ELGA: Nur ein IT-Förderungsprojekt?

10.05.2011 | Politik

Bei kor­rek­ter Ein­hal­tung der Daten­schutz­re­ge­lun­gen wird ELGA kei­nen gro­ßen medi­zi­ni­schen Zusatz­nut­zen brin­gen. Aus die­sem und vie­len ande­ren Grün­den ist ELGA mit dem behaup­te­ten Zusatz­nut­zen nicht umsetz­bar – übrig bleibt ein IT-För­de­rungs­pro­gramm. Die ÖÄK hat einen Alter­na­tiv­vor­schlag für eine sinn­volle Vor­gangs­weise.
Von Lukas Stärker*

Bei der elek­tro­ni­schen Gesund­heits­akte ELGA gibt es zwei Neue­run­gen: Zum einen ist mit April 2011 der Start für das Pilot­pro­jekt e‑Medikation erfolgt. Zum ande­ren wurde ein Ent­wurf eines ELGA-Geset­zes vom Gesund­heits­mi­nis­te­rium erar­bei­tet – und nicht im Kon­sens mit der ÖÄK – und in Begut­ach­tung geschickt. Die­ser Ent­wurf berück­sich­tigt jedoch die von der ÖÄK bereits im Vor­feld depo­nier­ten Ver­bes­se­rungs­punkte nicht! Statt­des­sen ist die Liste der unge­klär­ten Fra­gen immer län­ger und damit die Zwei­fel an der Sinn­haf­tig­keit immer grö­ßer geworden.

Die wich­tigs­ten Kri­tik­punkte der ÖÄK an ELGA lau­ten folgendermaßen:

  1. Es besteht keine Dring­lich­keit, gerade jetzt im Eil­ver­fah­ren das ELGA-Gesetz zu beschlie­ßen. Viel bes­ser wäre es, die Ergeb­nisse und Erfah­run­gen des Pro­jek­tes e‑Medikation abzu­war­ten, bevor der Ent­wurf des ELGA-Geset­zes fer­tig gestellt und beschlos­sen wird.
  2. Der Ent­wurf ent­hält in wesent­li­chen Punk­ten „Blanko-Ver­ord­nungs­er­mäch­ti­gun­gen“ zuguns­ten des Gesund­heits­mi­nis­ters ohne wei­tere gesetz­li­che Fest­le­gun­gen (Berech­ti­gungs­re­gel­werk, Beginn etc.). Die wich­ti­gen Eck­punkte müs­sen aber im Gesetz geklärt und nicht – noch dazu unde­ter­mi­niert – auf Ver­ord­nun­gen „abge­wälzt“ werden!
  3. Die Punkte Voll­stän­dig­keit der ELGA und Daten­schutz ver­hal­ten sich zuein­an­der wie kom­mu­ni­zie­rende Gefäße, d.h. je mehr vom einen, umso weni­ger vom ande­ren. Daher wird es bei Ein­hal­tung der Daten­schutz­re­ge­lun­gen auf­grund der dies­falls sys­tem­im­ma­nen­ten Lücken zu kei­nem gro­ßen medi­zi­ni­schen Zusatz­nut­zen kom­men. Auch die Wech­sel­wir­kungs­pro­ble­ma­tik wird durch die Aus­blen­dungs­mög­lich­keit sei­tens der Pati­en­ten – vor allem bei „unan­ge­neh­mer Medi­ka­tion“ – ad absur­dum geführt. Gerade die­ser Zusatz­nut­zen wird aber von den ELGA-Pro­po­nen­ten immer wie­der als Begrün­dung für das ELGA-Pro­jekt behaup­tet. Er ist aber bis­her – weder mit, noch ohne Berück­sich­ti­gung des Daten­schut­zes – noch nie bewie­sen wor­den. Daher ist das ELGA-Pro­jekt in der geplan­ten Form und mit dem behaup­te­ten Zusatz­nut­zen nicht umsetz­bar – übrig bleibt ein IT-Förderungsprogramm.
  4. Nach wie vor ist – obwohl dies von der ÖÄK seit Jah­ren ein­ge­for­dert wird – die Mittelaufbringung/​Kostentragung für das Pro­jekt ELGA völ­lig offen. Dies muss aber ver­bind­lich und vorab geklärt wer­den. Nicht ein­mal zur Fest­stel­lung, dass Ärzte nicht mit Zusatz­kos­ten belas­tet wer­den dür­fen, war man bis­her bereit.
  5. Das Ärz­teG ver­pflich­tet den Arzt, nur lege artis Medi­zin aus­zu­üben. Daher ist eine gesetz­li­che Ver­wen­dungs­pflicht von ELGA – wie im Ent­wurf ent­hal­ten – sys­tem­wid­rig und nicht not­wen­dig. Es muss daher klar­ge­stellt wer­den, dass es für die Ärzte keine Ver­wen­dungs­pflicht von ELGA gibt. Es obliegt dem Arzt, zu ent­schei­den, auf wel­che Art er die lege artis Medi­zin und die dazu­ge­hö­rige Doku­men­ta­tion betreibt. Die Teil­nahme der Ärz­tin­nen und Ärzte kann somit nur frei­wil­lig erfolgen.
  6. Der Ent­wurf ermög­licht es den Pati­en­ten, sämt­li­che ent­hal­te­nen Infor­ma­tio­nen nach Gut­dün­ken lau­fend aus- und ein­zu­blen­den. Ärzte kön­nen nicht erken­nen, ob Infor­ma­tio­nen aus­ge­blen­det wur­den oder nicht. Muss daher jeder behan­delnde Arzt sei­nen Pati­en­ten zuerst fra­gen, ob die­ser „Aus­blen­dun­gen“ vor­ge­nom­men hat (ver­gleich­bar mit dem Sta­tus quo, wo auch nicht alle Pati­en­ten­in­for­ma­tio­nen auto­ma­tisch vor­lie­gen)? Oder kann der Arzt auto­ma­tisch davon aus­ge­hen, dass die für ihn sicht­ba­ren Infor­ma­tio­nen seine Behand­lungs­grund­lage sind und er nur diese zu beach­ten hat? Oder muss der Pati­ent den Arzt dar­auf hin­wei­sen, dass er bestimmte „Aus­blen­dun­gen“ vor­ge­nom­men hat? Um Haf­tungs­fol­gen aus­zu­schlie­ßen muss ex lege klar­ge­stellt wer­den, dass „aus­ge­blen­dete“ Doku­mente für den Arzt keine Rele­vanz haben, außer der Pati­ent weist ihn dar­auf hin. Dies ist eine Bring­schuld des Pati­en­ten und muss im Gesetz aus­drück­lich so nor­miert werden.
  7. Die Nut­zung von ELGA muss ein­fach und schnell mög­lich sein. Ärzte bezie­hungs­weise deren Ordi­na­ti­ons­per­so­nal dür­fen nicht mit einem zusätz­li­chen admi­nis­tra­ti­ven Auf­wand belas­tet wer­den, siehe hier ins­be­son­dere die Infor­ma­ti­ons­pflicht, die einen mas­si­ven Mehr­auf­wand für Ärzte befürch­ten lässt. Die ELGA-Infor­ma­ti­ons­pflicht sowie auch die ELGA-„Datenwartung“ nach Pati­en­ten­wunsch muss rich­ti­ger­weise durch die ELGA-Sys­tem­part­ner erfolgen.
  8. ELGA ist ein öffent­li­ches Infra­struk­tur­pro­jekt, daher müs­sen kon­se­quen­ter­weise auch sämt­li­che Kos­ten (ins­be­son­dere EDV-Hard- und Soft­ware, zusätz­li­cher admi­nis­tra­ti­ver Auf­wand, sons­ti­ger Mehr­auf­wand, Per­so­nal­kos­ten) von der öffent­li­chen Hand getra­gen wer­den, und nicht von den Ärz­tin­nen und Ärz­ten oder den Ärz­te­kam­mern (in ihrer Funk­tion als Regis­trie­rungs­stel­len bezie­hungs­weise bei der Befül­lung des eHe­alth-Ver­zeich­nis­diens­tes [eHVD] – siehe §§ 9, 10). Der vor­lie­gende Ent­wurf bringt den Ärz­te­kam­mern (und damit in wei­te­rer Folge den Ärz­tin­nen und Ärz­ten) auf­grund der Pflicht zur Befül­lung des eHe­alth-Ver­zeich­nis­diens­tes einen mas­si­ven Mehr­auf­wand in den Berei­chen EDV und Per­so­nal. Die Kos­ten hier­für sind von den ELGA-Sys­tem­part­nern Bund, Län­der und Sozi­al­ver­si­che­rung auf­zu­brin­gen. Dies muss gesetz­lich klar­ge­stellt werden.
  9. Die ELGA-GmbH bezie­hungs­weise die ELGA-Sys­tem­part­ner müs­sen Ärz­tin­nen und Ärz­ten kos­ten­los Spei­cher­platz zur Ver­fü­gung stel­len. Eine der­ar­tige Rege­lung fehlt im Entwurf.
  10. Der Ent­wurf sieht zum Bei­spiel in § 19 Abs. 3 eine Opt-in-Rege­lung hin­sicht­lich beson­ders sen­si­bler Daten vor, wie zum Bei­spiel HIV, psych­ia­tri­sche Erkran­kun­gen etc. Dem Ent­wurf fehlt jedoch eine Klar­stel­lung, wann man vom Vor­lie­gen einer psych­ia­tri­schen Erkran­kung spre­chen kann. Hier zeigt sich klar die Schwä­che eines Sys­tems der unge­rich­te­ten Kom­mu­ni­ka­tion, denn gerade im HIV-Bereich und im Bereich der psych­ia­tri­schen Erkran­kun­gen wird dies pro futuro zu unvoll­stän­di­gen „geschön­ten“ Arzt­brie­fen bezie­hungs­weise Befun­den füh­ren. Dies pro­vo­ziert nega­tive Fol­ge­wir­kun­gen, da die ärzt­li­chen Infor­ma­tio­nen der­zeit voll­stän­dig sind. Wei­ters fehlt eine klare Rege­lung für den Fall, dass im Zuge ein- und der­sel­ben Behand­lung meh­rere Dia­gno­sen gestellt wer­den und der Pati­ent bei­spiels­weise eine Dia­gnose aus­ge­blen­det haben möchte. Dies führt dazu, dass der Arzt zwei Doku­men­ta­tio­nen ver­fas­sen müsste: eine voll­stän­dige für seine Behand­lung und eine „geschönte“ für ELGA. Das führt zu miss­ver­ständ­li­chen Doku­men­ta­tio­nen, die in der Wei­ter­be­hand­lung für den Pati­en­ten gefähr­lich wer­den können.
  11. Die Mög­lich­kei­ten der unge­rich­te­ten Kom­mu­ni­ka­tion rela­ti­vie­ren die ärzt­li­che Ver­schwie­gen­heits­pflicht, da sen­si­ble Daten in ELGA ein­seh­bar sind.
  12. ELGA passt nicht mit den Kran­ken­an­stal­ten­ge­set­zen zusam­men, da in den Ent­las­sungs­brie­fen alle Dia­gno­sen voll­stän­dig, u.a. auch psy­chi­sche Erkran­kun­gen, anzu­füh­ren sind. Diese kön­nen und dür­fen nicht geson­dert aus den Ent­las­sungs­be­fun­den oder sons­ti­gen Doku­men­ta­tio­nen gestri­chen wer­den. Es darf keine unvoll­stän­di­gen oder „geschön­ten“ Ent­las­sungs­do­ku­mente geben!
  13. Sys­tem­wid­rig am Ent­wurf ist wei­ters, dass es zwar hin­sicht­lich psy­chi­scher Erkran­kun­gen eine Opt-in-Rege­lung gibt, nicht aber hin­sicht­lich psych­ia­tri­scher Medi­ka­tio­nen, denn da gilt die Opt-out-Rege­lung. Unklar ist wei­ters, ab wann von einer psych­ia­tri­schen Erkran­kung zu spre­chen ist.
  14. Es fehlt eine Rege­lung für die Berich­ti­gung feh­ler­haf­ter und unvoll­stän­di­ger Befunde oder Pati­en­ten­ver­wechs­lun­gen, „Zah­len­stürze“ etc. 
  15. CDA-Level 3 muss das Min­dest­ni­veau von ELGA-Doku­men­ten sein. Diese Doku­men­ten­struk­tur ermög­licht ein Suchen nach Infor­ma­tio­nen durch Doku­mente durch (bei Labor­be­fun­den daher Suche nach kon­kre­ten Para­me­tern). Dies fehlt im Entwurf.
  16. Im Gesetz fehlt ein ver­bind­li­ches Berech­ti­gungs­re­gel­werk, das fest­legt, wer wann wor­auf zugrei­fen darf. Die im Ent­wurf ent­hal­tene bloße Ver­ord­nungs­er­mäch­ti­gung ist man­gels Deter­mi­nie­rung ver­fass­sungs­recht­lich pro­ble­ma­tisch! Ins­be­son­dere nicht-ärzt­li­chen Berufs­grup­pen wur­den hier zu viele Mög­lich­kei­ten zuge­stan­den; dies muss ein­ge­schränkt werden.
  17. Das fak­ti­sche Kön­nen soll in der ELGA nur so weit rei­chen, wie das Dür­fen. Zugriffe auf ELGA soll­ten daher nur mit gesteck­ter E‑Card und bei Anwe­sen­heit des Pati­en­ten mög­lich sein. Ins­be­son­dere für Wahl­ärzte und Son­der­fälle (bewusst­lose Pati­en­ten zum Bei­spiel) muss es Son­der­re­ge­lun­gen (ana­log Haus­be­su­chen) geben. Ohne das Ste­cken der E‑Card sollte jedoch das Hin­ein­stel­len von ELGA-Doku­men­ten mög­lich sein, sofern die vor­he­rige Zustim­mung des Pati­en­ten vorliegt.
  18. Im Pro­to­kol­lie­rungs­sys­tem und bei der Rege­lung über die Spei­che­rung von Gesund­heits­da­ten (§ 21 bzw. in § 19) gehört u.a. hin­sicht­lich der Spei­cher­dauer und der Ein­sichts­mög­lich­keit von Ärz­ten nach­ge­schärft. Der mit der dies­be­züg­li­chen Infor­ma­tion der Pati­en­ten ver­bun­dene Mehr­auf­wand ist nicht von den Ärz­ten, son­dern von den ELGA-Sys­tem­part­nern zu tragen.
  19. ELGA pro­vo­ziert eine Viel­zahl von zusätz­li­chen Fra­gen in punkto Auf­klä­rung und Infor­ma­tion gegen­über dem Pati­en­ten, mit teil­weise nicht abschätz­ba­rem Haf­tungs­ri­siko. Ist der Arzt etwa ver­pflich­tet, den Pati­en­ten dar­über zu infor­mie­ren, dass sich in ELGA für den Pati­en­ten nicht vor­teil­hafte Infor­ma­tio­nen befin­den? Dies ins­be­son­dere in Zusam­men­hang mit der Opt-in-Rege­lung für „sen­si­ble“ Infor­ma­tio­nen. Der Ent­wurf lässt auch dies offen.
  20. Die Straf­be­stim­mun­gen sind unklar for­mu­liert (siehe § 24, §§ 118b, 118c StGB). Dies betrifft sowohl die Abgren­zung zwi­schen Ver­wal­tungs­stra­fen und gericht­li­chen Stra­fen als auch die ver­wen­dete Ter­mi­no­lo­gie. So wer­den etwa die Worte „ver­wen­det“ bezie­hungs­weise „ver­wen­den“ unklar bezie­hungs­weise mehr­deu­tig gebraucht. Ist „Ver­wen­den“ bereits die Ein­sicht­nahme? Wenn nicht, was ist der Unter­schied zwi­schen der Ver­wen­dung ohne Berech­ti­gung iSd § 24 Abs. 3 und der miss­bräuch­li­chen Ver­wen­dung iSd § 118c? Ist nicht jede Ver­wen­dung ohne Berech­ti­gung gesetz­wid­rig und damit missbräuchlich?

Anstelle des vom BMG aus­ge­ar­bei­te­ten ELGA-G-Ent­wurfs sollte – auf­bau­end auf bereits bestehen­den IT-Struk­tu­ren – fol­gende, alter­na­tive Vor­gangs­weise gewählt wer­den: Bei der Ent­wick­lung der ELGA sollte ein­ver­nehm­lich und stu­fen­weise – unter Ein­bin­dung aller wich­ti­gen Akteure (zum Bei­spiel Ärzte, Kran­ken­häu­ser) – vor­ge­gan­gen wer­den. Ins­be­son­dere sind Kos­ten­um­fang und Kos­ten­tra­gung jeweils vor Beginn der nächs­ten Stufe zu klä­ren und trans­pa­rent zu machen. Unter Kos­ten sind sowohl tech­ni­sche als auch admi­nis­tra­tive Kos­ten zu ver­ste­hen. Jeder wei­tere Schritt sollte in bestimm­ten Berei­chen (siehe E‑Medikation) vor der bun­des­wei­ten Aus­rol­lung getes­tet werden.

Basis für eine funk­ti­ons­tüch­tige ELGA ist die vor­her­ge­hende kon­sen­su­elle Klä­rung der noch offe­nen Fra­gen Nut­zen, Kos­ten, Ver­ant­wort­lich­keit und Haf­tung sowie Daten­schutz. Diese Punkte müs­sen dann gesetz­lich fixiert wer­den. Der Ent­wurf ent­hält weder klare Lösun­gen noch einen Kon­sens. Nach­bes­se­run­gen bezie­hungs­weise sub­stan­ti­elle Ver­hand­lun­gen wer­den fol­gen müs­sen. Eine Gesetz­wer­dung kann sinn­vol­ler­weise daher erst nach Klä­rung die­ser Punkte erfolgen.

*) Dr. Lukas Stär­ker ist Jurist und stell­ver­tre­ten­der Kam­mer­amts­di­rek­tor der ÖÄK

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2011