Depression im Kindesalter: Maskierte Trauer

10.11.2012 | Medizin

Kinder mit depressiven Störungen – für die oft auch Unter- oder Überforderung Auslöser sein können – klagen besonders häufig über körperliche Symptome. Speziell eine Depression zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr ist ein bedeutsamer Prädiktor für ein erhöhtes Depressionsrisiko im Erwachsenenalter und muss daher konsequent behandelt werden.Von Irene Mlekusch

Depressive Störungen können in jedem Alter auftreten. Die anaklitische Depression im Säuglings- und Kleinkindalter beispielsweise entwickelt sich auf der Basis von einschneidenden Verlusterlebnissen oder einer längeren Trennung von Bezugspersonen. Dabei ist die Depression speziell in diesem Alter besonders schwer zu erkennen, da die Kinder zunächst zwar protestieren und weinen, sich aber in weiterer Folge zurückziehen, an Schlafstörungen leiden und ein apathisches Verhalten entwickeln. Wird die Beziehungssituation aber rechtzeitig wieder hergestellt, kommt es zur vollständigen Erholung des Kindes.

„Das Erscheinungsbild kindlicher Depressionen ist oft ein anderes“, erklärt Univ. Prof. Hans-Peter Kapfhammer, Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie am LKH-Universitätsklinikum Graz. „Einige Kinder zeigen zwar durchaus ein klassisches Erkrankungsbild, aber insgesamt sind depressive Kinder weniger melancholisch.“ Sabine Zehetbauer von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Department für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Innsbruck weist auf den Unterschied zwischen Kindern und Jugendlichen hin: „Vor allem bei jüngeren Kindern gehen oft der Appetit und frühere Interessen verloren oder der Schlaf der Kinder ist gestört.“ Eine Major Depression findet sich bei etwa zwei Prozent der Schulkinder; circa ein Prozent der Kinder dieser Altersgruppe leidet an einer dysthymen Störung. Mit der Pubertät kommt es zu einem Anstieg der Häufigkeit auf vier bis acht beziehungsweise zwei bis sechs Prozent der Jugendlichen. In den Industrieländern konnte insgesamt ein Anstieg an depressiven Störungen nachgewiesen werden; deren Beginn setzt altersmäßig immer früher ein. „Bei Kindern mit depressiven Störungen besteht bis zum Beginn der Menarche kaum ein Unterschied in der Prävalenz zwischen den Geschlechtern, wie dies dann im Erwachsenenalter kennzeichnend ist“, sagt Kapfhammer.

Häufig treten bei depressiven Kindern komorbide Störungen wie Hyperaktivität, Angst- oder Zwangsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens oder mit zunehmendem Alter Abusus von Drogen, Medikamenten oder Alkohol auf. Hinzu kommen Essstörungen, Lernund Konzentrationsschwierigkeiten sowie Schlafstörungen und mitunter aggressives Verhalten. Kapfhammer ergänzt: „Aspekte der affektiven und kognitiven Entwicklung spielen im Kindesalter eine bedeutsame Rolle. Damit geht einher, dass Kinder mit depressiven Störungen besonders häufig über körperliche Symptome klagen.“ Vor allem die Jüngeren klagen über Bauch- und Kopfweh oder zeigen deutliche Veränderungen bei der Gewichtsentwicklung, weiß Zehetbauer. Auch Enuresis oder Enkopresis können Ausdruck einer depressiven Störung sein. All diese Faktoren machen die Depression im Kindesalter oft schwer erkennbar. Die Bezugspersonen aber auch der behandelnde Arzt müssen genau hinsehen und sich getrauen, das Thema anzusprechen. „Die Diagnosestellung braucht in jedem Fall Zeit und ist nicht einfach“, wobei Zehetbauer dazu rät, mit dem Kind und den Angehörigen die Lebensgeschichte zu besprechen und nach eventuell auslösenden Faktoren in der aktuellen Lebenssituation zu suchen. „Die Kinder können eine ausgeprägte Verleugnungstendenz aufweisen oder große Schamgefühle haben, deshalb ist eine kindgerechte Exploration von enormer Wichtigkeit“, betont Zehetbauer.

Multifaktoriell bedingt

„Die kindliche Depression kann ihren Ursprung in einer schwierigen familiären Situation oder in einem traumatischen Ereignis nehmen“, berichtet Kapfhammer. Das Risiko für eine depressive Entwicklung hängt aber von vielen Einflüssen ab und schließt Faktoren wie Genetik, Geschlecht, familiäre Häufung, Entwicklungsbedingungen sowie belastende Lebensereignisse und vielfältige Stressoren mit ein. Leiden beispielsweise die Eltern oder auch nur ein Elternteil selbst an einer depressiven Störung, ergibt sich für depressive Kinder ein zusätzlicher Belastungsaspekt, der zum Circulus vitiosus beiträgt. „Ein depressiver Elternteil erkennt schlechter die Depression des Kindes, da bei ihm selbst kognitive Beeinträchtigungen, dysphorische Veränderungen, erhöhte Kränkbarkeit und Ungeduld vorliegen“, weiß Kapfhammer. Zehetbauer spricht auch die Über- beziehungsweise Unterforderung der Kinder als möglichen Auslöser an. „Wird der Auslöser erkannt und behoben können depressive Symptome im Kindesalter oft spontan remittieren“, so die Expertin. Wird die Depression im Kindesalter aber nicht erkannt oder verkannt, wird es für das Kind im Alltag immer schwerer, Positives zu erfahren. Vor allem im Schulalltag ziehen sich depressive Kinder mehr und mehr zurück und werden zu Außenseitern. „Die Diagnose ADHS wird oft erst mit Beginn der Einschulung gestellt. Somit reagiert das Umfeld erstmals auf das Kind“, schildert Zehetbauer ein typisches Fallbeispiel. Kinder mit ADHS reagieren in ihrer speziellen Situation immer wieder reaktivdepressiv. Wird allerdings das ADHS gut behandelt, remittiert auch gleichzeitig die depressive Störung.

Die Depression stellt im Kindesund Jugendalter den Hauptrisikofaktor für Suizidalität dar. Die im Schulalter noch unausgesprochenen Suizidgedanken oder die übermäßige Beschäftigung mit dem Tod können sich im Jugendalter zu Parasuiziden und Suiziden steigern. Kapfhammer merkt dazu an: „Es ist aber festzuhalten, dass vollendete Suizide sowohl im Kindes- als auch im Jugendalter sehr seltene Ereignisse sind.“ Aufgrund der Suizid-präventiven Strategien der letzten Jahre sind in Österreich Suizide bei Kindern sogar rückläufig. „Trotzdem muss der appellative Charakter bei Suizidversuchen immer Ernst genommen werden und zu einer kundigen diagnostischen Klärung und professionellen Hilfe führen“, mahnt Kapfhammer. Darüber hinaus macht er auf zwei Mythen aufmerksam: „Bis in die späten 1980er Jahre dachte man, dass es eine echte Depression bei Kindern gar nicht gibt, da sie auf Grund ihres kognitiven und affektiven Entwicklungsstands hierzu nicht imstande seien. Das ist leider ein schrecklicher Irrtum, wie klinische und epidemiologische Studien verdeutlichen. Und man ging ferner davon aus, dass die natürliche Entwicklung von Jugendlichen quasi normativ durch große emotionale Turbulenzen gehe und eine Depression ein normales Erscheinungsbild der Pubertät darstelle. Nicht nur trifft dieses Bild von jugendlicher Entwicklung für den Großteil der Adoleszenten nicht zu, sondern depressive Jugendliche stellen in mehrfacher Hinsicht eine bedeutsame Risikogruppe dar.“

Im Gegenteil: Es hat sich gezeigt, dass eine Depression zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr ein bedeutsamer Prädiktor für ein erhöhtes Depressionsrisiko im Erwachsenenalter ist und daher als Leidenszustand erkannt und konsequent behandelt werden muss. „Eine besondere Herausforderung ist, dass sich im weiteren Verlauf nicht nur unipolare, sondern in etwa einem Drittel auch bipolare Störungen als manisch-depressive Erkrankungen entwickeln“, beschreibt Kapfhammer. Bei kleineren Kindern zeigen sich derart lineare Zusammenhänge nicht, da die Einflüsse multifaktorieller Natur sind. „Wenn auch ein großer Teil der Depressionen im Kindes- und Jugendalter spontan oder nach Wegfall von auslösenden Belastungsfaktoren remittiert, so erhöht das Auftreten einer depressiven Episode dennoch das Risiko für eine Folgeepisode“, merkt Zehetbauer an.

Beide Experten sehen in der Psychotherapie das Mittel der ersten Wahl zur Behandlung der kindlichen Depression. Für Kapfhammer ist klar, dass das therapeutische Vorgehen sehr stark von der Schwere der depressiven Symptomatik und der Bedeutsamkeit der daraus resultierenden nachteiligen psychosozialen Folgen abhängt. „Entscheidend ist ein multimodaler Behandlungsansatz“, bestätigt Zehetbauer. Der Einsatz von Antidepressiva wird im Kindes- und Jugendalter kontroversiell diskutiert. „Aufgrund der aktuellen Zulassungssituation können moderne Substanzen, die im Erwachsenenbereich seit vielen Jahren angewandt werden, bei Kindern und Jugendlichen oft nur im Rahmen eines so genannten individuellen Heilversuches verabreicht werden. Vor allem im Kindesalter gilt es jedoch, unter enger Einbeziehung der Eltern den Einsatz von Antidepressiva kritisch zu überprüfen“, empfiehlt Zehetbauer. Auch für Kapfhammer ist die Aufklärung der Eltern obligat: „Im Einzelfall können Antidepressiva im Kindesalter im engen ambulanten Setting unter sorgfältiger Protokollierung und zusätzlicher Psychotherapie zum Einsatz kommen.“

„Kind-gerechte“ Exploration

  • Bist Du ein eher fröhliches oder trauriges Kind?
  • Was macht Dir richtig Spaß?
  • Weinst Du oft?
  • Schläfst Du lange nicht ein?
  • Denkst Du oft über dasselbe nach – war das früher anders?
  • Macht Dir vieles keinen Spaß mehr, was Du früher gerne gemacht hast?


Sabine Zehetbauer, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Innsbruck

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2012