wie Entspannungstechniken oder Akupunktur?
Die Entspannungsverfahren sind in der Leitlinie angeführt. Sie sind so wie der Stressbewältigungs-orientierte und Verhaltens-therapeutische Ansatz Teil der psychologischen Behandlung des chronischen Kreuzschmerzes. Wir haben auch zur Akupunktur Stellung genommen. Man muss aber dazusagen, dass die Datenlage hierbei schwach ist. Beim chronischen Rückenschmerz kann man derzeit dafür keine direkte Empfehlung geben. Wenn dies der Fall ist, heißt das jeweils nicht, dass diese Maßnahmen unwirksam sind, sondern sie sind zu wenig untersucht. Allgemein kann eine ausgesprochene Empfehlung gegeben werden, wenn eine ausreichend hochwertige Literatur vorliegt, die einen positiven Effekt für die Maßnahme aufzeigt.

Wie wichtig ist eine frühe Therapie? Worauf ist zu achten?
Eine frühe Therapie des akuten Rückenschmerzes ist absolut wichtig und zwar nicht nur, um die Chronifizierung zu verhindern, sondern um rechtzeitig mit der richtigen Behandlung zu beginnen. Notwendig ist die frühe Aufklärung und Information und zwar darüber, dass es sich in der Regel um keine gefährliche Erkrankung handelt und dass möglichst die gewohnten täglichen Aktivitäten beibehalten werden sollen. Hier kommt oft Zynismus ins Spiel, wenn Patienten klagen, dass sie sich kaum bewegen können, sich aber weiter bewegen sollen. Da sind bei akutem Rückenschmerz die adäquaten Medikamente angebracht. Die Information ist meiner Ansicht nach die Aufgabe des meist erstbehandelnden Allgemeinmediziners, der entsprechend aufklären muss, nachdem er sich versichert hat, dass kein spezifischer Schmerz vorliegt. Der Patient sollte zur Bewegung angeleitet werden, nicht zur Bettruhe. Wenn Bettruhe, dann sollte das nur sehr vorübergehend sein und nicht direkt verordnet werden. Das wäre kontraproduktiv.

Welche Hinweise auf chronische Schmerzen gibt es, wenn ein Patient über Kreuzschmerzen klagt?
Das Erste, woran man eine Chronifizierung erkennt, ist rein die Dauer, wie lange die Schmerzen bestehen. Nach zwölf Wochen sind sie jedenfalls als chronisch einzuordnen und schon davor sollte man in der Behandlung daran denken. Ganz wesentlich ist ja, dass zur Prävention des chronischen Rückenschmerzes die richtige Leitlinien-gerechte Behandlung des akuten Kreuzschmerzes gehört. Das heißt, wenn der akute Schmerz richtig behandelt wird, sollte es möglichst zu keinem chronischen kommen. Anschauen sollte man sich auch die psychosozialen Faktoren. Dazu gehören etwa Beeinträchtigungen durch Schlafstörungen, Distress, depressive Verstimmung etc.

Wie häufig sind chronische Rückenschmerzen, welche sind die Risikogruppen?
Kreuzschmerzen zählen zu den häufigsten Beschwerden. Wir sprechen in den Industriestaaten von Lebenszeit-Prävalenzen zwischen 60 und 85 Prozent. Gefährdet sind interessanterweise nicht nur Personen, die schwerere Tätigkeiten verrichten, sondern ein wichtiger Faktor ist zum Beispiel auch die Arbeitsunzufriedenheit. Und nicht nur die, sondern auch die grundsätzliche Neigung zu depressiver Verstimmung sowie soziale Probleme spielen hinein. Immer mehr kommt auch die Bedeutung genetischer Prädisposition heraus. Auch bei Kindern ist die Prävalenz erschreckend hoch. Unsere Leitlinien befassen sich zwar nicht mit Kindern, die Prävalenzen liegen aber bei bis zu 30 Prozent. Bei Kindern ist ganz besonders auf spezifische Ursachen zu achten. Auch die Arbeitsplatzadaptierung sollte eine Rolle spielen – beim Kind ist das zum Beispiel die Sitzsituation in der Schule.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2012