Gesund­heits­kom­pe­tenz: Soziale Determinante

10.11.2011 | Politik

Die Gesund­heits­kom­pe­tenz beein­flusst nicht nur das Krank­heits­ver­hal­ten, son­dern auch den Erfolg und die Kos­ten der Kran­ken­be­hand­lung – und ist laut inter­na­tio­na­len Stu­dien eine soziale Gesund­heits-Deter­mi­nante. Erste Stu­di­en­ergeb­nisse zur Gesund­heits­kom­pe­tenz in Öster­reich wur­den kürz­lich in Wien prä­sen­tiert.
Von Marion Huber

Tag­täg­lich müs­sen Pati­en­ten Ent­schei­dun­gen in Bezug auf ihre Gesund­heit tref­fen. Dazu bedarf es einer aus­ge­präg­ten Gesund­heits­kom­pe­tenz – näm­lich der Fähig­keit, Gesund­heits­in­for­ma­tio­nen zu fin­den, zu ver­ste­hen, zu beur­tei­len und anzu­wen­den. Von wel­chen Para­me­tern hängt die Gesund­heits­kom­pe­tenz ab? Wie wirkt sie sich auf den Zugang zum Gesund­heits­sys­tem aus? Diese Fra­gen wur­den bei der Ver­an­stal­tung „Health Liter­acy – Her­aus­for­de­rung Gesund­heits­kom­pe­tenz“ dis­ku­tiert, zu der die Karl-Land­stei­ner-Gesell­schaft zusam­men mit dem Lud­wig-Boltz­mann-Insti­tut für Health Pro­mo­tion Rese­arch Ende Okto­ber ein­ge­la­den hatte.

In einer kom­ple­xen, dyna­mi­schen Gesell­schaft stei­gen die Erwar­tun­gen an per­sön­li­che Fähig­kei­ten: Jeder über­nimmt Rol­len und Auf­ga­ben, die immer mehr Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ma­nage­ment erfor­dern. Nimmt man daran nur man­gel­haft teil, wirkt sich das auf die Lebens­chan­cen, die Lebens­qua­li­tät und die Lebens­er­war­tung aus. So wur­den die per­sön­li­chen Kom­pe­ten­zen und somit auch die Gesund­heits­kom­pe­tenz zu einem Gegen­stand der Wis­sen­schaft, wie Univ. Prof. Jür­gen M. Peli­kan vom Lud­wig-Boltz­mann-Insti­tut für Health Pro­mo­tion Rese­arch erklärte. Die Euro­pean Health Liter­acy Sur­vey (HLS-EU-Stu­die), die unter der Lei­tung der Uni­ver­si­tät Maas­tricht (Nie­der­lande) durch­ge­führt wurde, hat in acht EU-Mit­glied­staa­ten Daten zur Gesund­heits­kom­pe­tenz in Bezug auf Krank­heits­be­wäl­ti­gung, Krank­heits­prä­ven­tion und Gesund­heits­för­de­rung erho­ben und die Ergeb­nisse ver­gli­chen. Dazu wur­den pro Mit­glied­staat 1.000 über 15-jäh­rige EU-Bür­ger mit­tels Fra­ge­bo­gen zur Selbst­ein­schät­zung ihrer Fähig­kei­ten befragt.

Bis­her lie­gen nur Aus­wer­tun­gen für die Gesund­heits­kom­pe­tenz bei der Krank­heits­be­wäl­ti­gung vor – mit zum Teil über­ra­schen­den Ergeb­nis­sen. So ergab die Befra­gung etwa, dass die Gesund­heits­kom­pe­tenz inner­halb und zwi­schen ver­schie­de­nen Popu­la­tio­nen beträcht­lich vari­iert. So schnei­det Öster­reich etwa im Ver­gleich zu den teil­neh­men­den EU-Mit­glied­staa­ten schlecht ab; und auch inner­halb Öster­reichs ran­gie­ren die öst­li­chen Bun­des­län­der meist deut­lich hin­ter den west­li­chen.

Vul­nerable Gruppen

Außer­dem kor­re­liert die Gesund­heits­kom­pe­tenz auch mit ande­ren Fak­to­ren. Wäh­rend etwa das Geschlecht kei­nen Ein­fluss auf die Gesund­heits­kom­pe­tenz zu haben scheint, ist das Alter sehr wohl ent­schei­dend: „Je älter die Pati­en­ten waren, desto schwie­ri­ger wurde es emp­fun­den, Infor­ma­tio­nen zu fin­den, zu ver­ste­hen, zu bewer­ten oder anzu­wen­den – was somit bei Älte­ren eine gerin­gere Gesund­heits­kom­pe­tenz ergibt“, schil­derte Peli­kan den Zusam­men­hang. Auch die Bil­dungs­schicht hat eine signi­fi­kante Aus­wir­kung auf die Gesund­heits­kom­pe­tenz der Pati­en­ten. Hier gilt: Je gerin­ger die Bil­dung, desto gerin­ger ist auch die Gesundheitskompetenz.

Ein Ergeb­nis, das Podi­ums­teil­neh­mer und Publi­kum erstaunte: Je mehr Kon­takt die Pati­en­ten mit dem Sys­tem haben – je öfter sie Not­fall­dienste oder ärzt­li­che Hilfe in Anspruch neh­men –, desto mehr Schwie­rig­kei­ten haben sie über­ra­schen­der­weise bei der Infor­ma­ti­ons­su­che und Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung und desto gerin­ger ist daher ihre Gesund­heits­kom­pe­tenz, erklärte Peli­kan. Dar­aus könne man beim gegen­wär­ti­gen Stand der Ana­ly­sen zumin­dest fol­gern, dass das Kran­ken­be­hand­lungs-Sys­tem nicht nur mit Per­so­nen zu tun hat, die krän­ker sind, son­dern auch mit Per­so­nen, die ihre Gesund­heits­kom­pe­tenz gerin­ger ein­schät­zen. So war es für ganze 50 Pro­zent der Pati­en­ten, die in den letz­ten zwölf Mona­ten sechs Mal oder öfter einen Arzt auf­ge­sucht hat­ten, „schwie­rig“, den Bei­pack­zet­tel ihrer Medi­ka­mente zu ver­ste­hen. Bei Pati­en­ten mit einem ins­ge­samt schlech­ten Gesund­heits­zu­stand waren es sogar mehr als 50 Pro­zent. „Die Tat­sa­che, dass sich diese Schwie­rig­kei­ten in allen Alters­klas­sen zei­gen, bestä­tigt, dass das nicht nur am höhe­ren Alter der Pati­en­ten lie­gen kann“, betonte er.

Skep­sis dies­be­züg­lich äußerte der nie­der­ös­ter­rei­chi­sche Pati­en­ten­an­walt, Gerald Bachin­ger: „Davon bin ich nicht über­zeugt. Ich glaube nach wie vor, dass chro­nisch Kranke, die sehr viel mit dem Sys­tem zu tun haben, auch sehr viel mehr dar­über wis­sen.“ Auch Georg Ziniel von der Gesund­heit Öster­reich GmbH bezwei­felte die­sen Zusam­men­hang: „Dass die­ser Per­so­nen­kreis Schwie­rig­kei­ten hat, heißt nicht, dass die Kom­pe­tenz gerin­ger ist. Je öfter ein Pati­ent krank ist, desto mehr Erfah­run­gen hat er mit dem Sys­tem, desto höher der Kom­ple­xi­täts­grad und daher auch umso grö­ßer die Schwie­rig­kei­ten.“ Hin­ge­gen hat ein Pati­ent, der mit einer Akut­ver­let­zung zum Arzt geht und ein­mal eine erfolg­rei­che The­ra­pie bekommt, natür­lich deut­li­cher weni­ger Pro­bleme, so Ziniel.

Wäh­rend über die Gesund­heits­kom­pe­tenz von chro­nisch Kran­ken kon­tro­ver­si­ell dis­ku­tiert wurde, war man sich einig dar­über, dass die Gesund­heits­kom­pe­tenz ins­ge­samt sehr wohl ver­bes­se­rungs­wür­dig ist. So die­nen die Erkennt­nisse der Stu­die dazu, vul­nerable Grup­pen zu iden­ti­fi­zie­ren – was wie­derum dazu führt, dass ziel­ge­rich­tete Maß­nah­men ein­ge­lei­tet wer­den kön­nen, um diese Defi­zite zu kom­pen­sie­ren. Denn die Gesund­heits­kom­pe­tenz wirkt sich – wie Stu­dien in den USA, Kanada und Aus­tra­lien gezeigt haben – nicht nur auf das Krank­heits­ver­hal­ten aus, son­dern beein­flusst auch den Erfolg und die Kos­ten der Kran­ken­be­hand­lung. Damit ist sie eine „soziale Deter­mi­nante“, die mit Maß­nah­men der Gesund­heits­för­de­rung beein­flusst wer­den kann, so Pelikan.

Kom­pe­tenz und Motivation

Da es sich dabei grund­sätz­lich um ein rela­tio­na­les Kon­zept han­delt, das die Anfor­de­run­gen des Sys­tems den per­sön­li­chen Kom­pe­ten­zen gegen­über­stellt, kann sowohl beim Sys­tem als auch bei der per­sön­li­chen Kom­pe­tenz ange­setzt und inter­ve­niert wer­den. Bachin­ger brachte dabei sowohl die Rah­men­be­din­gun­gen als auch die Eigen­ver­ant­wor­tung des Pati­en­ten ins Spiel: „Man soll hier nicht das eine gegen das andere aus­spie­len, bei­des ist glei­cher­ma­ßen wich­tig. Das sind kom­mu­ni­zie­rende Gefäße.“ Ziel wäre es somit, die Kom­pe­tenz der Nut­zer und die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kom­pe­tenz der Gesund­heits­exper­ten zu ver­bes­sern sowie die Anfor­de­run­gen des Sys­tems zu redu­zie­ren. Infor­ma­tio­nen müs­sen leich­ter zugäng­lich gemacht und Pati­en­ten gezielt in das Sys­tem ein­be­zo­gen wer­den, wie Peli­kan erklärte: „Pati­en­ten sind Exper­ten für die Stär­ken und Schwä­chen des Sys­tems. Mehr Par­ti­zi­pa­tion und Trans­pa­renz sind des­halb gefragt.“ Die­sem Ansatz stimm­ten auch Ziniel und Bachin­ger zu und for­der­ten eine stär­kere Mit­be­tei­li­gung der Pati­en­ten.

Univ. Prof. Bern­hard Schwarz, Prä­si­dent der Karl-Land­stei­ner-Gesell­schaft, ver­wies auf die Moti­va­tion des Pati­en­ten, denn Wis­sen allein wäre sicher­lich zu wenig: „Was nützt das beste Wis­sen, wenn man nicht bereit ist, es anzu­wen­den?“ Richard Gauss von der Geschäfts­gruppe Gesund­heit und Sozia­les der Stadt Wien ver­trat in die­sem Zusam­men­hang auch die Hypo­these, dass viele Pati­en­ten zwar sehr wohl über das nötige Wis­sen ver­fü­gen, jedoch oft nicht danach han­deln wür­den – Stich­wort: Lebens­stil-Krank­hei­ten – „Sind wir sicher, dass alle Pati­en­ten wirk­lich kom­pe­tent sein wollen?“

Ziniel brachte einen ande­ren Aspekt in die Dis­kus­sion ein: Stellt man die Gesund­heits­kom­pe­tenz der Pati­en­ten in Frage, müsse man auch dis­ku­tie­ren, ob die Akteure und Ent­schei­dungs­trä­ger in der Gesund­heits­po­li­tik aus­rei­chend Gesund­heits­kom­pe­tenz haben, um infor­mierte und kom­pe­tente Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. „Den Anspruch der Gesund­heits­kom­pe­tenz stelle ich auch an Ent­schei­dungs­trä­ger. Ob in allen betrof­fe­nen Insti­tu­tio­nen aus­rei­chend Kom­pe­tenz vor­liegt – ich bin nicht sicher“, wie er erklärte. Auch für Gauss ist die Gesund­heits­kom­pe­tenz eine „unter­schätzte Dimen­sion in der Gesund­heits­po­li­tik“. Beson­ders in Zei­ten von knap­pen Bud­gets und Ein­spa­run­gen könnte das Wis­sen um die Gesund­heits­kom­pe­tenz und vor­han­dene Defi­zite eine Quelle von gesund­heits­po­li­ti­schen Erkennt­nis­sen sein. So könne man erken­nen, wo man die weni­gen finan­zi­el­len Mit­tel mit maxi­ma­lem Nut­zen für die Pati­en­ten ein­set­zen kann, kon­sta­tierte Bachin­ger.

Tipp:

Euro­pean Health Liter­acy Sur­vey
http://inthealth.eu/research/health-literacy-hls-eu

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 21 /​10.11.2011