Interview – Univ. Prof. Heinz Burgmann: Sepsis: Schnellere Diagnose notwendig

15.07.2012 | Medizin

Die Patienten profitieren von einer frühzeitigen antimikrobiellen Therapie – auch wenn noch nicht klar ist, ob es sich um eine Sepsis oder um ein Systemic Inflammatory Response Syndrome handelt, wie a.o. Univ. Prof. Heinz Burgmann von der Universitätsklinik für Innere Medizin I am Wiener AKH im Gespräch mit Elisabeth Gerstendorfer erläutert.


Wie wird eine Sepsis derzeit diagnostiziert?

Burgmann: Großteils wird eine Sepsis anhand des klinischen Bildes festgestellt. Zu Beginn gibt es nur wenige Hilfsparameter, was die Diagnose schwierig macht, vor allem auch, weil Sepsis-Patienten sehr heterogen sind. Anfang der 1990er Jahre hat man sich auf vier Kardinalsymptome geeinigt: Leukozytose oder Leukopenie, Tachykardie, Tachypnoe und Hyperthermie, also Fieber beziehungsweise Untertemperatur. Wenn zumindest zwei dieser Kriterien erfüllt sind, spricht man von einem Systemic Inflammatory Response Syndrome. Eine Sepsis liegt erst dann vor, wenn darüber hinaus ein hochgradiger Verdacht auf eine Infektion besteht oder eine Infektion nachgewiesen wurde. Das Groteske ist, dass es keinen Goldstandard für Sepsis gibt, wie das etwa bei Herzinfarkt oder Hirninfarkt der
Fall ist.

Für die richtige Therapie ist aber eine frühe Entscheidung notwendig?
Je länger die Diagnose dauert, desto höher ist das Mortalitätsrisiko. Gerade am Anfang ist es aber schwierig, zu differenzieren, ob eine Infektion vorliegt oder nicht. Es gibt noch keinen Bioparameter, der in der Frühphase hilft, zwischen einem Systemic Inflammatory Response Syndrome und einer Sepsis zu unterscheiden. Beides ist, wenn man rechtzeitig handelt, gut therapierbar. Das Problem ist aber, dass es zu Organversagen kommen kann, dann spricht man von schwerer Sepsis – die Mortalität steigt auf 30 Prozent an. Und wenn es nicht gelingt, trotz medizinischer Hilfe die Sepsis zu beherrschen, kann es zum septischen Schock kommen mit einer extrem hohen Mortalität von bis zu 60 Prozent.

Wie häufig kommt es zu einer Sepsis?
Schätzungen besagen, dass etwa 300 Fälle pro 100.000 Einwohner auftreten. Wir haben aufgrund der Fälle im Wiener AKH die Häufigkeit in der Wiener Bevölkerung hochgerechnet mit dem Ergebnis, dass etwa 15 Fälle von Sepsis pro 10.000 Einwohner auftreten beziehungsweise bei einem Prozent der Spitalsaufnahmen. Septische Patienten haben eine 28-Tage-Mortalität von etwa zwölf Prozent, auf der Intensivstation sind es 50 Prozent. Die meisten Sepsis-Patienten sind interessanterweise auf der Normalstation oder der chirurgischen Station, weniger auf der Intensivstation. Wir haben uns auch die Drei-Jahres-Überlebenszeit angeschaut und das Interessante ist, dass Sepsis so auszehrend ist, dass ein Großteil der Patienten in den ersten Jahren nach dem Spitalsaufenthalt stirbt. Um den Verlauf möglichst einzudämmen, beginnt man in der Behandlung sehr rasch mit der Gabe von Antibiotika, nicht wissend, ob es sich um eine Infektion handelt oder um ein Systemic Inflammatory Response Syndrome ohne Infektion, da man in den letzten Jahren gesehen hat, dass die Patienten von einer frühzeitigen antimikrobiellen Therapie sehr profitieren.

Viele Patienten, die an einem Systemic Inflammatory Response Syndrome leiden, erhalten also Antibiotika, ohne dass sie sie eigentlich brauchen?
Ja. Es gibt viele Versuche, die Unterscheidung früher zu treffen, bisher wurde aber nichts in diese Richtung gefunden. Gesucht wird vor allem ein Biomarker, der eine Infektion anzeigt. Man hat auch gesehen, dass die erste Therapie am besten passen muss. Man kann also nicht das Antibiotikum mit dem schmälsten Spektrum verwenden, sondern muss das verwenden, von dem vermutet wird, dass der Keim im Spektrum ist. Früher hat man bei Antibiotikum immer geglaubt: Nützt‘s nichts, schadet‘s nichts. Aber das ist sicherlich der falsche Weg.

Wie ernst ist das Problem der resistenten und multiresistenten Erreger?
Multiresistente Erreger sind ein großes Problem, weil wir dann viel weniger Antibiotika zur Verfügung haben. Es gibt auch schon panresistente Keime, wo wir gar kein Antibiotikum mehr haben. Ein Problem ist auch, dass die initiale Therapie vielleicht nicht die richtige ist und man ein Antibiotikum gibt, das den Keim nicht abdeckt. Erst nach drei Tagen kann man aufgrund der Ergebnisse der Mikrobiologie entscheiden, ob weiter Antibiotika gegeben werden. Die konventionelle Blutkultur hat natürlich den Nachteil, dass es oft dauert, bis etwas wächst und man mit Hilfe einer Gramfärbung weiß, in welche Richtung es ungefähr geht. Dann braucht es noch die Spezies- und die Resistenzdiagnostik. Insgesamt dauert das etwa drei Tage. Bei einem Systemic Inflammatory Response Syndrome sollte möglichst keine antimikrobielle Therapie erfolgen. Oft weiß man das aber eben erst am Tag drei.

Gibt es Methoden, um dieses Vorgehen zu verkürzen?
Man versucht, die Dauer durch den Einsatz einer PCR zu reduzieren. Es gibt bereits Tests, bei denen innerhalb von sechs bis acht Stunden, dem Zeitfenster, in dem es wichtig wäre, mit der Therapie zu beginnen, ungefähr feststeht, welches genetische Material von Keimen da ist. Man kann auch gewisse Resistenzen nachweisen. Man weiß aber noch nicht, wie diese PCR-Methoden einzuordnen sind und das Verfahren ist auch relativ aufwändig hinsichtlich Kosten, Material und Personal. Auf diesem Gebiet wird viel geforscht, etwa an Methoden, die direkt auf der Intensivstation verfügbar sind, wie zum Beispiel kleine Geräte, an denen man in Blutproben Erreger feststellen kann und weiß, wie man die empirische Therapie leiten muss. Das alles steckt aber noch in den Kinderschuhen, denn der Kostenaufwand ist enorm.

Wie erklären Sie die Zunahme resistenter Keime? Werden Antibiotika zu häufig verabreicht?
Resistente Erreger gibt es in der Natur immer, um das Überleben der Organismen zu sichern. Es konnte aber ein Zusammenhang zwischen der Gabe von Antibiotika und dem Entstehen von Resistenzen gezeigt werden, beispielsweise bei Chinolonen mit Escherichia coli. Früher hat man gesagt, man darf bei E. coli kein Chinolon geben. Heute haben wir bei den invasiven E. coli 20 bis 25 Prozent Resistenzen auf Chinolone. Diese Entwicklung rührt daher, dass, als Chinolone generisch und billiger geworden sind, plötzlich die Verschreibung extrem angestiegen ist. Man sieht auch, dass die Gabe mancher Antibiotika die Entwicklung bestimmter Keime fördert. Zentral ist also ein verantwortungsbewusster Umgang, ein Antibiotika-Management. 90 Prozent von Respirationstrakt-Infektionen brauchen etwa keine mikrobielle Therapie. Wird trotzdem Antibiotikum gegeben, entstehen Resistenzen. Das kann sehr rasch passieren. Es kann aber auch Jahrzehnte dauern, bis sich Resistenzen entwickeln.

Wann kommt es zu einem Systemic Inflammatory Response Syndrome SIRS beziehungsweise zu einer Sepsis?
Die Ursachen, warum der Körper mit einem Systemic Inflammatory Response Syndrome reagiert, sind zahlreich. Das kann ein Trauma sein, aber auch im Rahmen einer Pankreatitis und eine Ursache ist eben auch die Infektion. Sepsis ist eigentlich eine Erkrankung älterer Menschen. Das Alter der Patienten steigt immer mehr an, derzeit liegen wir bei durchschnittlich 65 Jahren. Das liegt auch an den Komorbiditäten und Grunderkrankungen im Alter. Risikogruppe sind auch Patienten, bei denen das Immunsystem beispielsweise durch eine immunsuppressive Therapie reduziert ist wie etwa bei Transplantationen oder Tumorerkrankungen. Auch bei Prothesenimplantationen kann es zur Sepsis kommen und bei allen Patienten, bei denen große Teile der Haut zerstört sind, etwa bei Verbrennungen. Die Haut ist einer der wirksamsten Schutzmechanismen. Fällt diese Barriere weg, können die symbiotischen Keime invasiv werden.

Was ist Ihrer Ansicht nach für eine bessere Diagnose der Sepsis notwendig?
Wichtigstes Ziel ist, frühzeitig zwischen einem Systemic Inflammatory Response Syndrome und Sepsis unterscheiden zu können. Am Tag Null, am Diagnosetag, wird man das wahrscheinlich nicht so richtig unterscheiden können. Viel Forschung ist bisher in den Parameter Procalcitonin gegangen, weil dieses zur Steuerung der Antibiotika-Gabe sinnvoll sein kann. In Österreich werden Antibiotika oftmals zu lange verabreicht. Procalcitonin weist darauf hin, ob mit der Antibiotika-Gabe aufgehört werden kann. Zwischen Sepsis und einem Systemic Inflammatory Response Syndrome kann es aber nur sehr schlecht unterscheiden. Das wird wahrscheinlich durch die Messung eines Einzelparameters nicht möglich sein. Unser Zugang ist, ob die Kombination von Parametern Aufschluss geben kann. Gemeinsam mit Computertechnik soll ein Panel entwickelt werden, um ein Risk-Assessment betreffend Sepsis durchzuführen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2012