Impfen: Alarmstufe Rot ist erreicht

10.05.2011 | Politik

Österreich ist müde. Impfmüde. So zeigt etwa ein OECD-Bericht, dass Österreich bei den Masern mit einer Durchimpfungsrate von 83 Prozent an vorletzter Stelle in der EU liegt. Die WHO musste u.a. deswegen ihr Ziel, die Masern auszurotten, von 2010 auf 2015 verschieben.
Von Ruth Mayrhofer

Warum das so ist? Ein Erklärungsversuch dafür mag sein, dass Impfungen wirken und man die Krankheiten, die jahrzehnte- oder sogar Jahrhunderte lang als Schreckgespenst und Geißeln der Menschheit präsent waren, heute ganz einfach nicht mehr sieht, das „Bedrohungsszenario“ in den Köpfen der Menschen daher nicht (mehr) existiert.

„In den 1950er und sogar noch 1960er Jahren hatte ich immer wieder Kinder in meinen Klassen, deren Metallschiene am Bein und deren Krücken das Urteil ‚Kinderlähmung’ fast hinausschrien“, erinnert sich ein längst in Pension befindlicher Volksschullehrer. „Es ist gut, dass Impfungen heute viele Krankheiten verhindern können. Das muss man immer wieder sagen. Und man sollte die möglichen Folgen einer Nicht-Impfung am besten auch mit Fotos herzeigen.“

Die harten Fakten

Wie die Risiken von beispielsweise Masern, Pertussis oder Hepatitis B mental quasi weggewischt werden, zeigt am besten der OECD-Report „Health at a Glance 2010“, der auch die heimischen Impflücken penibel dokumentiert: In einem Vergleich von 31 Mitgliedstaaten liegt Österreich beim Schutz der Zweijährigen gegen Pertussis mit 83 Prozent vor Malta (72 Prozent) an vorletzter Stelle. Der EU-Durchschnitt ist dabei immerhin 95 Prozent. Spitzenreiter beim Keuchhusten-Impfschutz ist Ungarn mit 99,9 Prozent. Bei den Masern taucht Österreich mit 83 Prozent (Schutz der Zweijährigen) vor Malta (78 Prozent) ebenfalls an vorletzter Stelle auf. (Zum Vergleich: 93,7 Prozent EU-Durchschnitt, 99,9 Prozent Ungarn.) Bei der ebenso im heimischen Gratis-Impfprogramm für Kinder enthaltenen Hepatitis B-Immunisierung ist Österreich mit 83 Prozent an fünftletzter Stelle zu finden. Im OECD-Vergleich führt Polen die diesbezügliche „Hitparade“ mit 99,8 Prozent an. In der EU liegt der Durchschnitt bei 95,2 Prozent.

Viele Menschen zögern heute mehr denn je, sich oder ihre Kinder impfen zu lassen. Die lauten Stimmen der Impfgegner und deren Argumente haben durchaus Einfluss, wenn es um Impfen oder Nicht-Impfen geht. Die Unsicherheit und die Ängste vor Impf-Nebenwirkungen sind so groß, dass der unbestreitbare Nutzen von Impfungen subjektiv ins Abseits zu rutschen droht. Sozial schwache Schichten haben vielfach keinen guten Zugang zur medizinischen Versorgung oder können sich die Impfungen schlicht nicht leisten. Dazu kommt, dass manche Bevölkerungsgruppen eine Impfung aus religiösen oder philosophischen Gründen (beispielsweise Anthroposophen) ablehnen. Für spezielle Risikogruppen – etwa Krebspatienten, Autoimmunkranke, Transplantierte, Schwangere – sind manche Empfehlungen nicht ausreichend klar.

Besonders Risikogruppen, so Univ. Prof. Ursula Wiedermann-Schmidt, Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der Medizinischen Universität Wien, profitieren von einer guten Durchimpfungsrate der Bevölkerung, dem sogenannten kollektiven Impfschutz, zusätzlich zum Individualschutz. „Totimpfstoffe sind bei Tumorpatienten unbedenklich, wenn auch die schützende Immunantwort unsicherer sein kann“, erläutert Wiedermann. Besonders Immunschwache sollten möglichst gut gegen Infektionskrankheiten geschützt werden. Vorsicht ist vorwiegend bei Lebendimpfstoffen geboten. Für Schwangere seien Impfungen gegen Diphtherie, Pertussis, Tetanus, Hepatitis A und B sowie Influenza ebenfalls unbedenklich. Die Influenza-Impfung sei bei ihnen, wie bei anderen Risikogruppen, besonders wichtig, um schwere Verläufe zu verhindern. Fragen, die auf der Basis der evidenzbasierten Medizin künftig noch besser zu klären sind, sind der richtige Zeitpunkt einer Impfung im Rahmen von laufenden Therapien, der Dauer des Impfschutzes, und welche Impfstoffe (adjuvierte Impfstoffe) bevorzugt für Risikogruppen einzusetzen sind.

Impfprogramme neu überdenken

Bewusstseinsbildung in der breiten Bevölkerung scheint also das Gebot der Stunde, wenn es um einen wirksamen Impfschutz geht. Aber auch eine Modernisierung, sprich: Aktualisierung der Impfgegebenheiten in Österreich ist ein Anliegen, wie Experten im Vorfeld des Österreichischen Impftages bei einer Pressekonferenz in Wien betonten. Das 1998 von Sozialministerin Eleonore Hostasch etablierte Gratis-Kinder-Impfprogramm entspräche nicht mehr den Empfehlungen, hieß es. „Derzeit ausgenommen vom Gratis-Kinder-Impfprogramm sind Influenza, FSME, Hepatitis A, Varizellen, Meningokokken, Pneumokokken und HPV“, sagte Ursula Wiedermann-Schmidt.

Pneumokokken: Todesfälle vermeidbar

Viel Diskussion gibt es seit Jahren auch um die Pneumokokken-Impfung für Babys und Kleinkinder. Sie ist seit 2005 im österreichischen Impfplan als Empfehlung verankert. Auf Kosten der öffentlichen Hand werden – ungleich zu vielen anderen und nicht nur so genannten „reichen“ Ländern – jedoch nur definierte „Risikokinder“ geimpft. Für alle anderen Kinder müssen die Eltern selbst die Kosten dafür übernehmen, obwohl Pneumokokken-Infektionen laut WHO für den Tod von jährlich weltweit 1,6 Millionen Menschen, darunter bis zu eine Million Kinder, verantwortlich zeichnen. Diese durch die Impfung vermeidbaren Infektionen können durch ihre Folgen – Lungenentzündung, Hirnhautentzündung, Blutvergiftung – dramatisch verlaufen und Langzeitfolgen nach sich ziehen. So sind beispielsweise von 2001 bis 2007 in Österreich sieben Kinder an einer invasiven Pneumokokken-Infektion verstorben*.

Masern: Österreich fast Schlusslicht

Die Wiener Virologin Univ. Prof. Heidemarie Holzmann unterstreicht die Gefährlichkeit der Masern: „Das ist eine gefährliche Infektionskrankheit; die Komplikationsrate liegt bei 20 Prozent!“ Dabei treten Mittelohr- und Lungenentzündungen häufig auf. Außerdem gibt es mit der „normalen“ Masernenzephalitis, bei der die Sterblichkeit 30 Prozent beträgt, und der langsam zum Tod führenden subakuten Enzephalitis schwerste Folgeerkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO musste wegen Staaten, die mit dem Imfpschutz nachhinken – dazu zählen Österreich, Deutschland, Frankreich und Italien – das Ziel der Masern-Ausrottung von zunächst 2010 auf 2015 verschieben. Holzmann: „Österreich steht in Europa an sechster Stelle mit einer Masern-Häufigkeit von 9,5 Fällen pro einer Million Einwohnern.“ Der Expertin zufolge seien wegen der hohen Ansteckungsgefahr eine 95prozentige Durchimpfungsrate mit der ersten Impfung (Masern-Mumps-Röteln) bei Babys sowie eine mindestens 90prozentige Teilnahme an der zweiten vorgesehenen Impfung erforderlich, um die Virus-Zirkulation in der Bevölkerung zu verhindern.

Breite Bewusstseinsbildung tut not

Vielerorts werden – und das schon seit geraumer Zeit – Stimmen laut, die vehement eine intensive Aufklärung der Bevölkerung über den Wert und Nutzen von Impfungen fordern. Wilhelm Sedlak, Impfreferent der Österreichischen Ärztekammer, könnte sich in diesem Zusammenhang eine „aggressive Impfkampagne, die jedoch von einer neutralen Seite kommen muss“ vorstellen. Genauso möchte er insbesondere die Publikumsmedien in die Pflicht nehmen und sie zu einer breiten, objektiven Berichterstattung zum Thema Impfen einladen. Aber auch den Ärzten empfiehlt er mehr Hellhörigkeit: „Wenn ein Patient sich vom Arzt mit den Worten ‚Bis bald, Herr Doktor, wir sehen einander nach meinem Urlaub wieder‘ verabschiedet, dann sollte der Arzt sich kurz Zeit nehmen und hinterfragen, wohin es seinen Patienten denn verschlägt.“ Denn durch diese einfache Frage wäre es auch ein Leichtes, zum Beispiel bei Reisen in tropische Länder den entsprechenden Impfschutz abzuklären.

* Rendi-Wagner P. et al., Vaccine 2009

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2011