ÖÄK-Diplom Sexualmedizin: Kompetenzen gezielt vermitteln

25.09.2011 | Politik

Um den Umgang mit dem nach wie vor tabuisierten Thema Sexualität im Gespräch zwischen Arzt und Patient zu verbessern, hat die Österreichische Ärztekammer eine zweistufige Weiterbildungsmöglichkeit für Ärzte aller Disziplinen geschaffen.
Von Birgit Oswald

Insgesamt 46 Prozent der Frauen und 39 Prozent der Männer sind im Laufe ihres Lebens von länger anhaltenden sexuellen Problemen betroffen. Oft ies es die Angst vor dem Tabu Sexualität, die Betroffene daran hindert, entsprechende Hilfe zu suchen, aber es fehlt auch an kompetenten Ansprechpartnern, die im konkreten Fall ein sexualmedizinisches Problem erkennen und entsprechend behandeln können. Um Sexualmedizin in den täglichen Praxis-Alltag zu integrieren und Mediziner mit dem entsprechenden Wissen zu versorgen, hat die Österreichische Ärztekammer eine interdisziplinäre zweistufige Weiterbildungsmöglichkeit, bestehend aus einem Basismodul und einer Diplomausbildung, geschaffen. Grundlage waren intesive Bemühungen zweier Gesellschaften – der in Salzburg ansässigen Österreichischen Akademie für Sexualmedizin (OEASM) und der Akademie für Sexuelle Gesundheit (AfSG) in Wien. Im April dieses Jahres wurde der Lehrgang realisiert. „Die interdisziplinäre Weiterbildung richtet sich an Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen und wird in dieser Form erstmals von einer Standesvertretung angeboten. Wir übernehmen damit eine Vorreiterrolle. Mit dieser Ausbildung, die in Wien und in Salzburg angeboten wird, können unsere Ärzte die Lebensqualität ihrer Patientinnen und Patienten deutlich erhöhen, gleichzeitig wird das Thema Sexualität enttabuisiert“, erklärt ÖÄK-Präsident Walter Dorner bei der Präsentation des neuen Diploms im September in Wien.

Und auch der Präsident der Salzburger Ärztekammer, Karl Forstner, hebt die besondere Bedeutung dieser Initiative hervor: „Mit der Weiterbildung in Sexualmedizin stehen wir an der Schwelle in ein neues medizinisches Zeitalter – ein Zeitalter, das Sexualität als Quelle von Gesundheit, aber auch als Quelle von Störungen ganzheitlich wahrnimmt“. Theoretisches Wissen allein sei in diesem Bereich längst nicht mehr ausreichend. Ärzte müssten auch Sicherheit erwerben, um dieses nach wie vor tabuisierte Thema beim Gespräch zwischen Arzt und Patient sicher und konstruktiv ansprechen zu können. „Wir in Österreich sind auch europaweit die ersten, die eine strukturierte Weiterbildung auf nationaler Ebene anbieten“, so Forstner.

Konkret wird ein „Basismodul Sexualmedizin“ angeboten: Dafür müssen 50 Stunden Theorie und 16 Stunden Supervision absolviert werden. Ziel ist es, dass die Teilnehmer Kenntnisse zur Erhebung der Sexualanamnese erlangen. Auch Grundkenntnisse in der Diagnose und Differentialdiagnose von Sexualfunktionsstörungen werden vermittelt. Weiters werden die sexualmedizinische Gesprächsführung und Funktionsberatung sowie präventive Elemente fokussiert. Ein entsprechendes Zertifikat bescheinigt den Abschluss.

Ein aufbauendes Spezialdiplom kann Berufs-begleitend in Salzburg absolviert werden; ein äquivalenter Diplomlehrgang in Wien ist in Vorbereitung. Das Spezialdiplom ist für Ärzte geeignet, die das Basismodul erfolgreich absolviert haben. „Sexualmedizin ist eine eigenständige Interventionsform, die nicht mit Psychotherapie verwechselt werden darf. Besonders ist vor allem der ungewohnte Patientenbegriff, denn es handelt sich nicht um einen Einzelpatienten, sondern das Paar ist der Patient. Die Arzt-Patientenbeziehung muss also als Arzt-Paar-Beziehung verstanden werden“, so Marianne Greil-Soyka, Vorsitzende der Österreichischen Akademie für Sexualmedizin. Besonders die Selbsterfahrung, die während der Diplomausbildung im Ausmaß von 60 Stunden absolviert wird, ist den Aussagen von Greil-Soyka zufolge wichtig. Auch der gesellschaftliche Wandel sowie neue Informations- und Kommunikationstechnologien lassen sexualmedizinische Kompetenz immer wichtiger werden, wie sie betont: „In einer Befragung von 1.228 Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren wurde ermittelt, dass 42 Prozent der Elf- bis 13-Jährigen und 79 Prozent der 14- bis 17-Jährigen bereits pornographische Bilder gesehen haben. Erstmals in der Kulturgeschichte lernen Jugendliche Sexualität durch Zusehen und nicht durch eigene Erfahrungen. Das hat starke Auswirkungen auf die psychosexuelle Erfahrungsbildung“. Sexualmedizinisch geschulte Ansprechpartner seien daher dringend notwendig.

Sexualmedizin reicht in viele medizinische Fachdisziplinen hinein und tangiert neben der Allgemeinmedizin auch Gynäkologie, Urologie, Endokrinologie, Psychosomatik und Psychiatrie. Die Sexualität sollte folglich bei den verschiedensten Störungsbildern in der ersten Anamnese und Diagnosesituation mitbedacht werden, wie die Wiener Frauengesundheitsbeauftragte Univ. Prof. Beate Wimmer-Puchinger betont: „Sexualität gehört zum Leben und zur Gesundheit. Durch das Diplom wird anerkannt, dass es Bedingungen in der Medizin gibt, die sich auf die Sexualität auswirken. So können etwa Medikamente oder Operationen Einfluss auf die Sexualität nehmen. Herzinfarkt führt oft zu langfristigen Ängsten, die das Sexualleben beeinflussen. Daher ist es wichtig, dass Ärzte der verschiedensten Disziplinen das sexualmedizinische Wissen haben und professionell reagieren können. Ein wichtiges Aufgabenfeld liegt in der Betreuung von Frauen in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Insbesondere professionelle sexualmedizinische Anamnese und Hilfe im Zusammenhang mit Infertilität.“

Möglichst viele Ärzte sollten daher die sexualmedizinische Fortbildungsmaßnahme ergreifen und sich praxisrelevante Kompetenzen in punkto Sexualmedizin aneignen, wie die Leiterin der Akademie für Sexuelle Gesundheit, Elia Bragagna, betont: „Jeder Arzt sollte das Wissen des sexualmedizinischen Zertifikats haben. Es befähigt dazu, dass man ganz unbeschwert und in ganz kurzer Zeit im Praxisalltag mit dem Thema Sexualität umgehen kann. Die Ärzte sollen sexuelle Themen ansprechen können und die Patienten sollen dadurch das Signal bekommen, dass der konsultierte Arzt – egal welcher Arzt das ist – kompetent auf dem Gebiet der Sexualmedizin ist.“

Neben den genannten Fachdisziplinen spielt Sexualmedizin vor allem in der Onkologie eine wichtige Rolle. Da immer mehr Menschen von onkologischen Erkrankungen betroffen sind – bereits 45 Prozent der Männer und 38 Prozent der Frauen erkranken im Lauf ihres Lebens an Krebs – betreffen die Auswirkungen onkologischer Therapien eine immer größere gesellschaftliche Gruppe. Die Sexualität ist aber nicht nur bei Tumoren, die die Sexualorgane wie Eierstock- und Cervixkarcinom, sowie Prostata und Hodenkrebs massiv betroffen; Die maligne Erkrankung selbst sowie die Medikationen der Begleiterkrankungen haben massive Auswirkungen auch bei HNO- und Bronchus-, Kolorektalkarcinomen sowie Hochdosischemotherapien mit Transplantation bei Patienten mit Leukämien und Lymphomen, wie Univ. Prof. Richard Greil, Vorstandsmitglied der Österreichischen Akademie für Sexualmedizin und Vorstand der III. Medizinischen Universitätsklinik Salzburg, erklärt: „90 Prozent der Tumorpatienten sagen, sie würden gerne mit ihrem Arzt über sexuelle Störungen sprechen. Der Großteil der Ärzte liefert dazu aber kein Gesprächsangebot. Es ergibt sich eine massive Vereinsamung des Patienten in seiner Problematik“. Konsequenzen hat das dem Experten zufolge vor allem für die Brüchigkeit von Partnerschaften, auf die Depression von Patienten, auf das Selbst- und Rollenbild und damit auf die Motivation der gesamten Lebensführung. „Wir können riesige Defizite in der diesbezüglichen Ausbildung der Ärzte feststellen und das manifestiert sich vor allem auf Patientenseite. Das Curriculum ist daher besonders wichtig, denn es verbessert Therapie und Diagnose.“

Tipp:

Weitere Informationen zum Basismodul Sexualmedizin und zum Spezialdiplom gibt es unter: www.aerztezeitung.at – Termine

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2011