Standpunkt – Vize-Präs. Artur Wechselberger: Die elektronischen Eier der Republik

10.06.2011 | Standpunkt

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Erinnern Sie sich noch an das Tamagotchi? Ein virtuelles Küken, um das man sich vom Zeitpunkt des Schlüpfens an wie um ein echtes Haustier kümmern musste. Der Boom vor mehr als zehn Jahren war innerhalb weniger Monate vorbei. Vernachlässigt starb es seinen virtuellen Tod, ohne dass ihn seine Besitzer mit dem Reset-Knopf wieder zum Leben erweckten.

Warum ich das erzähle? Weil es zeigt, dass technisch Mögliches und elektronisch Programmierbares nicht überlebt, wenn es weder Nutzen bringt, noch den Bedürfnissen der Nutzer entspricht.

Derzeit wird in Österreich ein elektronischer Helfer unter dem Namen E-Medikation erprobt. Wir erwarten uns, nachdem es alle von einem Patienten in Apotheken bezogenen Medikamente erfassen soll, davon ein Mehr an Vorinformation zur Medikation dieses Patienten. Die Nichtmediziner, die in das Projekt eingebunden sind, begeistert allerdings viel mehr die Option der Interaktionsprüfung zwischen verschiedenen Medikamenten. So sehr, dass wir uns wehren mussten, nicht zur ständigen Anwendung des Interaktionstools gezwungen zu werden. Dabei ist längst erwiesen, dass rein technische Verknüpfungen von Informationen aus Fachinformationen und Literaturquellen zu einer Flut von Warnhinweisen führen, deren Relevanz für den einzelnen Behandlungsfall oft nicht gegeben ist. Erst die ärztliche Bewertung von individuellen Patientenfaktoren wie Indikation, Alter, Konstitution und Komorbiditäten, aber auch individuelle Dosierungsschemata, Galenik und Applikationswege entscheiden meist, ob aus einer Risikokonstellation eine Kontraindikation wird. Overalerting – so der Ausdruck für eine Flut von irrelevanten Warnhinweisen – führt erwiesenermaßen zu einer Abstumpfung der Nutzer, die müde werden, ihren Gedankenduktus ständig durch die Technik unterbrochen zu sehen. Eine Abstumpfung, die – Alert-Fatigue genannt – dazu führt, dass auch wichtige Warnmeldungen nicht mehr registriert werden.

Nachdem verschiedene Studien gezeigt haben, dass Entscheidungs-unterstützte Computerized Physician Order Entry-Systeme (CPOE), wie bei der E-Medikation geplant, grundsätzlich die Fehlerraten in der Medikation reduzieren können, muss in die Gestaltung der E-Medikation neben elektronischem Knowhow besonders mehr medizinisches Wissen in das System einfließen. Ein medizinisch wissenschaftliches Manko, das derzeit noch offenen Fragen der Haftung und des Datenschutzes nicht nachsteht und einen kritischen Erfolgsfaktor des Projektes darstellt. Denn Studien zeigen auch eindeutig, dass unzureichend gestaltete CPOE-Systeme selbst zur Fehlerquelle werden und die Patientensicherheit negativ beeinflussen können.

Auch das Projekt ELGA leidet am fehlenden medizinischen Input. Nur so erklärt sich die absolute Überbewertung des Zugriffs auf alte Befunde. Ohne Rücksichtnahme auf die ohnehin knappe Zeit der Ärzte, die dem Aktenstudium statt der Patientenbehandlung zugeteilt werden soll, oder auf die Finanzmittel, die an anderen Stellen besser angelegt wären, will man bestehende und funktionierende Systeme durch ELGA ersetzen. Die Folgen für die Patientenversorgung und das Gesundheitssystem wurden nie bedacht. Abstumpfung der Ärzte gegen die Datenüberflutung oder falsche Schlüsse aus unvollständigen oder irrelevanten Daten sind nur einige der Gefahrenquellen eines nur technisch evaluierten Systems.

Technisch Machbares im Gesundheitswesen umzusetzen bedeutet noch lange nicht, dass damit jedenfalls die Effektivität und Effizienz der Patientenversorgung verbessert werden. Bei jeder Neueinführung ist auch mit Schäden durch die neuen Prozesse zu rechnen. Neben der Kostenentwicklung und der Patientensicherheit müssen vor der Einführung auch die rechtlichen, ethischen und sozialen Implikationen der neuen Technologie erforscht und Alternativen dargelegt werden. Dies verlangt auch Österreichs nationale HTA-Strategie. Eine Forderung, die bei der Einführung von ELGA offensichtlich ignoriert wird.

Artur Wechselberger
Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2011