Computerspiele: Sie wirken – aber wie?

15.07.2012 | Medizin

Computerspiele wirken – wie sie wirken, ist aber umstritten. Nachgewiesen ist etwa, dass der Zusammenhang zwischen Gewalt-haltigen Computerspielen und Aggression größer ist als der Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Passivrauchen am Arbeitsplatz.
Von Marion Huber

Mein Kind spielt lieber stundenlang Computer als sich mit Freunden zu treffen“ – Eltern sind oft besorgt darüber, dass sich ihre Kinder stundenlang mit Computerspielen beschäftigen und verstehen nicht, was sie daran so fesselt. Die Meinungen gehen auseinander: Während einige es als Flucht vor dem wirklichen Leben mit großem Suchtpotential verteufeln, sehen andere darin eine Freizeitbeschäftigung, die den Spieler fordert und fördert. Bei einer Veranstaltung des Wissenschaftsfonds (FWF) zum Thema „Computerspiele und Sozialverhalten“ haben Experten kürzlich die Auswirkungen und das Suchtpotential von Computerspielen kontroversiell diskutiert.

Die Faszination ist für Herbert Rosenstingl von der Bundesstelle für die Positivprädikatisierung von Computer- und Konsolenspielen leicht erklärbar: „Schon kleine Kinder drücken gerne Knöpfe. Das können Sie in der U-Bahn gut beobachten. Man drückt einen Knopf und bewirkt damit etwas. Computerspiele bieten eine Vielfalt an Möglichkeiten. Das ist Unterhaltungs- und Spannungserleben, das man selbst beeinflussen kann und das alles eingebettet in eine Phantasiewelt.“ Nicht zu unterschätzen seien auch die Erfolgserlebnisse, die der Spieler dabei hat. „Der Erfolg wird einem zwar auch im Computerspiel nicht geschenkt, dennoch ist es die Versuchung, den einfachen Weg zu gehen. Im Computerspiel ist es leichter, Erfolg zu haben, als im echten Leben“, sagt er.

Aggressiv durch Computerspiele?

Gewöhnlich könnten Menschen – so Rosenstingl – die Reizeindrücke sehr gut in einen Rahmen bringen; sie können virtuelle und reale Welt unterscheiden. „Allerdings ist das Alters-abhängig. Bei Kindern kann das schon problematisch sein“, betont der Experte. Besonders bei sogenannten „Killerspielen“ oder Gewalt-haltigen Computerspielen sind die – vor allem langfristigen – Auswirkungen auf das Sozialverhalten noch äußerst umstritten.

Davon, dass Computerspiele das Verhalten beeinflussen, ist Univ. Prof. Tobias Greitemeyer vom Institut für Psychologie an der Universität Innsbruck überzeugt: „Computerspiele wirken. Wie sie wirken, hängt vom Inhalt und vom Modus ab.“ Für ihn besteht jedenfalls ein Zusammenhang zwischen Gewalthaltigen Computerspielen und gewalttätigem Verhalten: „Wer aggressive Computerspiele spielt, neigt eher zu aggressiven Gefühlen und zeigt weniger Mitgefühl und prosoziales Verhalten.“ Bestätigt sieht er seine These einerseits durch eine Meta-Analyse von Anderson et al. (2010) mit mehr als 130.000 Probanden, aber auch durch eigene Studien. Besonders stark sind die Effekte allerdings nicht: Der Korrelationskoeffizient beträgt 0,2. „Ein zugegeben nur kleiner bis mittlerer Effekt“, aber dennoch statistisch relevant, sagt Greitemeyer: „Damit ist der Zusammenhang zwischen Gewalthaltigen Computerspielen und Aggression größer als der Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Passivrauchen am Arbeitsplatz.“

Wann sind die Effekte besonders stark? In Experimenten mit etwa 100 Probanden konnte der Sozialpsychologe feststellen, dass die Identifikation mit der Spielfigur bei aggressiven Spielen im Vergleich zu neutralen Spielen die Effekte verstärke. Außerdem verzerre die extreme Aggression in Computerspielen die Wahrnehmung: Man empfinde das eigene aggressive Verhalten im Alltag als weniger schlimm. Weil Gegner in Gewalthaltigen Spielen nicht als menschlich dargestellt und wahrgenommen werden, würden Spieler auch im Alltag zur Dehumanisierung neigen. Greitemeyer dazu: „Man spricht anderen Personen menschliche Attribute ab und hat dadurch weniger Hemmungen, gewalttätig zu sein.“

Diesen Zusammenhang bestätigt auch Univ. Prof. Michael Musalek, ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts in Wien, im Gespräch mit der ÖÄZ: „Natürlich hat diese Bagatellisierung der Gewalt Auswirkungen. Es kommt dadurch zu einer gewissen Abstumpfung.“ Das bedeute nicht, dass man gewalttätiger ist, sondern viel eher, dass man sich „nicht so viel dabei denkt“, wenn man Gewalt ausübt. „Es werden auch durchaus massive Gewaltanwendungen letztlich nicht als so gefährlich eingestuft. Man ist dann zum Beispiel ganz verwundert, dass jemand nicht mehr aufsteht, weil er im Gegensatz zum Computerspiel im realen Leben ja nicht mindestens drei Leben hat“, schildert Musalek.

Kooperativ und prosozial

Dass Computerspiele aber auch positiv auf das Verhalten wirken können, zeigte Greitemeyer durch Versuche mit pro-sozialen und kooperativen Computerspielen. Legt man den Fokus auf den Spielmodus, zeigt sich nämlich ein anderes Bild. „Spielt man mit anderen gemeinsam, kann man die Effekte von Gewalt-haltigen Computerspielen auffangen. Die Auswirkungen sind dann positiv, der Spieler ist deutlich kooperativer und aggressives Verhalten wird gemindert“, erklärt Greitemeyer. Prosoziale Computerspiele, in denen der Spieler anderen Charakteren helfen muss, fördern wiederum auch im realen Leben die Hilfsbereitschaft. Während in einem Experiment nach dem Spielen eines neutralen Computerspiels jeder Fünfte in einer vermeintlichen „Notsituation“ eingriff, war es nach einem pro-sozialen Spiel mehr als jeder Zweite.

Aber nicht nur der Inhalt des Spiels, auch die aufgewendete Zeit sei entscheidend, so Greitemeyer weiter: „Die Effekte von Gewalt-haltigen Spielen verschwinden relativ schnell, wenn nur einmal gespielt wird. Sie halten aber länger an, umso regelmäßiger und intensiver man spielt.“ Dass jeder, der Gewalthaltige Computerspiele spielt, auch im realen Leben gewalttätig wird, heißt das aber noch lange nicht. „Killerspiele sind nicht die Ursache für Gewaltprobleme, sondern eventuell ein Hinweis darauf“, ist Rosenstingl überzeugt. Vielmehr spiele die soziale Ausgrenzung dabei eine Rolle.

Die weitaus größere Auswirkung von Computerspielen sieht auch Musalek beim Sozialverhalten: „Wenn relativ junge Jugendliche sehr viel Computer spielen – und wir müssen heute davon ausgehen, dass wir von Elf-, Zwölf- und 13-Jährigen sprechen – fällt das genau in die Zeit, in der sie das Sozialverhalten erst erlernen.“ Ist man in dieser Lebensphase – in der die Sozialisation, das Sich-Behaupten in Gruppen, die Kontaktaufnahme mit dem anderen Geschlecht stattfinden – immer zurückgezogen, fehle einem die Zeit später. „Dadurch kann man das quasi nicht spielerisch erlernen. Das mit 20 oder 25 Jahren aufzuholen, ist äußerst schwierig; man wirkt ungelenk und oft zieht man sich dann noch weiter zurück. Der Endeffekt ist soziale Isolation.“

Sucht oder nur eine Phase?

In erster Linie sei darauf zu achten, dass das Computerspielen nicht überhand nimmt und unkontrollierbar wird. Dennoch – so die Experten – sei exzessives Computerspielen bei vielen Jugendlichen nur eine Phase. Diese müsse vom pathologischen Gebrauch klar unterschieden werden. Als abhängig gelten etwa in Deutschland nur 0,5 Prozent der spielenden Bevölkerung, wie eine Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (2011) ergab.

„Es ist genauso wie beim Alkohol“, weiß Musalek: „Es gibt viele Jugendliche, die einmal über den Durst trinken oder bei einem Koma-Trinken mitmachen. Dann gibt es zwei Gruppen: eine Gruppe, die das eine Zeit lang macht, der es aber zu viel wird und die andere Dinge schließlich für wichtiger hält.“ Und es gebe die zweite Gruppe, die davon profitiere – bei diesen Jugendlichen würden Ängste, Depressionen, Unwohlsein dadurch besser und sie hätten das Gefühl „mir hilft das“. Diese Gruppe bleibe hängen und sei besonders gefährdet. „Es sind die Komorbiditäten, die den Menschen eigentlich in die Sucht führen“, so der Experte.

Flucht aus dem Alltag

Nicht selten verlieren sich Jugendliche in ihrer Spielwelt, um vor dem Alltag zu flüchten. „Computerspielen ist eine klassische Flucht in eine virtuelle Welt – und dagegen spricht prinzipiell nichts, wenn die normale Welt trotzdem noch genug Attraktivität hat“, betont Musalek. Wir alle flüchten zeitweise in eine virtuelle Welt, gaukeln uns Träume vor, gehen ins Kino. „Und das tut uns gut – wenn wir diese Welt wieder verlassen können. Das Problem besteht dort, wo einerseits die reale Welt so unattraktiv ist, dass ich überhaupt nicht mehr aus der virtuellen Welt aussteigen möchte und andererseits, wo die virtuelle Welt zu meiner realen Welt wird und das Einzige ist, was ich habe.“ Dann können sich Jugendliche meist nicht mehr lösen, weil sie die Kontrolle darüber verlieren. Musalek weiter: „Sie müssen dann auch immer mehr spielen und es kommt relativ rasch zur Toleranzentwicklung.“

Befindet man sich einmal in diesem Stadium, ist die Therapie ein wichtiger Schritt. „Das Erste und Wichtigste dabei ist, dass die Therapie überhaupt beginnt und das ist gleichzeitig auch das größte Problem“, berichtet Musalek aus der Praxis. Das Problembewusstsein sei auf diesem Gebiet noch sehr gering und gleichzeitig die Schwelle, in Therapie zu gehen, relativ hoch. „Wir bekommen in die Suchtklinik in der Regel Patienten, die oft schon jahrelang abhängig sind und deutliche Sekundärfolgen haben wie etwa starke Entwicklungsstörungen und große Schwierigkeiten in der Sozialisation.“ Hier kommt es bei der Therapie auch zu Entzugserscheinungen, schildert Musalek: „Das Entzugssyndrom sieht aus wie ein Alkohol-Entzugssyndrom, hat aber natürlich eine ganz andere Pathogenese. Es kommt zu Spannungszuständen, Unruhe, Zittern, Schwitzen, Tachykardie, Schlafstörungen bis hin zu Angstsymptomen, die dann weggehen wenn jemand wieder online ist.“

Wann gibt es wirklich Anlass zur Sorge? „Gefährlich wird es, wenn man den Eindruck hat, dass der Jugendliche das Spielen nicht mehr steuern kann“, erklärt der Fachmann. Typisch sei die Vernachlässigung aller anderen Lebensbereiche: Schule, Studieren, Arbeiten spielen keine Rolle mehr, man trifft sich nicht mehr mit Freunden und zieht sich von der Familie zurück. „Wenn quasi der Computer und das Online-Sein zum Lebenszentrum werden, ist es in jedem Fall höchste Zeit, etwas zu unternehmen“, so sein Resümee.

Tipps:
Violent Video Game Effects on Aggression, Empathy and Prosocial Behavior in Eastern and Western Countries:
A Meta-Analytic Review – Anderson et al., Psychological Bulletin Vol. 136 (März 2010)
Kompetenzen und exzessive Nutzung bei Computerspielern: Gefordert, gefördert, gefährdet – Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (2011)

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2012