US-Gesundheitswesen: ObamaCare hält Einzug

10.11.2010 | Politik

Vor sechs Monaten hat US-Präsident Barack Obama seine Unterschrift unter die historische Neuordnung des amerikanischen Gesundheitswesens gesetzt. Nun spüren die US-Bürger die ersten Effekte.
Von Nora Schmitt-Sausen

Mehr als ein Jahr haben Obama und die Demokraten für die Reform des US-amerikanischen Gesundheitswesens gekämpft. Nun ist die erste Welle der neuen Regularien in Kraft getreten. Ab sofort dürfen Kinder nicht mehr wegen Vorerkrankungen von den Versicherern abgelehnt werden, junge Erwachsene können künftig bis zum Alter von 26 Jahren bei ihren Eltern mitversichert sein. Bei chronisch Kranken und alten Menschen dürfen die Versicherer ihre Gesundheitsleistungen nicht mehr beschränken. Auch bei der Prävention hat sich einiges getan. Die US-Bürger erhalten ab sofort Vorsorgeuntersuchungen wie Impfungen oder Brustkrebs-Screenings, ohne diese zusätzlichen Leistungen bezahlen zu müssen. Obama und die Demokraten erhoffen sich durch die substantiellen Eingriffe in das System einen Aufschwung in der Wählergunst. Doch stehen die meisten Amerikaner Obamas Prestigeprojekt weiter skeptisch gegenüber.

Wenig Zustimmung

Laut einer aktuellen Erhebung der Stanford Universität befürworten gerade einmal 30 Prozent die Reform, 40 Prozent lehnen sie ab, weitere 30 Prozent stehen der Neuregelung neutral gegenüber. Die Reformgegner wehren sich gegen die Einmischung des Staates in ihre persönlichen Belange. Die Befürworter des historischen Gesetzes wünschen sich dagegen, der Staat solle noch stärker in das Gesundheitswesen eingreifen, um die Versicherer zu entmachten. Die Mehrheit der US-Bürger eint, dass sie „verunsichert über die Reform“ seien, auch deshalb, weil weiterhin viele Falschinformationen über das Jahrhundertgesetz im Raum stünden. So glaubten beispielsweise drei von zehn Senioren, dass die Regierung über die medizinische Versorgung an ihrem Lebensende entscheide, teilte die renommierte Kaiser-Stiftung mit.

Zumindest die amerikanischen Krankenversicherer haben sich inzwischen auf die neue Situation eingestellt. Viele von ihnen haben in den vergangenen Monaten die Bürokratie in ihren Unternehmen eingedämmt, neue Versicherungspolicen entwickelt und in Personal und Technik investiert. Gesundheitsexperten sagen allerdings voraus, dass durch die Reform einigen Versicherern das Aus droht, da es ihnen in Zukunft nicht mehr möglich sein wird, Versicherte mit hohen Gesundheitsrisiken abzulehnen. Den Befürchtungen vieler Amerikaner, die Reform würde sich in höheren Kosten für die Policen wiederfinden, tritt Obama in diesen Tagen entschieden entgegen. Sollten die Kosten steigen, wäre dies einzig auf das Gebaren der Versicherer zurückzuführen, betont der Präsident. Obama pocht dagegen auf die Notwendigkeit der Reform: „Der größte Faktor unseres Hauhaltsdefizits sind die kontinuierlich steigenden Kosten unseres Gesundheitssystems. Es hat Familien, Unternehmen und unsere Regierung bankrott gemacht.“

Die ersten großen Eckpunkte der Reform greifen just in dem Moment, in dem die Lage in den USA besonders prekär ist. Die anhaltende Wirtschaftskrise mit ihren konstant hohen Arbeitslosenzahlen hat die Zahl der unversicherten Amerikaner weiter in die Höhe schnellen lassen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes der USA lag die Zahl der Bürger, die nicht krankenversichert waren, im vergangenen Jahr bei 50,7 Millionen. Das sind noch einmal um 4,3 Millionen Menschen mehr als im Jahr 2008.

Versicherungspflicht ab 2014

Auf die ersten Umsetzungsschritte von ObamaCare folgen weitere: Ab 2014 gibt es eine Versicherungspflicht für alle Amerikaner. Die Krankenversicherer dürfen dann niemanden mehr wegen Vorerkrankungen ablehnen. Auch Unternehmer sollen bis zu diesem Zeitpunkt dazu gezwungen werden, ihren Arbeitnehmern eine Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen. Bislang besteht eine solche Pflicht nicht. Wer sich nicht versichert, muss eine Strafe zahlen. Sie richtet sich nach dem Einkommen. Außerdem soll das staatliche Versicherungsprogramm für sozial Schwache in den kommenden Jahren stark ausgeweitet werden. Bis zum Jahr 2019 sollen auf diesen Wegen mindestens 32 Millionen unversicherte Amerikaner versichert werden. Die entstehenden Mehrkosten sollen durch Steuergelder der amerikanischen Oberklasse und Einsparungen im System aufgebracht werden. Insgesamt kostet die Reform in den nächsten zehn Jahren 940 Milliarden Dollar. Gleichzeitig sollen die massiven Eingriffe in das System dazu beitragen, das amerikanische Haushaltsdefizit im gleichen Zeitraum um 143 Milliarden Dollar zu verringern.

Doch die Opposition gegen die Reform ist weiter aktiv: Mehr als 20 republikanisch geführte Bundesstaaten haben Klage gegen das Gesetz erhoben, weil es gegen die Verfassung verstoße. Versicherer und Arbeitgeber versuchen, die Neuregelungen zu unterwandern. Im laufenden Wahlkampf zu den Kongresswahlen im November ist die Reform eines der großen Themen. Die Republikaner behaupten, sie würde „die Gesundheitskosten steigern, die Staatsverschuldung verschlimmern und zu mehr Bürokratie führen“. Sollten die Konservativen bei der Zwischenwahl die Mehrheit im Kongress zurückgewinnen, drohen sie damit, weite Teile der hart umkämpften Jahrhundertreform wieder zurückzunehmen.

Eckpunkte des US-Systems

Das amerikanische Gesundheitswesen zählt zu den teuersten der Welt. Es verschlingt jährlich mehr als 16 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Eine Versicherungspflicht gab es bislang nicht. Etwa 60 Prozent der US-Bürger sind über ihren Arbeitgeber versichert. Für sozial Bedürftige, Senioren und Menschen mit Behinderungen gibt es staatliche Versicherungsprogramme. Nur wenige Amerikaner besitzen einen privaten Versicherungsschutz, denn dieser ist sehr teuer.

Viele US-Bürger sind durch Jobwechsel oder Jobverlust regelmäßig für mehrere Monate nicht versichert oder chronisch unterversichert. Die Versicherungsleistungen und die Höhe der Prämien richteten sich meist nach dem Gesundheitszustand der Versicherungsnehmer. Die Versicherer konnten Bürger mit Vorerkrankungen ablehnen und das Versicherungsverhältnis aufkündigen, wenn die Kosten für Behandlungen zu hoch waren.

Obamas Unterschrift unter der Reform war hart erkämpft. Demokraten und Republikaner lagen sich mehr als ein Jahr erbittert in den Haaren; die mächtige US-Gesundheitslobby torpedierte die Reform bis zuletzt mit Millionen schweren Kampagnen. Letztendlich drückte Obama die Reform im Frühjahr 2010 ohne eine einzige Stimme der Republikaner durch den Kongress. Dass ein solch großes legislatives Projekt ohne jeden Zuspruch der Opposition zu Stande gekommen ist, hat es in den USA noch nie gegeben.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2010