Standpunkt – Vize-Präs. Günther Wawrowsky: Ende der Kassenmedizin?

25.02.2010 | Standpunkt



Aber niemand darf es merken!

(c) Foto Weinwurm

Die letzten zehn Jahre der kassenmedizinischen Versorgung zeichnen sich neben den Mühen, welche die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte hatten, vor allem durch eines aus: Stagnation.  

Die Anzahl der Planstellen ist gleich geblieben, neue dringend notwendige Versorgungsformen stehen nicht zur Diskussion und moderne Leistungen können sich die ausgedünnten Finanzen der Kassen nicht leisten. Die Patienten müssen in Ambulanzen und in die privatmedizinische Betreuung ausweichen. Dafür zwingt man die Sozialversicherung durch Staatsgeheiß, die Abgänge aus der Rezeptgebührenbefreiung und die Zahlungen an die Bundesgesundheitskommission in Milliardenhöhe zu begleichen.

Wenn der Staat seine Schulden bei den Kassen zahlen würde, wären diese in der Lage, zukunftsorientierte, patientenzentrierte und wohnortnahe Medizin zu sichern.

Was aber passiert? Der Wahlspruch der Generation „Wirtschaftsliberalismus und Marktradikalismus“ ertönt auch im Sozialbereich: Sparen, sparen, sparen. Das klingt immer gut – vor allem, wenn es andere trifft. Die Verpflichtungen des Staates gegenüber der Sozialversicherung dürfen aber keinesfalls artikuliert werden, sind doch Ämter, Positionen und Funktionen in deren Hauptverband durchwegs politisch besetzt. Da haben der „schwarze“ Arbeitgebervertreter wie auch der „rote“ Genosse Arbeitnehmer zu schweigen. In den schwarz-blau-orangen Zeiten war es natürlich nicht besser, möglicherweise sogar schlimmer. Das Thema „Staatsschuld“ ist heute ein Tabu, es anzusprechen gar ein Affront.

Da gibt ein Finanzminister den maroden Kassen nur gerne 100 Millionen, wenn vorher 170 Millionen eingespart würden. Aber bitte nur so, dass niemand es merkt!

Und der neue, hochagile Vorsitzende des Hauptverbandes treibt es sogar noch weiter: 1,7 Milliarden Euro sind bei Medikamenten, Vertragspartnern und vielleicht sogar im eigenen Bereich „hebbar“; die Krankenkasse wird zum Sparverein, aber niemand darf es merken. Spätestens jetzt müssten die Obleute der Sozialversicherung sich ihrer Versichertennähe besinnen und aufschreien: unmöglich, undenkbar, Unsinn!

Aber nein: Es wird geduckt, geschluckt und man hofft, noch einmal davon zu kommen. Mit einer kleinen Staatsstütze hier, einer umschriebenen Leistungseinschränkung oder einer Honorarbegradigung da, einer Rezeptgebührenerhöhung dort erreicht man vielleicht das rettende Ufer. Ausbalancierte Scorecards, die jedem – inzwischen bankrottierten – Marktanbeter des frühen Jahrtausends zur Ehre gereicht hätten, werden still akzeptiert, unerreichbare Sparziele kritiklos vor sich her getragen und es wird nicht die geringste Bereitschaft gezeigt, das zu sagen, was gesagt werden muss: Eine seit mehr als einem Jahrzehnt stagnierende Kassenmedizin soll noch weiter ausgedünnt, demontiert und ausgesogen werden!

Die solidarische Versicherung kann nicht grenzenlos belastet werden. Sie ist mittlerweile vielmehr an ihre Grenzen geraten. Was abseits davon bleibt, ist Klassenmedizin, Versorgung von Wohlhabenden und eine noch weiter klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Dabei meine ich nicht die Anschaffung von Luxusgütern welcher Art auch immer – sondern die Gesundheit, unser höchstes Gut.

Wenn uns der Erhalt des Finanzstandortes Österreich Milliarden wert ist, dann muss es uns auch der Erhalt der sozialen Krankenversicherung wert sein. Sonst wird es der Patient – schmerzlich – merken!


Günther Wawrowsky

3. Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 / 25.02.2010