Internistische Erkrankungen im Alte: Weniger ist oft mehr

25.04.2011 | Medizin

Besonders bei älteren Patienten ist es wichtig, die oft vorliegende Multimedikation in regelmäßigen Abständen zu hinterfragen. Dies besonders im Hinblick darauf, dass Hypertonie, Diabetes und Krankheiten des Bewegungsapparates die Liste der Erkrankungen im höheren Lebensalter anführen.
Von Corina Petschacher

Die Zahl der Diabetiker in den westlichen Industrieländern steigt ständig an. Von den geschätzten 400.000 Österreichern, die an Typ II-Diabetes leiden, sind zwei Drittel älter als 60 Jahre. Betrachtet man die Bevölkerungsgruppe der über 75-Jährigen, liegt die Prävalenz der Erkrankung hier schon bei rund 25 Prozent. Bezieht man alle Glukosetoleranz-Störungen mit ein, steigt diese Zahl in geriatrischen Betreuungsinstitutionen sogar bis auf 50 Prozent. Da in Österreich damit zu rechnen ist, dass der Anteil der über 60-Jährigen bis zum Jahr 2030 von derzeit 20 Prozent auf mehr als 30 Prozent steigen wird, wird auch die Zahl der an Diabetes Erkrankten immer größer werden. Die über 85-jährigen Menschen werden dabei die relativ am stärksten wachsende Gruppe darstellen. Für sie wird eine absolute Zunahme der Anzahl der Diabetiker um das Sechs- bis Achtfache prognostiziert.

Die Symptome eines neu manifestierten oder dekompensierten Diabetes mellitus sind bei betagten Patienten häufig verschleiert oder unspezifisch. So kann sich ein älterer Diabetiker mit Symptomen wie Müdigkeit, kognitiver Einschränkung, beeinträchtigter Mobilität oder Infektionen der Haut und des Harntrakts anstelle der klassischen Symptome wie Polyurie, Durst und Hungerzuständen zeigen. Typisch im höheren Lebensalter ist die gestörte Glukosetoleranz, die sich oft nur in Form einer isolierten postprandialen Hyperglykämie zeigt. „In diesem Kollektiv ist die Bestimmung der Nüchternblutglukose nicht ausreichend, um eine Glukosetoleranzstörung auszuschließen“, erklärt Univ. Prof. Peter Fasching, Vorstand der 5. Medizinischen Abteilung im Wilhelminenspital in Wien. Das Screening auf Glukosetoleranzstörung in der Praxis sollte daher neben der Nüchternglukose auch das HbA1c erheben, da besonders bei geriatrischen Langzeitpatienten die Durchführung eines oralen Glukosetoleranztests (75g) aufgrund von Schluckstörungen und Compliance-Problemen wenig praktikabel ist.

Diabetes mellitus im Alter ist mit einer erhöhten Morbidität, geringeren Lebensqualität und einer bis zum doppelten erhöhten Mortalität im Vergleich zu gleichaltrigen Nicht-Diabetikern verbunden. Die Ursachen dafür liegen in erster Linie am erhöhten kardiovaskulären Risiko eines Diabetikers; Herzinfarkt und Schlaganfälle treten viel häufiger auf. Die Betroffenen haben auch eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, durch körperliche Beeinträchtigung ihre Selbstständigkeit im Alltag einzubüßen. Darüber hinaus findet man bei älteren Diabetikern eine verdoppelte Hospitalisierungsrate, weshalb sie in sogenannten „managed-care“-Systemen teurer erscheinen als gleichaltrige Nicht-Diabetiker.

Schulung von Patienten und Angehörigen

Es sei besonders wichtig, ältere Menschen und auch deren Angehörige im Umgang mit ihrer Krankheit richtig zu schulen, macht Fasching aufmerksam. Im Zentrum dieser Schulungen stünden die Vermittlung des Wissens über eine richtige Ernährungsweise, Verhinderung von hypo- und hyperglykämischen Entgleisungen in Form von Selbstmessungen des Blutzuckers und des Harnzuckers sowie die Vermeidung des Vollbilds eines diabetischen Fußes. Das Schulungsprogramm müsse auf die konkreten Bedürfnisse der betagten Patienten zugeschnitten sein. Dabei sei auf die im höheren Lebensalter häufigen Problemstellungen, wie verminderte Seh- und Hörfähigkeit, verminderte Merkfähigkeit sowie eine oft vorhandene Motivationsschwäche besonderes Augenmerk zu legen.

Multifaktorielle Therapie

Die Ziele der Therapie ändern sich bei Patienten im hohen Lebensalter (über 75 Jahre) in Abhängigkeit vom biologischen Alter. Die Forderung nach hoher Lebensqualität und Sicherheit vor Diabetes-assoziierten Akutkomplikationen verdrängt dabei immer mehr die optimale Stoffwechselkontrolle als einziges Therapieziel. Das therapeutische Vorgehen entspricht auch bei älteren Patienten der Stufentherapie des Typ 2-Diabetes. Dabei stellen eine alters- und diabetesgerechte Ernährungsweise sowie eine realistisch erzielbare Steigerung der körperlichen Aktivität die Grundsäulen der Therapie dar. Therapieziele und Therapiemaßnahmen sind bei älteren Diabetikern individuell abzustimmen, da die häufig begleitende Multimorbidität mit einer Einschränkung von Organfunktionen wie zum Beispiel der Leber oder der Nieren sowie einem kognitiven Defizit einhergehen kann. „Die jeweiligen Vorteile und Risiken der einzelnen Substanzklassen sind individuell abzuwägen. Bei einem Alter von über 75 Jahren ist Metformin mit besonderem Bedacht einzusetzen, da bei vielen Patienten dieser Altersklasse Erkrankungen mit begleitender Hypoxämie und Nierenfunktionseinschränkung vorliegen“, betont Fasching. Weiters steht im hohen Alter pathophysiologisch die schwindende Insulinsekretionsleistung bei zumeist gegebener Insulinresistenz im Vordergrund, sodass eher der Einsatz von sicheren Insulinsekretagoga, wie kurzwirksamen Sulfonylharnstoffen und Gliniden beziehungsweise eine Insulinsubstitution bei insuffizienter Stoffwechselkontrolle indiziert erscheint. Der Einsatz von Gliptinen (DPP-4-Inhibitoren), auch in Kombination mit Sulfonylharnstoffen und/oder Metformin, könnten hier in Zukunft neue therapeutische Optionen bieten.

Das Hauptziel der Therapie stellt deren verlässliche Umsetzbarkeit bei akzeptabler Stoffwechselqualität dar. Auch die Begleiterkrankungen von Diabetikern sind besonders sorgfältig zu betreuen. Dazu gehört vor allem eine adäquate Blutdruckeinstellung mit einem Zielwert von RR von < 140/80 mmHg. Neben der Blutdrucktherapie kann auch eine antiaggregatorische und lipostatische Therapie bei älteren Diabetes-Patienten von Vorteil sein und sollte in Abhängigkeit von der individuellen klinischen Risikosituation in Betracht gezogen werden. Aufgrund der Tatsache, dass die meist multimorbiden Patienten oft eine große Zahl an Medikamenten einnehmen müssen, sollte vor der Etablierung von Zusatztherapien immer die in der Praxis erzielbare Compliance der Medikamenteneinnahme beurteilt werden.

Hypertonie

In Österreich leiden 1,5 Millionen Menschen an Hypertonie. Besonders betroffen ist die Bevölkerungsgruppe der über 60-Jährigen, bei denen fast 70 Prozent an Bluthochdruck leiden. Die Erkrankung führt die Diagnosestatistik mit elf Prozent aller Diagnosen in der niedergelassenen Praxis an. Die Gefahr eines zu hohen Blutdrucks im Alter liegt in der dadurch bedingten massiven Erhöhung des kardiovaskulären Risikos. Dieses beginnt bereits bei Blutdruckwerten von 115/75 mmHg zu steigen und verdoppelt sich bei jedem Anstieg um 20/10 mmHg. Bei Patienten im Alter von über 50 Jahren stellt der systolische Blutdruck über 1440 mmHg einen deutlich wichtigeren Risikofaktor dar als der diastolische Wert. Allerdings sei auch eine diastolische Blutdruckerhöhung im Alter eine zu berücksichtigende und behandlungsbedürftige Erkrankung und als solche nicht ungefährlich, weiß Univ. Prof. Marcus Köller, medizinischer Leiter der internen Abteilung mit Schwerpunkt Akutgeriatrie und Remobilisierung im Sophienspital der Stadt Wien. Schon bei einer Erhöhung über 90mmHg steige das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, an. Bei diastolischen Werten von 100mmHg sei das Schlaganfallrisiko bereits um das Zweifache erhöht; 105mmHg diastolisch bedeute eine vierfache Erhöhung des Risikos.

Therapie: „Start low-go slow“

Als Therapieziel wird eine Absenkung des systolischen und des diastolischen Blutdrucks unter 140/90 mmHg angestrebt. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass systolische RR-Werte unter 140 mmHg ohne Nebenwirkungen besonders im höheren Lebensalter manchmal schwer zu erreichen sind.

Prinzipiell hält sich die Pharmakotherapie auch bei älteren Patienten mit Hypertonie an die ABCD-Regel in Kombination mit Diät und Lebensstilmodifikation. „Die spezifische Auswahl richtet sich nach vorhandenen Zusatzerkrankungen und Zusatzindikationen, nach Verträglichkeit und Kontraindikationen sowie nach der Pharmakoökonomie. Dabei sollten bei älteren Patienten diuretisch wirkende Substanzen – allen voran Thiaziddiuretika – und ACE-Hemmer in der meist erforderlichen Kombinationstherapie enthalten sein. Bei hochbetagten Personen sollte die Therapie nur schrittweise und vorsichtig erfolgen. Hier gilt der Grundsatz ‚start low – go slow‘: Der Blutdruck sollte langsam über einige Wochen auf die Zielwerte abgesenkt werden“, erklärt Fasching die Vorgehensweise.

Eine allzu rigide Blutdruckabsenkung sei aber auch nicht das Ziel der Blutdruckkontrolle im Alter, erklärt Köller: „Wenn der Blutdruck zu weit gesenkt wird, kann das wiederum mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko einhergehen, Kreislaufregulationsstörungen hervorrufen und dazu führen, dass ältere Patienten schwindlig werden und leichter stürzen.“ Es müsse auch auf die Nebenwirkungen einzelner Substanzen geachtet werden. So würden Thiaziddiuretika zu einer Hyponatriämie führen, die durch die kombinierte Anwendung mit anderen Medikamenten verstärkt werden könne. Vorsicht sei auch bei inkontinenten Patienten bei der Gabe von Diuretika geboten. Außerdem könnten durch Diuretika Gichtanfälle hervorgerufen werden. Die Gabe von Beta-Blockern könne manchmal die im Alter nicht selten auftretenden Depressionen verstärken. Deshalb gelte es, Begleiterkrankungen bei der Wahl des Medikaments genau zu berücksichtigen.

Muskuloskelettale Erkrankungen

Erkrankungen des muskuloskelettalen Apparates, allen voran degenerative Gelenkserkrankungen (Arthrose) und Osteoporose zählen ebenfalls zu den im Alter häufig auftretenden Erkrankungen. Speziell die Osteoporose wird aber im klinischen Alltag weit unterschätzt; bei zu vielen Menschen wird die Erkrankung nicht diagnostiziert und bleibt unbehandelt. „Man weiß, dass bei akut geriatrischen Patienten mit einem Durchschnittsalter von 85 Jahren Hüftoperationen nach Schenkelhalsfrakturen zu 80 Prozent durch Osteoporose bedingt sind“, berichtet Köller aus der Praxis. Nur circa zehn Prozent dieser Patienten haben bereits eine Osteoporosetherapie begonnen. 50 Prozent der Betroffenen erlangen nach einer Schenkelhalsfraktur ihre ursprüngliche Mobilität nicht mehr; 25 Prozent werden pflegebedürftig und zehn bis 20 Prozent sterben sogar daran. „Dies könnte durch ein besseres Osteoporose-Screening geändert werden“, hebt Köller hervor.

Das Frakturrisiko müsse dabei nicht allein durch eine Knochendichtemessung bestimmt werden. Das von der WHO initiierte so genannte FRAX-Tool (fracture risk assessment tool) stellt einen über das Internet zugänglichen Kalkulator dar, der es erlaubt, aufgrund einer Reihe von Risikofaktoren das Zehn-Jahres-Risiko für eine höhergradige osteoporotische Fraktur zu errechnen. (www.sheffield.ac.uk/FRAX/) Bei einem Ergebnis von über 20 Prozent sei eine entsprechende Osteoporosetherapie auch ohne Knochendichtemessung gerechtfertigt. Zur Behandlung stehen neben der klassischen Therapie mittels Bisphosphonaten neue Substanzen wie der monoklonale Antikörper Denosumab zu Verfügung. Dieser ist besonders für ältere Patienten mit Nierenfunktionseinschränkungen geeignet, wenn einige der bisherigen Osteoporosetherapien aufgrund der Kontraindikation nicht eingesetzt werden konnten.

Auch die im Alter auftretenden degenerativen Gelenkserkrankungen führen bei älteren Menschen oft zu Funktionsdefiziten und erhöhtem Sturzrisiko. Hier könne der Allgemeinmediziner mit einfachen Mobilitätstests wie dem Tinetti- oder dem chair-rising-Test das Sturzrisiko der Patienten evaluieren. Außerdem müsse die Schmerzsituation bei diesen Erkrankungen kontrolliert werden. Vorsicht sei im Alter bei nicht steroidalen Antirheumatika geboten; es könne bei betagten Patienten zu Nierenfunktionseinschränkungen, Ödembildungen, Elektrolytstörungen sowie zu einer gastrointestinalen Blutung kommen. Deshalb sei Paracetamol bei der Schmerztherapie im Alter zu bevorzugen. Grundsätzlich sei es wichtig, gerade bei älteren Patienten, die oft vorliegende Multimedikation im Auge zu behalten und in regelmäßigen Abständen zu hinterfragen, ob alle Medikamente noch notwendig sind. „Im Alter gilt der Grundsatz, dass weniger oftmals mehr ist“, wie Köller resümiert.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2011