Standpunkt – Vize-Präs. Günther Wawrowsky: Unsoziale Krankenversicherung?

25.10.2011 | Standpunkt

(c) Foto Weinwurm

Seit mehr als fünf Jahren arbeiten wir in Niederösterreich daran, Kassen-Ordinationen im Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie zu etablieren. Während eine solche Betreuung von Jugendlichen in anderen EU-Staaten schon seit mehr als 30 Jahren Standard ist, begeben wir uns in Österreich damit auf Neuland!

Warum es ein angeblich fortschrittliches Staatswesen über Jahrzehnte hindurch nicht als notwendig erachtet, jungen Menschen, die krank sind, eine fachärztliche Betreuung anzubieten, sollte sicher auch diskutiert werden, aber nicht heute.

In Niederösterreich jedenfalls wurde in enger Kooperation mit der regionalen Gebietskrankenkasse über Jahre versucht, Nägel mit Köpfen zu machen. Zwei Kolleginnen – Fachärztinnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie – haben im Rahmen eines Pilotprojektes junge Patientinnen und Patienten kassenmedizinisch versorgt. Diese Betreuungsform wurde umfangreich evaluiert und analysiert; der Abschlussbericht umfasst 130 Seiten. Und wenig überraschend wird darin die Notwendigkeit, ja Dringlichkeit dieser Einrichtungen betont.

Stammen die betroffenen Kinder und Jugendlichen doch allzu oft aus wenig begüterten sozialen Verhältnissen und sind damit nicht im Geringsten in der finanziellen Lage, durch eine oft länger dauernde Betreuung in Privatordinationen geführt zu werden. Wer also Klassenmedizin verhindern will, wird sich dieser Versorgungs-Verantwortung stellen müssen.

Wir Ärztinnen und Ärzte haben das nun getan. Die niedergelassenen Ärzte haben mit der niederösterreichischen Gebietskrankenkasse die Schaffung von fünf Kassenplanstellen für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit 1. Jänner 2012 beschlossen. Das ist seit nahezu 20 Jahren die erste Neueinrichtung eines Sonderfaches im Kassenbereich. Österreichweit hat die Bundeskurie niedergelassene Ärzte mit der Versicherungsanstalt der Eisenbahner und des Bergbaus (VAEB) eine Honorarordnung für dieses Sonderfach im Rahmen der Honorarverhandlungen im Frühling 2011 vereinbart; ähnliches ist mit der SVA und der BVA geplant und derzeit in Arbeit.

Alles wäre auf Schiene, diese weit klaffende Versorgungslücke zu schließen. Wenn da nicht die Quertreiber, Verhinderer und Betonierer im Hauptverband der Sozialversicherungsträger säßen. Schreibtischtäter wollen jetzt – fernab jeder medizinischen Verantwortung – das in jahrelanger mühsamer Kleinarbeit vorbereitete Projekt auf die lange Bank schieben und aushungern. Fünf lange Jahre Pilotprojekt mit abschließender umfangreicher positiver Evaluierung – so die Argumentation – seien zu wenig.

Danke, es reicht: 30 Jahre im Rückstand und dann bedachtvoll analysieren, was schon alles analysiert wurde! Wir haben nicht die Zeit – und im Letzten auch nicht die Geduld – selbst die letzten Kleingläubigen von unübersehbaren Notwendigkeiten zu überzeugen.

Dabei hoffe ich auch auf die Unterstützung derejenigen in der Sozialversicherung, die das soziale Gewissen und den Weitblick zu ihren Eigenschaften zählen und mir meinen Glauben an die Sinnhaftigkeit dieser „sozialen“ Krankenversicherung erhalten.


Günther Wawrowsky

Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2011