Alkohol-Abhängigkeit: Therapieziel: Reduktion statt Abstinenz

10.09.2012 | Medizin

Bei der Behandlung von Alkoholkrankheit findet ein Umdenken statt. Statt totaler Abstinenz gilt nun auch die Dosisreduktion als sinnvolles Teilziel. Der neugegründete Verein „Alkohol ohne Schatten“ will gezielt Aufklärungsarbeit leisten.
Von Verena Ulrich

Rund 340.000 Österreicher sind alkoholkrank und weitere 760.000 konsumieren für die Gesundheit riskante Alkoholmengen. Die Zahl der Betroffenen war lange konstant. In den letzten Jahren ist allerdings ein leichter Anstieg zu verzeichnen, der vorwiegend auf die wachsende Anzahl an weiblichen und jugendlichen Alkoholkranken zurückzuführen ist. „Das Bewusstsein, dass die Alkoholkrankheit nicht eine Charakter- oder Willensschwäche ist, sondern eine ernst zu nehmende Erkrankung, die möglichst frühzeitig diagnostiziert und behandelt werden sollte, ist noch viel zu wenig verbreitet“, so Univ. Prof. Michael Musalek, Ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts in Wien und Präsident des kürzlich gegründeten Vereins „Alkohol ohne Schatten“. Durch den Verein soll Bewusstsein für die Problematik geschaffen und über die Implikationen der Alkoholkrankheit für die Volksgesundheit aufgeklärt werden.

Hausärzte haben Schlüsselrolle

Aus medizinischer Sicht ist die Alkoholkrankheit eine hochkomplexe psychische Erkrankung. Das Diagnosekodierungssystem ICD-10 zählt sie zu den psychischen Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen. Der wichtigste Faktor für den Behandlungserfolg ist der Zeitpunkt der ersten Intervention. „Eine frühzeitige Diagnose ermöglicht eine Einstellungsänderung bei den betroffenen Personen und beugt Schädigungen in späteren Phasen der Abhängigkeit vor“, erklärt Musalek. Eine Schlüsselrolle in der Früherkennung der Erkrankung haben die Hausärzte inne. „Wir Hausärzte kennen unsere Patienten oft seit vielen Jahrzehnten. Das ermöglicht uns, frühe, negative Entwicklungen auf dem Weg zur Abhängigkeit zu erkennen und zu diagnostizieren“, so Barbara Degn von der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM).

Hat der Hausarzt den Verdacht, einen Patienten mit einem Alkoholproblem vor sich zu haben, steht er vor der Herausforderung, dem Betroffenen die Problematik bewusst zu machen. Oft wird die Situation vom Patienten heruntergespielt und die Bereitschaft zu Therapiemaßnahmen ist gering. Laut Degn ist der Bluttest ein guter Einstieg in ein Gespräch mit dem Patienten, da die Werte in den meisten Fällen Auffälligkeiten zeigen. Vorgefertigte Fragebögen können ebenfalls Hinweise auf ein eventuell vorliegendes Alkoholproblem geben. Beispielsweise kann der sehr einfache Audit-C-Screening-Test in wenigen Minuten im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen vom Patienten selbst ausgefüllt werden. Erhärtet sich der Verdacht auf ein Alkoholproblem, sollte der Patient über mögliche, weitere Behandlungsschritte aufgeklärt werden. „Wir Hausärzte haben die Funktion einer Drehscheibe zwischen Patienten und den spezialisierten therapeutischen Einrichtungen“, so Degn. Die Expertin weist jedoch auf Schwachstellen in der Therapiesituation hin. Sie wünscht sich mehr ambulante und stationäre Anlaufstellen für Patienten, denen Allgemeinmediziner aufgrund der Schwere der Suchterkrankung nicht mehr ausreichend helfen können. Laut Degn bestehe außerdem ein erheblicher Engpass an Kassenplätzen für psychotherapeutische Begleittherapien.

Waren in den letzten 30 Jahren die Lehrmeinungen in der Therapie der Alkoholkrankheit nahezu konstant, findet derzeit ein Umdenken statt.

Vor kurzem galt noch die völlige Abstinenz als einziges Therapieziel. Seit neuestem wird auch Alkoholreduktion oder moderater Konsum in der Therapie angestrebt. „Totale Abstinenz ist ein Ziel, das manche Menschen nicht erreichen können, und außerdem für viele keine attraktive Vorstellung. Für sie ist eine Dosisreduktion das erste sinnvolle Teilziel“, erläutert Musalek. Dies gilt allerdings nicht, wenn bereits eine körperliche oder stark psychische Abhängigkeit besteht. „Liegt bereits ein Entzugssyndrom vor, bleibt Abstinenz ein unverzichtbares Therapieziel“, so der Experte. Neu ist auch, dass die Kriterien für die Definition der Alkoholkrankheit verändert wurden, wobei zwischen Früh- und Spätstadien unterschieden wird. Wurden vormals nur Spätstadien diagnostiziert, werden heutzutage auch Frühstadien als Krankheit erfasst und behandelt. In absehbarer Zukunft werde außerdem ein Medikament auf den Markt kommen, das die Reduktion des Alkoholkonsums unterstützen kann, kündigt Musalek an.

Einhergehend mit dem Paradigmenwechsel in der Therapie lehnt auch der neugegründete Verein „Alkohol ohne Schatten“ den Genuss von Alkohol nicht ab, sondern setzt sich für den verantwortungsvollen und maßvollen Umgang ein. Die Arbeit des Vereins soll in Verbesserungsvorschlägen für ein frühzeitiges Erkennen von Alkoholkrankheit sowie in der Weiterentwicklung der Therapiemaßnahmen resultieren. Nähere Infos unter www.alkoholohneschatten.at.

Abhängigkeitskriterien nach ICD-10:

  • Ein starker Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren
  • Verminderte Kontrollmöglichkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums
  • Toleranzentwicklung
  • Körperliches Abstinenzsyndrom wie morgendliches Zittern, Unruhe, Übelkeit, starkes Schwitzen
  • Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Alkoholkonsums
  • Anhaltender Konsum trotz Nachweis schädlicher Folgen, die dem Patienten bewusst sind

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2012