Wiener Jüdischer Chor: Resonanzraum des Respekts

10.03.2011 | Spektrum

Der Wiener Jüdische Chor ist mittlerweile international beliebt und wird bis in die USA als musikalische Größe anerkannt und geschätzt. Gegründet wurde er vor mehr als 20 Jahren von einem Arzt: dem Pädiater Timothy Smolka aus Wien.
Von Ruth Mayrhofer

Es wurlt. Anders als mit diesem typisch wienerischen Ausdruck für das Hochdeutsche „es brodelt“ lässt sich die Situation nicht beschreiben, als die Autorin dieses Beitrags zu einer Probe des Wiener Jüdischen Chores (WJC) im Herzen der Wiener Innenstadt eintrifft. Es ist laut. Der kleine Probenraum ist nach subjektivem Ermessen übervoll; es herrscht Stimmengewirr, freundschaftlich hingeworfene Bemerkungen wandern zwischen den Sängern hin und her, so manche fragmentarische Tonleiter wird hörbar. Insgesamt ist die Atmosphäre von einer erfrischenden und ansteckenden Fröhlichkeit geprägt. Daneben aber gar nicht leise und definitiv fordernd durchaus harsche Klaviertöne des musikalischen Leiters des Chors, Roman Grinberg, der seine „Truppe“ – immerhin insgesamt 50 Sängerinnen und Sänger – zur Ordnung rufen und die Probe endlich (!) beginnen möchte.

Inmitten dieses irgendwie doch geordneten Chaos (subjektiver Eindruck der Berichterstatterin) ein Pol der Ruhe: der Kinderarzt und Obmann des Chores, Timothy Smolka, bedacht, freundlich, fast beschützend, jemand der prädestiniert scheint, Krisensituationen zu meistern. „Gehen wir nach nebenan“, lächelt Smolka, der den Chor vor mehr als 20 Jahren gegründet und heute die Funktion seines Obmanns inne hat; „hier kann man wirklich kein Interview machen“. Recht hat er.

Ein Mensch, eine Geschichte

Rückblende: Dass Smolka diese Rücksichtnahme gegenüber Journalisten an den Tag legt, hat vielleicht mit seiner Lebensgeschichte zu tun: Immerhin gehörte sein Vater dieser Berufsgruppe an. Smolka wurde 1938 in London geboren, nachdem seine Eltern 1933 dorthin emigriert waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte die Familie 1946 nach Wien in ihre Heimatstadt Wien zurück. Dort wurde – was Smolka verschmitzt lächelnd vermerkt – er achtjährig zunächst mangels deutscher Sprachkenntnisse in der Schule in eine reine Mädchenklasse gesteckt, konnte jedoch zwei Jahre später seine Gymnasiallaufbahn (mit mittlerweile ausgezeichneten Deutschkenntnissen) beginnen. 1956 begann er sein Medizinstudium und absolvierte im Anschluss daran seine Facharztausbildung zum Pädiater im Wiener Hanusch-Krankenhaus. Danach blieb er diesem Krankenhaus bis zu seiner Pensionierung treu; zunächst auf der Neonatologie, anschließend als Leiter des Kinder-Ambulatoriums. In Wien „hängen geblieben“ war er übrigens „der Liebe wegen“. 2003 trat Timothy Smolka seinen Ruhestand an. Bis 2008 führte er seine Ordination weiter. Heute ist er nach wie vor als Arzt in der Elternberatung des jüdisch-psychosozialen Zentrums tätig.

Denkt Smolka an die Spitalslandschaft während seiner Anfangszeit zurück, so meint er reflektierend: „Es hat sich alles unglaublich zum Positiven verändert“. Es sei im Lauf der Jahrzehnte eine „wesentlich menschlichere Atmosphäre“ entstanden. Abseits von strikten Besuchszeit-Regulierungen und der Meinung eines seiner damaligen Chefs, dass „Säuglinge keine Seele hätten“, wären Rooming-In auf Neugeborenen-Stationen und die Anwesenheit des Vaters bei der Geburt Meilensteine in der menschlichen Dimension der medizinischen Versorgung gewesen. Smolka: „Damals war das unvorstellbar; wenn heute aber ein Vater nicht bei der Geburt des Kindes dabei ist, fragt man sich, was da eigentlich los ist.“

„Nicht mitleiden, sondern Mitleid haben“

Der Arzt sieht trotz aller positiver Entwicklungen aber noch heute Defizite bei der Betreuung von Patienten: „Wir müssen uns in die Patienten hineindenken.“ Und: „Wir müssen nicht mitleiden, sondern Mitleid haben“, ist sein Plädoyer. „Das Wichtigste ist, mit den Patienten zu reden, ihre Erwartungen zu verstehen, und auch manchmal ihre Wut: Die Aggression ist nie gegen den Arzt gerichtet, sondern gegen die Situation.“ Auf die vielzitierte Drei-Minuten-Medizin angesprochen, sagt Smolka klar: „Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich.“ In diesem Zusammenhang regt der Pädiater auch einen Ausbau des „bedside teaching“ in der Medizin-Ausbildung dringend an, denn „nur wenn man mit Patienten redet, und ehrliche Empathie zeigt, profitieren alle Beteiligten. Auch die Ärzte“.

Musik, die unter die Haut geht

Eigentlich war es ja die Idee von Timothy Smolkas Tochter: 1988, als der Arzt als musikalischer Leiter und Präsident des Synagogen-Chors fungierte, wurde die Idee eines Wiener Jüdischen Chors geboren. Zunächst waren es gezählte acht Sängerinnen und Sänger, die in der Wohnung der Smolkas zu Proben aufeinander trafen. Das Ziel war schon damals, der jüdischen Musik, die im Aussterben begriffen war, eine Bühne zu verleihen und ihre Tradition zu erhalten. Private Aufführungen und ein immer größer werdender Chor, sowie der Wunsch der Außenwelt, „mehr“ vom Wiener Jüdischen Chor zu hören, bewogen Smolka, am 26.2.1991 (dem Jahr, als der Chor Vereinsstatus erreichte) das erste öffentliche Konzert im Theater Akzent in Wien zu geben. „Das war ein enormes finanzielles Risiko“, erinnert sich Smolka. „Immerhin mussten wir 27.000 Schilling an Miete berappen; keiner wusste, wie das ausgehen würde.“

Das Risiko hat sich gelohnt. Dieses Konzert war schnell ausverkauft, so wie heute alle Konzerte des Wiener Jüdischen Chors, der mittlerweile in Wien auch im Konzerthaus oder im Musikverein für volle Häuser sorgt, und auch auf Tourneen in den USA oder im ehemaligen Russland Tausende Musikliebhaber in seinen Bann zieht. Die Sänger des Chores finanzieren sich übrigens die Konzertreisen weitestgehend selbst. 2002 übernahm Roman Grinberg – vielleicht der größte musikalische „Coup“ von Timothy Smolka – die künstlerische Leitung des Chores. Seitdem hat der Chor sein Repertoire nicht nur erweitert, sondern auch stetig aktualisiert und modernisiert. Wer einmal ehrwürdige jüdische Gebetstexte auch in Jazz-Fassung gehört hat, weiß wovon die Rede ist (und wer sie noch nicht gehört hat, hat die Möglichkeit dazu beim nächsten Konzert am 22.6.2011 im Wiener Konzerthaus). Grinberg schreckt auch vor musikalischer Ahnenforschung nicht zurück: In ausgedehnten Recherche-Reisen versuchte er mühevoll, aber erfolgreich, und oft nur über gesangliche Überlieferungen fast vergessenes Liedgut wieder auferstehen zu lassen.

Über alle Grenzen hinweg

Der Wiener Jüdische Chor ist – das muss gesagt werden – aber von den Sängern her beileibe kein rein jüdischer Chor. „Unsere Chormitglieder gehören einer Vielzahl von Religionen und Nationalitäten an“, betont der WJC-Präsident, der als Sänger nach wie vor in der ersten Reihe des Chores zu finden ist. „Wir verstehen uns ganz einfach als eine große Familie. Da spielen Herkunft oder Religion wirklich keine Rolle.“ Mit dem Terminus „Toleranz“ hat Timothy Smolka ein gewisses Problem: „Das mag ich gar nicht, denn Toleranz kommt vom lateinischen tolerare, also erleiden. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Geheimnis eines interkulturellen Zusammenlebens viel mehr auf gegenseitigem Respekt fußt.“

Daher: Unterschiedlichkeiten im Wiener Jüdischen Chor funktionieren zugunsten des gemeinsamen Ziels, alte Lieder nicht verstummen zu lassen. Daher singt der Chor nicht nur auf Jiddisch, sondern auch auf Hebräisch, Englisch, Ladino, und bietet mitreißende Kiezmer-Musik. Die Rhythmen sind ansteckend, wenn auch hierzulande vielleicht ein wenig ungewohnt. Dazu eine Begebenheit: Timothy Smolka erzählt, dass der Wiener Jüdische Chor vor einiger Zeit von einer römisch-katholischen Pfarre in Wien eingeladen wurde, mit deren Chor ein Konzert zu gestalten. „Viel Zeit zum Proben hatten wir nicht“, erinnert sich Smolka. „Und es gab zu Beginn schon ein wenig Probleme mit den Rhythmen.“ Der große Unterschied lag aber darin, dass seiner Meinung nach „der Pfarrchor zum Himmel gesungen hat, wir aber mit beiden Beinen auf der Erde gestanden haben.“ Dennoch gab es ein Happy End: Ein Duett des Pfarrers mit dem Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde. Und da soll noch einer sagen, Musik sprenge nicht alle Grenzen!

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2011