Elektronische Gesundheitsakte: Wer braucht ELGA?

25.11.2011 | Politik

Der Vorstand der ÖÄK lehnt den aktuellen Gesetzesentwurf zu ELGA ab. Als Gründe dafür werden massive organisatorische, technische und rechtliche Mängel angeführt. Ähnliche Großprojekte in Deutschland oder Großbritannien etwa wurden wegen der zu erwartenden exorbitanten Kosten bei fraglichem Nutzen gestoppt.
Von Agnes M. Mühlgassner

Die Alternativen für ELGA gibt es schon, wie ÖÄK-Präsident Walter Dorner im Vorstand der Österreichischen Ärztekammer, der Ende November tagte, betonte. „Es gibt etwas Anderes als ein zentrales Register. Hier gibt es schon viel neuere Technologien, wie etwa einen USB-Stick, auf dem man eine komplette Patientenakte speichern kann, inklusive Bildbefunde.“ Dieser kürzlich auf der Medica, der internationalen Fachmesse für Medizintechnik, präsentierte Stick verfügt überdies über eine eigene Software, die ihn unabhängig macht. Der Stick kann an jeden Computer angeschlossen werden; Sprachmodule ermöglichen es, dass die Daten auch im Ausland gelesen werden können. Alle Funktionen sind nur nach Eingabe eines Passworts – also immer nur mit Zustimmung des Patienten – einsehbar. Gleichzeitig gibt es einen Bereich für Notfalldaten; dieser kann über einen herkömmlichen USB-Anschluss frei ausgelesen werden und die Daten sind somit jederzeit verfügbar. „Da der Stick in der Hand des Patienten bleibt, ist der Patient somit wirklich ‚Herr seiner Daten’“, unterstrich Dorner.

Gesundheitsminister Alois Stöger indessen hält an der elektronischen Gesundheitsakte fest. Im Nationalrat Mitte November – nachdem er ELGA nicht in den Ministerrat eingebracht hatte – gab es eine heftige Auseinandersetzung. In der Budgetdebatte zum Kapitel Gesundheit erklärte er, dass mit ELGA die Qualität in der medizinischen Versorgung massiv ausgebaut werden könnte; außerdem werde es „höchsten Datenschutz“ geben. Zum Schlagabtausch kam es, als der SP-Abgeordnete Johann Maier dem ELGA-Kritiker Martin Strutz (F) vorhielt, als Lobbyist des deutschen IT-Dienstleisters Vepro tätig zu sein. Im Gegenzug warf Strutz Maier vor, mit dem Datenschutzrat eine äußerst kritische Stellungnahme angegeben zu haben, nun aber Stöger die Mauer zu machen. Strutz sprach von massiven Interventionen und Sponsorings von Siemens im Gesundheitsressort und vermutete Ministeriums-interne Pläne zur Umgehung von Ausschreibungen. Strutz weiter: „Das Projekt ELGA ist der größte finanzielle, organisatorische und politische Skandal, der im Gesundheitsministerium stattfindet.“ Wolfgang Spadiut (BZÖ) warnte vor einem aufgeblasenen System ohne Sicherheit; Karl Öllinger von den Grünen wiederum kritisierte, dass Stöger seinen überarbeiteten Gesetzesentwurf noch nicht offengelegt hat.

Der Gesundheitssprecher der ÖVP, Erwin Rasinger, vergleicht die Vorgangsweise des Ministers bei einem Hintergrundgespräch mit Journalisten gar mit einer „Husch-Pfusch-Aktion“. Der vorliegende Entwurf, von dem „keine einzige Zeile mit der ÖVP verhandelt wurde“, sei noch schlechter als der Erst-Entwurf. Und weiter: „Stöger kommt an mir nicht vorbei. Er wird mit dem Gesundheitssprecher der ÖVP reden müssen.“ In der jetzt vorliegenden Form gebe es von ihm, Rasinger, keine Zustimmung für den Gesetzes-Entwurf. Überdies verlangt er von Stöger eine Entschuldigung; hatte dieser doch gemeint, der Widerstand der Ärzte liege daran, dass sie an der Doppelbefundung verdienen wollen – in den Augen von Rasinger eine „unglaubliche Entgleisung“.

Neben der Technik erweist sich jedoch auch der finanzielle Aspekt von elektronischen Gesundheitsakten als einer der gewaltigsten Prüfsteine – siehe Deutschland, wo man das Projekt der elektronischen Gesundheitsakte gestoppt hat. Das aktuellste Beispiel für eine Rückzieher kommt aus Großbritannien: Hier hat das Gesundheitsministerium im Oktober 2002 ein Programm zum Aufbau eines einzigen, zentral geplanten und gesteuerten, elektronischen Patienten-/Krankenaktensystems initiiert. Eine eigens geschaffene Agentur sollte die 30.000 Allgemeinmediziner in Großbritannien mit den 300 Spitälern des Landes zum Austausch von elektronischen Patientenakten vernetzen. Geplant war, dass der Patient über das Internet auf seine Krankenakte zugreifen hätte können. Das Gesamtsystem insgesamt wurde als das „weltweit größte (Bürger-)Informationstechnologie-Programm“ bezeichnet.

Im September 2011 – also neun Jahre nach dem Start – erklärte die Politik das Projekt für gescheitert.
Die wichtigsten Gründe:

  • Die Kosten: Waren anfangs rund 2,3 Milliarden Pfund budgetiert, lagen 2011 die Kostenschätzungen zwischen 16 und 20 Milliarden Pfund – was einer Kostensteigerung von knapp 770 Prozent entspricht. Die endgültigen Kosten sind bis jetzt nicht genau bezifferbar.
  • Kein Nutzen im klinischen Bereich ersichtlich
  • Akzeptanzprobleme beim klinischen Personal: In einer Umfrage 2003 erklärten zwei Drittel der Ärzte, ihre eigene Patientenakte nicht in einem solchen System haben zu wollen.
  • Datenschutz und Datensicherheit: Das Projekt erhielt u.a. den „Big Brother Award“ verliehen. Als Reaktion auf das Projekt wurden zahlreiche Bürgerbewegungen gegründet wie etwa „The Big Opt Out Group“, die Ärzte und Patienten massenhaft mit Opt out-Erklärungen versorgte.


ELGA-Gesetz vor Evaluierung?

Seinen ursprünglichen Plan, das ELGA-Gesetz im Ministerrat vom 15. November auf die Tagesordnung zu setzen, hat Stöger zwar wieder fallen gelassen. Dem Vernehmen nach gibt es jedoch Bestrebungen, dies nur 14 Tage später, nämlich am 29. November, zu beschließen. Und das, obwohl der Gesundheitsminister dem Präsidium der ÖÄK bei einem Termin Anfang September dieses Jahres noch versichert hatte, dass es kein ELGA-Gesetz geben werde, solange die Evaluierung der E-Medikation nicht vorliege. Doch die lässt noch auf sich warten, denn das Pilotprojekt E-Medikation endet mit 31. Dezember dieses Jahres. Die Dauer der Evaluierung ist mit sechs Monaten veranschlagt. Und bevor die E-Medikation österreichweit starten kann, wird es wohl auch noch einige Zeit dauern: Der ursprünglich für Mitte 2012 geplante Start wurde auf die erste Jahreshälfte 2013 verschoben und erst vor Kurzem wurde bekannt, dass es dann am 1. Jänner 2015 so weit sein soll – aus technischen Gründen.

Unterdessen hat das Bundes-Vergabeamt neuerlich Arbeit erhalten: Ein Tiroler Arzt und Software-Hersteller behauptet nun in einer zweiten Beschwerde, dass der Hauptverband bei der Vergabe der E-Medikations-Datenbank weiter illegal vorgehe. In spätestens sechs Wochen muss der Bescheid ergehen…

Datenschutz ist nie garantiert

Dass es nahezu unmöglich ist, Systeme und Daten komplett gegen Hacker-Angriffe abzusichern, erklärten Experten vom Secure Systems Lab (Institut für Rechner-gestützte Automation der Technischen Universität Wien beim TU-Forum zum Thema „Wer klaut hier meine Daten?“ Mitte November. So ist ein sicheres System nicht nur mit einem großen finanziellen und zeitlichen Aufwand verbunden – selbst wenn die technische Implementierung gut ist, kann eine erfolgreiche Absicherung der Daten nie garantiert werden – wie Christian Platzer betonte: „Absichern ist immer viel schwieriger als einbrechen. Es gibt so viele Sicherheitslücken. All diese zu schließen, ist fast unmöglich.“ Auch vom angeblichen Datenschutz bei ELGA zeigten sich die Sicherheits-Experten alles andere als überzeugt: Zwar sei die Sicherheit auch von der Qualität der Programmierung und den Zugriffsrechten abhängig. Generell jedoch sei er „skeptisch“, so Gilbert Wondracek: „Anfangs hört sich ELGA vielleicht gut an. Durch ELGA werden Schritte automatisiert, ein schneller Zugriff auf Daten ist möglich. Dadurch öffnet man sich aber gleichzeitig einer großen Anzahl von Angriffen.“ Während jetzt nur ein Stapel von Akten gestohlen werden kann, wäre es mit der Umsetzung von ELGA denkbar, dass Hacker mit relativ wenig Aufwand in den Besitz von Unmengen von Gesundheitsdaten kommen. „Ein 100-prozentig sicheres System ist es nur dann, wenn man den Netzstecker zieht und es offline betreibt“, brachte es Platzer auf den Punkt.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2011