Interview – Univ. Prof. Christian Madl: Intensivmedizin: begrenzte Möglichkeiten

10.06.2011 | Medizin

Der alte Intensivpatient wird immer mehr an Bedeutung gewinnen, erklärt Univ. Prof. Christian Madl von der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien, einer der wissenschaftlichen Leiter der 43. Jahrestagung der Österreichischen und Deutschen Gesellschaft für Intensivmedizin Mitte Juni in Wien. Das Gespräch führte Corina Petschacher.


ÖÄZ: Der Titel ihrer diesjährigen Tagung lautet „ Facts and Fiction“ in der Intensivmedizin. Was kann man sich darunter genau vorstellen?

Madl: Uns geht es in erster Linie darum aufzuzeigen, was zum jetzigen Zeitpunkt in der Intensivmedizin bereits möglich und umsetzbar ist und was, wie der Titel andeutet, noch in den Bereich des nicht Durchführbaren fällt. Die Erwartung der Angehörigen unserer Patienten an die Intensivmedizin ist sehr hoch. Die Intensivmedizin hat den Ruf, praktisch alle Organfunktionen ersetzen zu können, den Sterbeprozess in jedem Fall durch medikamentöse oder maschinelle Therapie hinauszögern oder sogar verhindern zu können. Dies ist jedoch nicht immer der Fall und auch nicht in jeder Situation erstrebenswert. Die Intensivmedizin hat in den letzten Jahrzehnten sehr große Fortschritte gemacht und es stehen tatsächlich zahlreiche lebenserhaltende und therapeutische Maßnahmen zur Verfügung, ohne die ein Überleben in vielen Fällen nicht möglich wäre. Wir befinden uns allerdings nicht in der Zukunft, haben begrenzte Möglichkeiten. Längst nicht jedes menschliche Organ kann ohne weiteres ersetzt werden. Wir können momentan nur sehr selektiv Organsysteme ersetzen, bei der künstlichen Leber zum Beispiel gab es starke Rückschläge. Der extrakorporale Lungenersatz hingegen funktioniert heute schon sehr gut, die Geräte werden immer kleiner und die Nebenwirkungen geringer.

In der Intensivmedizin tauchen immer wieder ethische Fragestellungen auf. Wie geht man heute mit dem Thema Therapiebegrenzung und Therapiebeendigung auf Intensivstationen um?
Die Frage, wann und wie lange eine intensivmedizinische Therapie von Nutzen ist, wird immer eine individuelle Entscheidung und die große Herausforderung in der Intensivmedizin bleiben. Es gibt von verschiedenen Fachgesellschaften Konsensuspapiere, die Entscheidungshilfen und Richtlinien bieten, wie man sich in der jeweiligen Situation auf einer Intensivstation verhalten soll. Grundsätzlich wird natürlich aus ethischen Gründen immer eine Verbesserung des Gesundheitszustands des jeweiligen Patienten angestrebt. In manchen Fällen ist es jedoch sinnvoller, sich ebenfalls aus ethischen Gründen sukzessive zurückzuziehen und die entsprechenden Maßnahmen, die zwar medizinisch möglich, jedoch nicht sinnvoll wären, nicht zu setzen. So eine Situation kann zum Beispiel nach einem Herzkreislaufstillstand entstehen, bei dem das Gehirn über lange Zeit unterversorgt war mit Sauerstoff und es nachweislich zu irreversiblen Hirnschädigungen kam. Hier stellt sich die Frage, wie viel Sinn es macht, diesen Patienten weiter zu beatmen beziehungsweise medikamentös zu behandeln. Sehr wichtig bei einer Entscheidung für oder gegen das Weiterführen einer intensivmedizinischen Behandlung ist auch das Involvieren der Angehörigen in den Entscheidungsprozess. Die Kommunikation zwischen Ärzten und Angehörigen sollte in Zukunft noch mehr verbessert werden.

Im Rahmen ihrer Tagung werden auch die aktuellen Beatmungsstrategien besprochen. Was tut sich hier Neues?
In letzter Zeit wird nicht mehr so aggressiv beatmet, das heißt, man versucht nicht mehr mit aller Gewalt, Parameter in den Normbereich zu bringen, sondern zu akzeptieren, dass bei Patienten, die an schweren Lungenerkrankungen wie dem ARDS leiden, nicht unbedingt die Normalwerte anzustreben sind. In solche Fällen lässt man beispielsweise das CO2 ansteigen, man spricht von einer permissiven Hyperkapnie. So wird versucht, die Drucke zu reduzieren, um weitere Schäden an der Lunge zu vermeiden.

Welche Bedeutung hat die therapeutische Hypothermie nach einer Reanimation?
Die Kühlung des Patienten in der Post-Reanimationsphase bringt entscheidende Vorteile mit sich. Nach der Reanimation wird der Körper für 24 Stunden gekühlt, um Schäden, die während des Herzkreislaufstillstands und auch in der Post-Reanimationsphase entstehen können, möglichst gering zu halten. Diese Maßnahme führt zu einer günstigen Beeinflussung der neurologischen Prognose des Patienten. Es handelt sich um eine sehr effektive Therapie, die das Überleben der Betroffenen signifikant verbessert. Allerdings muss auch beachtet werden, dass die therapeutische Hypothermie auch Auswirkungen auf die Gerinnung und Hämodynamik hat, die Patienten müssen auch länger sediert werden.

Welche aktuellen Entwicklungen gibt es im Bereich der Intensivmedizin?
Im Rahmen unserer Tagung werden auch die sogenannten „Hot topics“ der Intensivmedizin besprochen. Es handelt sich um Themen wie Lunge und Beatmung beim schweren ARDS erwartet. Hier hat man festgestellt, dass ein frühzeitigerer Einsatz als bis jetzt gebräuchlich war, die Prognose der Patienten verbessert. Auch die neuen 2010 erschienenen Reanimation-Guidelines werden vorgestellt, die eine noch einfachere Durchführbarkeit der lebensrettenden Erstmaßnahmen beinhalten. Ein weiteres ganz aktuelles Thema, dem sicher in letzter Zeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, betrifft die zunehmende Zahl an älteren und hochbetagten Intensivpatienten und wie man sich intensivmedizinisch darauf einstellt. Pathophysiologische und metabolische Veränderungen, die im Alter auftreten, beeinflussen das intensivtherapeutische Vorgehen entscheidend. Medikamentendosierungen müssen adaptiert werden, der verminderte Kalorienbedarf betagter Patienten muss bei der Ernährung berücksichtigt werden und auch die Flüssigkeitsgabe muss an die Bedingungen angepasst werden. In Anbetracht der immer älter werdenden Bevölkerung wird der ‚alte Intensivpatient‘ immer mehr an Bedeutung gewinnen und das intensivmedizinische Vorgehen muss in Zukunft entsprechend angepasst werden.

Details zum Kongress

43. Gemeinsame Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeine und Internistische Intensivmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin:
„Facts and Fiction“ in der Intensivmedizin

Termin: 15. bis 18. Juni 2011
Ort: Kongresszentrum Hofburg/Wien:
www.intensivmedizin.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2011