Demenz oder Depression: Mit einfachen Fragen zur richtigen Diagnose

25.01.2012 | Medizin



Etwa jeder dritte Patient, der wegen des Verdachts auf eine Demenz an eine Gedächtnisambulanz überwiesen wird, leidet an einer depressiven Störung. Einige wenige Fragen aus der Geriatric Depression Scale und mehr Zeit für das Gespräch vereinfachen die Diagnose deutlich.

Von Elisabeth Gerstendorfer

Demenz und Depression zählen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Alter. Im Vergleich zur Demenz wird die Depression bei Menschen ab 65 Jahren – besonders wenn sie erstmalig auftritt – jedoch  nur selten explizit diagnostiziert. Klagt der Patient beispielsweise über Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Antriebslosigkeit, Verstimmungen oder vegetative Symptome wie Müdigkeit oder Schlafstörungen, führt das bei einer Untersuchung in den meisten Fällen zum Verdacht auf Demenz. Dass auch eine Depression Ursache der genannten Symptome sein kann, wird oft nicht berücksichtigt. „Gründe dafür sind etwa zu kurze Arzt-Patientenkontakte oder eine mangelnde Ausbildung beziehungsweise ein zu starker Fokus des Arztes auf Alzheimer. Auch Altersstereotype spielen eine wichtige Rolle“, sagt Univ. Prof. Peter Fischer vom Sozialmedizinischen Zentrums Ost in Wien.

Energiemangel, Müdigkeit oder ähnliche Symptome werden oft als typische Begleiterscheinungen des Alterns gesehen und dadurch als Hinweis auf Depression verkannt. Fischer und seine Kollegen konnten in der Vienna Transdanube Aging (VITA)-Studie, bei der seit dem Jahr 2000 rund 500 Einwohner des 21. und 22. Wiener Gemeindebezirks im Alter ab 75 Jahren mehrfach untersucht wurden, zeigen, dass Depression mit dem Alter zunimmt. Besonders zwischen dem 75. und 83. Lebensjahr werden Depressionen immer häufiger. „Bei den 75-Jährigen hatten wir eine Häufigkeit von 16,5 Prozent, bei den 83-Jährigen waren es bereits 31 Prozent mit Depression. Obwohl andere Längsschnittstudien ähnliche Befunde zeigen, wird das in den Lehrbüchern oft anders dargestellt und häufig unterschätzt“, so Fischer.

Etwa 30 Prozent der Patienten, die wegen des Verdachts auf Demenz den Gedächtnisambulanzen zugewiesen werden, leiden an depressiven Störungen. Die Hauptschwierigkeit bei der Diagnostik der Depression ab einem Alter von 65 Jahren ist das Symptom der Konzentrationsstörungen – laut DSM IV unabhängig vom Alter ein Kriterium der Depression, gleichzeitig aber auch ein Anzeichen für Demenz. „Das Gefühl, sich nichts mehr merken zu können, wird durch die negative Erwartungshaltung der Depression verstärkt. Die Patienten glauben selbst, dass sie Alzheimer haben. Das lenkt bei der Diagnose ab“, sagt Fischer. Das Klagen über Aufmerksamkeits- und Merkschwierigkeiten ist aber noch kein hinlänglicher Nachweis dafür, dass das Gedächtnis tatsächlich schlecht ist.

Erschwert wird die Diagnose weiters dadurch, dass die Beeinträchtigung der Konzentration während der depressiven Episode ähnlich wie bei Demenz eine Sprech- und Denkhemmung hervorrufen kann. Hinzu kommt, dass typische Symptome wie Freudlosigkeit und Verstimmung nicht unbedingt berichtet werden – zum einen, weil die ältere Generation den Fokus auf somatische Beschwerden legt, zum anderen auch aus Furcht vor dem Stigma einer psychiatrischen Erkrankung. Demenz hingegen wird als weit verbreitete, mit dem Alter erklärbare und nicht Scham-besetzte Diagnose eher akzeptiert als Depression. Bestimmte Symptome wie Suizidgedanken oder sexuelle Funktionsstörungen werden von älteren Patienten aus Scham ebenfalls meist verschwiegen.

Im Unterschied zu jüngeren Patienten, die in der Depression apathisch und antriebslos sind, sind Depressive über 65 Jahre agitierter; man sieht ihnen die innere Unruhe förmlich an. Auch das störe laut Fischer die Diagnose der Depression und fördere die Behandlung einer eigentlich nicht vorhandenen Demenz.

Bei der Diagnose Demenz sind fachärztliche Überweisung sowie CT-Untersuchungen und Alzheimer-Tests die Folge. Zeit vergeht, die bereits genutzt werden könnte, um depressiven Patienten die entsprechende Therapie zuzuführen. „Oftmals bedarf es einer behutsamen, aber ausführlichen Exploration in einer Vertrauens-fördernden Atmosphäre, um depressive Symptome als solche zu erkennen“, so Fischer. Studien aus Großbritannien zeigen, dass zwischen der zur Verfügung stehenden Zeit und der Entdeckung der Depression im Alter eine lineare Beziehung besteht. Doppelt so viel Zeit führt doppelt so häufig zur richtigen Diagnose. Die Richtigkeit der Diagnose nimmt bereits zu, wenn der Arzt sich nur wenige Minuten mehr Zeit nimmt. „Wenn die Krankheitsbilder klar und eindeutig sind, ist es nicht schwer zu differenzieren. Ein Problem ist aber, dass Demenz und Depression auch gleichzeitig vorkommen können. Ungefähr ein Drittel der Demenz-Erkrankungen beginnt mit Depression. In manchen Studien wird der Anteil noch höher angegeben“, sagt Univ. Prof. Josef Marksteiner von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie A am Landeskrankenhaus Hall/Tirol. „Bei diesen Fällen sind kognitive Probleme relativ häufig und verschwinden auch nicht mehr, obwohl sich die Depression bessert“, so Marksteiner.

Besonders hilfreich bei der Differentialdiagnostik zwischen Depression und Demenz ist die Geriatric Depression Scale nach Sheikh und Yesevage (1986) sowie die dazugehörige Kurzform. Fragen wie „Haben Sie das Gefühl, Ihr Leben sei leer?“ oder „Fühlen Sie sich hilflos?“ können leicht gemerkt und in der Anamnese gestellt werden. Beantwortet der Patient fünf oder mehr der 15 Fragen mit „Ja“, ist eine Depression anzunehmen. „Den Fragebogen kann man auch gut im Wartezimmer ausfüllen lassen, das geht schnell und ist Zeit-sparend“, sagt Fischer. Josef Marksteiner dazu: „Die Geriatric Depression Scale ist eine gute Möglichkeit für ein erstes klinisches Screening. Die strukturierten Fragen sind eine Hilfe, ersetzen aber nicht die klinische Untersuchung.“ Die Skala wurde speziell für ältere Menschen entwickelt und ist auf österreichische Verhältnisse validiert.

Ein für die Differentialdiagnostik auffälliger Unterschied zwischen dementen und depressiven Patienten ist die Orientierung. Während dementielle Erkrankungen mit Desorientierung einhergehen, können Depressive auf Nachfragen Datum und Uhrzeit in der Regel richtig angeben. Allgemein zeigen ältere Menschen das eigene Leiden weniger als jüngere, verfügen gleichzeitig aber über geringere Widerstandsressourcen. Insbesondere bei Demenz werden die Beschwerden bagatellisiert, bei Depression ist der Leidensdruck hingegen spürbar.

Ursachen: Mix mehrerer Faktoren

Die Ursachen für die Zunahme der Ersterkrankungen an Depressionen im Alter liegen in einem Mix aus sozialen, biologischen und psychologischen Faktoren wie etwa der Häufung von belastenden Lebensereignissen. Ältere Menschen erleben beispielsweise zunehmend den Verlust von engen Freunden und Angehörigen – das soziale Netz, das einen erheblichen Schutzfaktor für Depression darstellt, fehlt immer mehr. Auch Isolation, Sinnfragen, das Nicht-Erreichen von persönlichen Lebenszielen oder das gesellschaftlich vorherrschende Defizitbild des Alterns können Einfluss auf das erstmalige Auftreten einer Depression im Alter haben. Hinzu kommen die Wahrnehmung von Einschränkungen körperlicher und kognitiver Fähigkeiten sowie somatische Beschwerden und Multimorbidität, welche die Endlichkeit des eigenen Lebens vor Augen führen. Möglicherweise spielen auch Altersveränderungen der Transmittersysteme etwa im Serotoninsystem eine Rolle; Hinweise darauf sind aber nicht ausreichend belegt.

Die Therapie von älteren depressiven Patienten unterscheidet sich kaum von der jüngerer. „Ältere Erwachsene sprechen auf Antidepressiva genauso gut an wie junge, manchmal sogar besser. Ich empfehle bei Menschen über 65 Jahren eine Dauermedikation, da die Depression ab diesem Alter sehr leicht wiederkehrt“, sagt Fischer. Während bei jüngeren Patienten nach etwa sechs Monaten versucht wird, die Medikamente abzusetzen, zeigt eine andauernde Medikation im Alter bessere Wirkung. „Bei Patienten ab 65 Jahren ist die Zeit bis zum Wirkungseintritt der Medikation länger. Während bei Jüngeren erste Erfolge bereits nach etwa 14 Tagen eintreten, beträgt der Zeitraum bei älteren Patienten drei bis vier Wochen“, so Marksteiner. Hinzu komme, dass die depressive Episode bei älteren länger dauere als bei jüngeren.

Begleitend sollte Patienten zur Psychotherapie geraten werden. „Bisher gibt es wenige Untersuchungen, welche sich mit der Wirkung der Psychotherapie bei älteren Menschen befassten. Die Erfahrung zeigt aber, dass sie gut darauf ansprechen. Die Therapie ist viel einzigartiger als bei jungen Menschen, da ältere das Gespräch richtiggehend suchen. Der Therapeut befindet sich oft gleich in einer außergewöhnlichen Situation zum Patienten“, sagt Fischer. Die Erfolgsaussichten der Behandlung von Depression im Alter sind besonders bei erstmaligem Auftreten gut; bei rezidivierendem Verlauf etwas geringer. Unbehandelt verläuft die Depression meist chronisch.

Um sicherzugehen, dass keine Demenz vorliegt, kann nach einer ersten Besserung der Depressions-Symptome eine Zuweisung zu einem Psychologen erfolgen, um den Patienten auf Alzheimer zu testen. Ist die Stimmung zwar besser, das Gedächtnis aber weiterhin schlecht, sollte eine Überweisung zum Facharzt ausgestellt werden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2012