Ori­gi­nal­ar­beit: Medi­ka­mente als „Auf­stiegs­hil­fen“?

10.10.2011 | Medizin

Die unkon­trol­lierte Ver­wen­dung von Medi­ka­men­ten und Injek­tio­nen, um einen begehr­ten Gip­fel zu erstei­gen, ist heute auf hohen Ber­gen üblich; auch beim Höhen­trek­king zeich­net sich die­ser Trend ab. Aller­dings ist bei ver­nünf­ti­ger Pla­nung der Ein­satz von Medi­ka­men­ten nicht erfor­der­lich.
Von Franz Berg­hold

Ober­halb einer Schlaf­höhe von 2.500 Meter („Schwel­len­höhe“) muss sich der mensch­li­che Orga­nis­mus mit­tels eines kom­ple­xen Mecha­nis­mus müh­sam umstel­len, um über­le­ben zu kön­nen. Man nennt das Höhen­ak­kli­ma­tis­a­tion; sie ist in ers­ter Linie eine Frage der Zeit. Wenn die Akkli­ma­tis­a­tion schei­tert, etwa weil zu schnell zu hoch gestie­gen wurde, kippt das Sys­tem, und man wird höhenkrank.

Neben der mil­den, quasi benig­nen Form der Höhen­krank­heit (AMS = Acute Moun­tain Sick­ness) gibt es auch gefähr­li­che, weil akut lebens­be­droh­li­che Vari­an­ten der Höhen­krank­heit, näm­lich das Höhen­lun­gen­ödem (HAPE = High Alti­tude Pul­mo­nary Edema) und das Höhen­hirn­ödem (HACE = High Alti­tude Cere­bral Edema).

Da Hek­tik und Zeit­knapp­heit auch den Höhen­tou­ris­mus infil­trie­ren, ist der bera­tende Höhen­arzt immer häu­fi­ger mit der Frage nach medi­ka­men­tö­ser Unter­stüt­zung der Höhen­an­pas­sung kon­fron­tiert („What speeds accli­ma­tiza­tion, the waste of time?“).

Vor allem auf hohen Ber­gen ist die unkon­trol­lierte Ver­wen­dung von Medi­ka­men­ten und Injek­tio­nen heute die Regel, um auf Bie­gen und Bre­chen den begehr­ten Gip­fel zu errei­chen – um wel­chen Preis auch immer. Medi­ka­men­ten­miss­brauch nimmt aber mitt­ler­weile auch beim Höhen­trek­king überhand.

Kön­nen Medi­ka­mente die Höhen­ak­kli­ma­tis­a­tion för­dern oder gar erset­zen? Ganz grund­sätz­lich: Bei indi­vi­du­ell nor­ma­ler Höhen­to­le­ranz und durch­schnitt­li­cher Auf­stiegs­ge­schwin­dig­keit („not too high too fast“) ist eine medi­ka­men­töse „Akkli­ma­tis­a­ti­ons­hilfe“ im Sinne einer Pro­phy­laxe von HAPE bezie­hungs­weise HACE nicht not­wen­dig. Bei ver­nünf­ti­ger Pla­nung der Höhen­berg­fahrt nach den all­ge­mei­nen Regeln der Höhen­tak­tik kann und soll auf eine medi­ka­men­töse Pro­phy­laxe ver­zich­tet wer­den.

Indi­ka­tion für eine medi­ka­men­töse Pro­phy­laxe

In Anleh­nung an Bärtsch ist eine Indi­ka­tion zu einer medi­ka­men­tö­sen Pro­phy­laxe dann gege­ben, wenn eine hohe Wahr­schein­lich­keit für das Auf­tre­ten einer aku­ten Höhen­krank­heit besteht; beson­ders dann, wenn ent­le­gene Gebiete mit feh­len­der Infra­struk­tur auf­ge­sucht wer­den.

Eine hohe Wahr­schein­lich­keit für das Auf­tre­ten einer aku­ten Höhen­krank­heit liegt dann vor, wenn

  • die Auf­ent­halts­höhe > 3000 bis 4000 Meter ist,
  • die Auf­ent­halts­dauer > 12 bis 18 Stun­den (für AMS) oder > 24 bis 48 Stun­den (für HAPE und HACE) beträgt

und einer der fol­gen­den Fak­to­ren dazu kommt:

  • Trotz bekann­ter indi­vi­du­el­ler Anfäl­lig­keit für AMS oder HAPE ist ein lang­sa­mer Auf­stieg mit einer täg­li­chen Schlaf­hö­hen­di­stanz von 300 – 400 Meter ab der Schwel­len­höhe nicht möglich.
  • Bei nor­ma­ler Höhen­to­le­ranz oder bei unbe­kann­ter Höhen­to­le­ranz ist ein rascher Auf­stieg (> 700 – 1000 Meter täg­li­che Schlaf­hö­hen­di­stanz) unum­gäng­lich.

Im Ide­al­fall wird die Auf­stiegs­ge­schwin­dig­keit der Höhen­to­le­ranz so ange­passt, dass keine Höhen­be­schwer­den auf­tre­ten kön­nen bezie­hungs­weise dass beim Auf­tre­ten von Sym­pto­men ein Rast­tag ein­ge­legt wer­den kann. Bei unbe­kann­ter Höhen­to­le­ranz muss nicht gleich von einer Anfäl­lig­keit für HAPE aus­ge­gan­gen wer­den, da die Prä­va­lenz des HAPE sehr gering ist (zum Bei­spiel 1,5 Pro­zent beim Ever­est-Treck).

Fol­gende Sub­stan­zen ste­hen aktu­ell zur Dis­kus­sion, wobei grund­sätz­lich zwi­schen Akkli­ma­tis­a­ti­ons-för­dern­den (zum Bei­spiel Ace­tazo­l­amid) und Sym­ptom-lin­dern­den Sub­stan­zen (zum Bei­spiel Dexa­me­tha­son) unter­schie­den wer­den muss:

Ace­tazo­l­amid (Diamox®)
In der Höhe ist Diamox® der „Klas­si­ker“ schlecht­hin. Die pro­phy­lak­ti­sche Ein­nahme die­ser Sub­stanz ist seit etwa den 1970er Jah­ren weit ver­brei­tet, gilt für viele in der Höhe als unver­zicht­bar und als haupt­ver­ant­wort­lich für eine gute Gesund­heits­ver­fas­sung.

Zahl­rei­che Stu­dien wei­sen dar­auf hin, dass die pro­phy­lak­ti­sche Ein­nahme von Ace­tazo­l­amid, einem schwe­fel­hal­ti­gen Car­boan­hy­dra­se­hem­mer, die Ven­ti­la­tion in Ruhe und unter Belas­tung stei­gert, den Gas­aus­tausch ver­bes­sert, den Ionen­trans­port durch die Blut-Hirn-Schranke för­dert, den Gehirn­druck diure­tisch senkt und die Oxy­ge­nie­rung des Gewe­bes vor allem im Gehirn ver­bes­sert und zwar ver­mut­lich über einen zen­tra­len Azi­do­se­ef­fekt im Rah­men einer rena­len Kom­pen­sa­tion (Bikar­bo­nat­aus­schei­dung) der respi­ra­to­ri­schen Höhen­al­kal­ose. Neben die­ser rena­len Kom­pen­sa­tion der respi­ra­to­ri­schen Höhen­al­kal­ose wird der CO2-Trans­fer zum und vom Blut ver­zö­gert und die Durch­blu­tung des Gehirns ver­stärkt. Dar­aus kann nicht nur eine Ver­bes­se­rung der Ven­ti­la­tion und damit eine ver­bes­serte Sau­er­stoff­sät­ti­gung, son­dern auch eine Reduk­tion der nächt­li­chen Apnoe­pha­sen und somit auch eine rela­tive Schlaf­ver­bes­se­rung resultieren.

Ace­tazo­l­amid ist ein mil­des Diure­ti­kum. Die indi­vi­du­ell sehr unter­schied­lich aus­ge­prägte Diurese, die man­che als läs­tig emp­fin­den (repe­ti­ti­ver nächt­li­cher Harn­drang) und dann als Gegen­ar­gu­ment ins Tref­fen füh­ren, könnte sich als durch­aus wün­schens­wert erwei­sen, weil sie den cere­bra­len Druck­an­stieg mindert.

Diamox® wirkt nicht sym­pto­ma­tisch, son­dern kau­sal: Wenn ein AMS-Pati­ent unter die­ser Sub­stanz beschwer­de­frei ist, heißt das, dass er gesund ist. Nur wer unter die­sem Medi­ka­ment völ­lig sym­ptom­frei ist, kann risi­ko­los höher stei­gen. Setzt man es dann ab, droht kein Rebound-Effekt.

Einer der häu­figs­ten Feh­ler besteht darin, wei­ter zu stei­gen, wenn trotz Diamox® Zei­chen einer gestör­ten Höhen­an­pas­sung auf­tre­ten. Bekommt man unter Ace­tazo­l­amid AMS-Sym­ptome und steigt trotz­dem wei­ter, kann eine Ver­schlech­te­rung des Zustan­des bis hin zum HAPE durch die Sub­stanz nicht ver­hin­dert wer­den. Etli­che Per­so­nen, die an aku­ter Höhen­krank­heit ver­stor­ben sind, hat­ten vor­her nach­weis­lich – obwohl sie Sym­ptome der Höhen­krank­heit auf­ge­wie­sen hat­ten – wei­ter­hin Ace­tazo­l­amid zur „Pro­phy­laxe“ eingenommen.

Dosie­rung
All­ge­mein wird eine Dosie­rung von 2 x 250 mg emp­foh­len. Bas­n­yat (2006) konnte aber in einer viel beach­te­ten Stu­die (PACE-Trial) nach­wei­sen, dass eine Nie­der­do­sie­rung von 2 x 125 mg ähn­lich effek­tiv ist, wobei all­fäl­lige Neben­wir­kun­gen sel­te­ner auf­tre­ten. Ace­tazo­l­amid wird ab 24 Stun­den vor dem Über­schrei­ten der 2.500-Meter-Linie für zwei bis drei Tage, min­des­tens jedoch für 24 Stun­den nach Errei­chen der defi­ni­ti­ven Auf­ent­halts­höhe emp­foh­len. Soll Ace­tazo­l­amid nur zur Schlaf­ver­bes­se­rung ein­ge­setzt wer­den, nimmt man etwa zwei Stun­den vor dem Schla­fen­ge­hen 1 x 125 – 250 mg.

Es ist unbe­strit­ten, dass Ace­tazo­l­amid zur phar­ma­ko­lo­gi­schen Prä­ven­tion der aku­ten Höhen­krank­heit nach wie vor das Mit­tel der Wahl dar­stellt, auch wenn die meist ange­ge­bene Dosie­rung 2 x 125 mg im Ein­zel­fall nicht immer zur Prä­ven­tion aus­reicht. Die tat­säch­lich wirk­same Dosis hängt viel­mehr von fol­gen­den Fak­to­ren ab:

  • Indi­vi­du­elle Anfäl­lig­keit auf HAPE/​HACE
  • Auf­stiegs­ge­schwin­dig­keit (rate of ascent)
  • Vor-Akkli­ma­tis­a­tion (Inter­mit­tie­rende Hypo­xie)
  • Abso­lute Höhe
  • BMI (?)
  • Indi­vi­du­elle Medikamentenstoffwechselanomalie (?)

Die Dosis-abhän­gig sel­te­nen Neben­wir­kun­gen sind manch­mal unan­ge­nehm, aber im Grunde harm­los: Flüs­sig­keits­aus­schwem­mung (vor allem nächt­li­che Poly­urie), Par­äs­the­sien an Fin­gern und Zehen, Magen-Darm-Beschwer­den, Müdig­keit und Geschmacks­än­de­rung von koh­len­säu­ren­häl­ti­gen Geträn­ken (Bier bekommt angeb­lich einen abscheu­li­chen Geschmack). Wesent­lich pro­ble­ma­ti­scher sind das Risiko einer dia­be­ti­schen Ent­glei­sung sowie die Mög­lich­keit für eine lebens­be­droh­li­che Sul­fo­n­ami­dall­er­gie zu bewer­ten: Hackett (per­sön­li­che Mit­tei­lung) berich­tet von dra­ma­ti­schen Diamox®-Anaphylaxien am Denali sowie von eini­gen schwe­ren Diamox®-Allergien in Nepal. Bei Unver­träg­lich­keit von Ace­tazo­l­amid kann alter­na­tiv Dexa­me­tha­son in Betracht gezo­gen wer­den.

Kon­tra­in­di­ka­tio­nen sind bekannte Sul­fo­n­ami­dall­er­gie, schwere Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz, hepa­ti­sche Insuf­fi­zi­enz, Schwan­ger­schaft sowie Still­pe­ri­ode. Welt­weit ist nur eine ein­zige behörd­li­che Zulas­sung für eine medi­ka­men­töse AMS-Pro­phy­laxe erfolgt: Die US-ame­ri­ka­ni­sche Food and Drug Admi­nis­tra­tion emp­fiehlt seit 1983 Ace­tazo­l­amid bei beson­ders anfäl­li­gen Per­so­nen bezie­hungs­weise wenn die Akkli­ma­tis­a­ti­ons­richt­li­nien „aus unbe­ein­fluss­ba­ren
Grün­den“ nicht befolgt wer­den kön­nen.

Alter­na­tive Ibu­profen?
Gertsch fand in der HEAT-Stu­die (Hea­da­che Eva­lua­tion at Alti­tude Trial) her­aus, dass zu Prä­ven­tion von HAH (High Alti­tude Hea­da­che) Ibu­profen ähn­lich effek­tiv ist wie Ace­tazo­l­amid. Ace­tazo­l­amid dürfte eher der Schwere des HAH vor­beu­gen. Der kli­ni­sche Effekt einer pro­phy­lak­ti­schen Nied­rig­do­sie­rung von Ace­tazo­l­amid (250 mg/​d) wurde neu­er­lich bestä­tigt. Inter­es­sant war schließ­lich die Beob­ach­tung, dass Ibu­profen und Ace­tazo­l­amid auch zur Prä­ven­tion von AMS gleich­wer­tig erschie­nen. Somit könnte – wenn wei­tere Stu­dien dies bestä­ti­gen soll­ten – Ibu­profen als Alter­na­tive bei Unver­träg­lich­keit gegen­über Ace­tazo­l­amid in Erwä­gung gezo­gen wer­den.

Inter­es­sant ist eine Stu­die von Davies vom Kili­man­dscharo, der jähr­lich von rund 30.000 Aspi­ran­ten berannt wird, des­sen Bestei­gungs­aus­sich­ten aber wegen einer unge­wöhn­lich hohen AMS-Inzi­denz von 77 Pro­zent auf der Nor­mal­route mit 61 Pro­zent rela­tiv gering sind. Zwei Ziele wur­den defi­niert: In vier Tagen zum Gip­fel bezie­hungs­weise inklu­sive Rast­tag in fünf Tagen zum Gip­fel. Ein wei­te­res Kri­te­rium war: mit/​ohne Acetazolamid.

Es stellte sich her­aus, dass jene Per­so­nen die größ­ten Erfolgs­aus­sich­ten hat­ten, die sich fünf Tage Zeit lie­ßen und zusätz­lich Ace­tazo­l­amid ein­nah­men. Ace­tazo­l­amid erhöhte hin­ge­gen die Gip­fel­chan­cen nicht, wenn nur vier Tage ver­an­schlagt wur­den. Ace­tazo­l­amid ersetzt also nicht eine aus­rei­chend lange Akkli­ma­tis­a­ti­ons­dauer, kann aber die Akkli­ma­tis­a­tion ver­bes­sern, wenn die Akkli­ma­tis­a­ti­ons­dauer gedul­dig beach­tet wird.

Dexa­me­tha­son
Dexa­me­tha­son hat sich als Not­fall­the­ra­peu­ti­kum bei schwe­rer AMS und bei HACE sehr bewährt. Ist Dexa­me­tha­son aber auch zur Vor­beu­gung von AMS wirk­sam? Dass es unter Höhen­ex­po­si­tion – ver­mut­lich im Sinn einer unspe­zi­fi­schen Stress­re­ak­tion – über eine ver­mehrte ACTH-Aus­schüt­tung zur Sti­mu­lie­rung von 17-Hydro­xy­cor­ti­son kommt, ist seit lan­gem bekannt. Bereits 1977 konnte fest­ge­stellt wer­den, dass das Auf­tre­ten von AMS-Sym­pto­men nach dem raschen Auf­stieg auf Höhen zwi­schen 4.300 und 5.300 Meter umso gerin­ger war, je höher der indi­vi­du­elle Cor­ti­sol-Anstieg war. Bei län­ger­dau­ern­dem Auf­ent­halt in gro­ßen Höhen wur­den dage­gen keine Ver­än­de­run­gen im Cor­ti­sol-Spie­gel registriert.

Diese Beob­ach­tun­gen führ­ten zur Annahme, dass die pro­phy­lak­ti­sche Gabe von Dexa­me­tha­son das Auf­tre­ten von AMS- bezie­hungs­weise HACE-Sym­pto­men ver­rin­gern würde. Etli­che expe­ri­men­telle Befunde bestä­ti­gen dies bis zu einer Rate von 63 Pro­zent, wäh­rend Pla­cebo kei­nen Effekt zeigt. Es han­delt sich aller­dings nur um eine Unter­drü­ckung der Sym­ptome, nicht jedoch um eine Akkli­ma­tis­a­ti­ons­ver­bes­se­rung.

Der Mecha­nis­mus der Dexa­me­tha­son-Wir­kung in der Höhe ist bis heute unklar Es kann mög­li­cher­weise das Blut-Hirn-Volu­men redu­zie­ren und die unter Hypo­xie phy­sio­lo­gi­sche Gehirn­schwel­lung durch „Abdich­tung“ der Blut-Hirn-Schranke ver­rin­gern. Viel­leicht behin­dert es sogar die Lücken­bil­dung der Blut-Hirn-Schranke. Da aber AMS nicht durch ein Hirn­ödem bedingt ist, dürfte die Gefäß-abdich­tende Wir­kung von Glu­ko­ko­ri­kos­te­ro­iden ohne Bedeu­tung für die Prä­ven­tion von AMS sein. Mög­li­cher­weise wir­ken Ste­ro­ide bei AMS vor allem wegen ihrer anti­eme­ti­schen und eupho­ri­sie­ren­den Wirkung.

In der anglo­ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur wird Dexa­me­tha­son vor allem dann als mög­li­che Pro­phy­laxe ange­führt, wenn eine Into­le­ranz bezie­hungs­weise Kon­tra­in­di­ka­tio­nen gegen­über Ace­tazo­l­amid besteht. Dar­über hin­aus wird Dexa­me­tha­son nicht zur gene­rel­len Rou­ti­ne­pro­phy­laxe gegen AMS/​HACE/​HAPE emp­foh­len, auch nicht in der in der Lite­ra­tur ange­ge­be­nen Min­dest­do­sie­rung von 8 mg/​d (wei­tere Dosie­rungs­emp­feh­lun­gen: 4 mg alle acht Stun­den, 4 mg alle sechs bis zwölf Stun­den oder 2 mg alle sechs Stun­den oder 4 mg alle zwölf Stun­den) und zwar des­halb, weil bei Anwen­dung über einen län­ge­ren Zeit­raum stets nicht unbe­trächt­li­che Neben­wir­kungs­ri­si­ken ins Kal­kül gezo­gen wer­den müs­sen (Infekte, pep­ti­sche Ulce­ra­tio­nen, Magen­blu­tun­gen, Dys­pep­sie, Hyper­glyk­ämie, Neben­nie­ren­sup­pres­sion, Stim­mungs­schwan­kun­gen, Depres­sio­nen, schwe­rer Rebound mit Risiko einer Neben­nie­ren­in­suf­fi­zi­enz nach abrup­tem Abset­zen). Es gibt übri­gens bis heute keine ein­zige Stu­die über die pro­phy­lak­ti­sche Anwen­dung von Dexa­me­tha­son über mehr als vier Tage, und wir wis­sen nicht, was beim Abset­zen die­ses Medi­ka­men­tes in gro­ßen und extre­men Höhen wirk­lich geschieht. Kon­tra­in­di­ka­tio­nen: Schwan­ger­schaft, Still­pe­ri­ode, Kin­der, gas­tro­in­testi­nale Ulcu­sana­mnese.

Dexa­me­tha­son und Höhen­lun­gen­ödem (HAPE)

In einer Stu­die von Mag­gio­rini wurde fest­ge­stellt, dass Dexa­me­tha­son in der Dosie­rung von 2 x 8 mg pro Tag den PaP (= pul­mo­nal-arte­ri­el­ler Blut­druck) bei HAPE-anfäl­li­gen Per­so­nen ebenso gut senkt und in der Prä­ven­tion des HAPE ebenso effek­tiv ist wie Tadala­fil. Der Mecha­nis­mus der PaP-Sen­kung durch Dexa­me­tha­son ist aller­dings nicht geklärt. Erwar­tungs­ge­mäß wie­sen die mit Dexa­me­tha­son behan­del­ten Berg­stei­ger kaum Sym­ptome der AMS auf, wäh­rend klas­si­sche PaP-Sen­ker (Vaso­dila­ta­to­ren, s.u.) kei­nen Effekt auf die Sym­ptome der AMS haben und mög­li­cher­weise sogar den Kopf­schmerz und andere AMS-Sym­ptome ver­stär­ken.

Dexa­me­tha­son kann daher aus heu­ti­ger Sicht nicht als HAPE-Pro­phy­laxe emp­foh­len wer­den. Setzt man Dexa­me­tha­son groß­zü­gig pro­phy­lak­tisch ein, hat man mög­li­cher­weise schon alle the­ra­peu­ti­schen Optio­nen aus­ge­nutzt, wenn es spä­ter trotz­dem zu HACE und/​oder HAPE kommt.

Nife­di­pin
Ziel einer medi­ka­men­tö­sen Pro­phy­laxe von HAPE ist es, den über­mä­ßi­gen Anstieg des PaP zu ver­hin­dern wie zum Bei­spiel durch Nife­di­pin. Nach­dem der not­fall­the­ra­peu­ti­sche Ein­satz die­ses Kal­zi­um­ant­ago­nis­ten bei HAPE viel­fach ein­drucks­voll unter Beweis gestellt wer­den konne, fand man her­aus, dass Nife­di­pin retard 20 mg (alle acht bis zwölf Stun­den) die über­schie­ßende hypo­xi­sche pul­mo­n­ale Hyper­ten­sion und damit auch die Ent­wick­lung eines HAPE bei ana­mnes­tisch beson­ders HAPE-emp­find­li­chen Berg­stei­gern hintan hal­ten kann.

Eine gene­relle Pro­phy­laxe mit Nife­di­pin emp­fiehlt sich aber vor­erst des­halb nicht, weil es keine Unter­su­chun­gen über Nife­di­pin über mehr als vier Tage in der Höhe gibt und weil poten­zi­elle Neben­wir­kun­gen berück­sich­tigt wer­den müs­sen (Reflextachy­kar­die, Blut­druck­ab­fall, Kopf­schmer­zen, Übel­keit, Erbre­chen, Müdig­keit, Schwin­del­an­fälle, Bein­ödeme). Nife­di­pin ist kon­tra­in­di­ziert in der Schwan­ger­schaft, in der Still­pe­ri­ode und bei Kin­dern.

Pro­phy­lak­ti­sches Nife­di­pin ver­hin­dert übri­gens das „remo­de­ling“, also die struk­tu­relle Anpas­sung der Lun­gen­ge­fäße an den erhöh­ten pul­mo­n­a­lerte­ri­el­len Druck. Dies kann beim Abset­zen von Nife­di­pin in der Höhe zu einem über­schie­ßen­den Rebound führen.

Sil­dena­fil, Tadala­fil
Nach Rich­alet bewirkt der orale Phos­pho­dies­ter­ase-5-Hem­mer Sil­dena­fil 120 mg/​d (40 mg alle acht Stun­den) eine selek­tive Dila­ta­tion hypo­xisch kon­strin­gier­ter Pul­mo­n­al­arte­rien. Das führt laut Rich­alet in der Höhe zu einer homo­ge­ne­ren pul­mo­n­a­len Blut- und damit Druck­ver­tei­lung, zu einer um fünf Pro­zent ver­bes­ser­ten Sau­er­stoff­sät­ti­gung, zu einer ver­bes­ser­ten Lun­gen­funk­tion, zu einem Rück­gang des erhöh­ten PaP um rund 10 mm Hg und zu einer Stei­ge­rung der Leis­tungs­fä­hig­keit um etwa zehn Prozent.

In der bereits erwähn­ten Stu­die von Mag­gio­rini zeigte sich, dass Dexa­me­tha­son in der Dosie­rung von 2 x 8 mg pro Tag den PaP bei HAPE-anfäl­li­gen Per­so­nen ebenso gut senkt und ebenso effek­tiv ist in der Prä­ven­tion des HAPE wie Tadala­fil. Die Risi­ko­re­duk­tion für HAPE war ähn­lich wie bei Nife­di­pin und bes­ser als bei Sal­me­terol, wäh­rend die Risi­ko­re­duk­tion für AMS einen signi­fi­kan­ten Rück­gang bei Dexa­me­tha­son, jedoch kei­nen Ein­fluss auf Tadala­fil auf­wies. Wei­tere Unter­su­chun­gen sind aller­dings noch nötig, um dar­aus für Dexa­me­tha­son und HAPE bzw. bezüg­lich der Phos­pho­dies­ter­ase-5-Hem­mer in der Höhe ver­läss­li­che Emp­feh­lun­gen geben zu kön­nen. Phos­pho­dies­ter­ase-5-Hem­mer gel­ten aller­dings als Hoff­nungs­trä­ger der Höhenmedizin.

Zum Schluss sei noch ange­merkt, dass keine der hier beschrie­be­nen phar­ma­ko­lo­gi­schen Sub­stan­zen in Europa als Höhen­ak­kli­ma­tis­a­ti­ons­hilfe behörd­lich zuge­las­sen ist; das heißt es han­delt sich um eine Anwen­dung Off-Label.

Lite­ra­tur beim Verfasser

*) Univ. Prof. Dr. Franz Berg­hold,
Inter­na­tio­nale Lehr­gänge für Alpin- und Höhen­me­di­zin, 5710 Kaprun;
E‑Mail: bergi@sbg.at

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2011