Standpunkt – Präs. Walter Dorner: Was ist Bildung?

10.10.2010 | Standpunkt

(c) Noll

Nicht erst die Ergebnisse der „PISA-Studie“ haben uns gezeigt, dass es mit der (Schul-)Bildung in unserem Land nicht zum Besten bestellt ist. Obwohl wir europaweit zu den Ländern mit den höchsten Pro-Kopf-Ausgaben in diesem Bereich zählen, spiegelt sich dieser enorme finanzielle Aufwand nicht im Geringsten in den Ergebnissen wieder. Seit Jahren rangiert Österreich am unteren Ende der Skala.

Die Misere – ich denke, dass man sie zu Recht als solche bezeichnen kann – setzt sich im Medizinstudium fort. 274,5 Semesterstunden an Ausbildung umfasst das Diplomstudium Humanmedizin an der Medizinischen Universität Wien. Auf der Homepage der Meduni Wien heißt es u.a.: „Damit eine postpromotionelle Ausbildung angetreten werden kann, müssen die Absolventinnen über intellektuelle, praktische und zwischenmenschliche Befähigungen verfügen“.

Den Forderungen nach einer stärkeren Betonung der praktischen Ausbildung hat man mit dem neuen Curriculum sicher Rechnung getragen, ebenso auch mit der didaktisch völlig neu gestalteten Wissensvermittlung in Form von Kleingruppen. Große Bedenken habe ich allerdings, was die Vermittlung der zwischenmenschlichen Befähigung anlangt.

Bildung kann und darf sich nicht nur auf die reine Wissensvermittlung beschränken – ganz gleichgültig , ob in der Schule oder an der Universität. Und sie kann auch nicht auf die reine Vermittlung der Sachkenntnis reduziert werden. Bildung, so wie ich sie verstehe, meint die umfassende Bildung des Geistes ebenso wie die Persönlichkeitsbildung und nicht zuletzt auch Herzensbildung.

Wie gebildet sind wir Ärzte noch? Kommen wir in unserem Beruf dem Anspruch nach der ganzheitlichen Sicht des Patienten nach? Nehmen wir den Menschen noch in seiner Gesamtheit wahr? Kommen wir unserem humanitären Auftrag nach?

Wir Ärzte bilden aus, wir geben Wissen weiter. Ich denke, dass dies die Pflicht jedes Arztes ist, der mit jungen Kollegen arbeitet. Während meiner aktiven Zeit als Spitalsarzt war mir gerade das immer ein besonderes Anliegen. Gerne habe ich als Primarius auf der Chirurgie den jungen Ärzten im OP assistiert. Und was für die Arbeits-Beziehung zwischen Ärztinnen und Ärzten eine Selbstverständlichkeit sein sollte, gilt umso mehr in der Beziehung zwischen Arzt und Patient. Nur wer sich auf sein Gegenüber einlässt, wird diese Person, den Patienten, in seiner Ganzheit erfahren. Ein Chirurg, der seinen Patienten unmittelbar nach der Operation mehrfach visitiert, tut dem Patienten unendlich viel Gutes und gibt ihm – abgesehen vom technisch einwandfreien Gelingen des Eingriffs – auch die persönliche Komponente: die Zuwendung, mit der dem Kranken signalisiert wird, dass der Arzt an seiner Seite ist.

Hier kommt es nun ganz wesentlich auf das ärztliche Gespräch an. Als Arzt muss man den Patienten in der Kommunikation so erfassen, dass es eine Einheit wird. Die kommunikativen Fähigkeiten sind sicherlich ein entscheidender Faktor für das Gelingen einer tragfähigen Beziehung zwischen Arzt und Patient. Aber wie spiegelt sich das im Studium, in der Ausbildung wieder?

Wir werden uns wieder mehr Zeit nehmen müssen: Zeit für die Bildung, die Ausbildung unserer jungen Kollegen und vor allem Zeit für das Gespräch. Wer Bildung nur als Vermittlung von Wissen und Fakten versteht, hat seinen Beruf verfehlt.

Walter Dorner
Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2010