Symposium „Herausforderung Humanität“: Neues Wertesystem erforderlich

25.01.2010 | Politik

In Zukunft werden die 50- bis 80-Jährigen als gesellschaftliche Mehrheit das Leben in Österreich bestimmen. Welche Herausforderungen dadurch auf die Medizin – auch im Hinblick auf ethische Fragestellungen – zukommen, erläuterten Experten von verschiedenen Blickwinkeln. Von Sabine Fisch  

Als „epochalen Prozess“ bezeichnet Prof. Dieter Otten vom Institut für Soziologie der Universität Osnabrück die Veränderungen der Altersstruktur in der westlichen Welt. „Durch diesen Prozess muss ein neues Wertgefüge entstehen, zu dessen Konstruktion wir alle beitragen – ob wir wollen oder nicht“, erklärte Otten anlässlich des vom Europäischen Forum Alpbach in Zusammenarbeit mit der ÖÄK veranstalteten Symposiums „Herausforderung Humanität – Ethik in der Medizin“.

In nicht allzu ferner Zukunft werden die 50- bis 80-Jährigen als gesellschaftliche Mehrheit das Leben in Österreich bestimmen; denn schon in wenigen Jahren werden mehr als 50 Prozent der Österreicher über 50 Jahre alt sein. Dies ist ein enormer Gegensatz zu anderen Ländern wie etwa Indien, wo rund 45 Prozent der Menschen jünger als 20 Jahre sind. Und diese „Überalterung“ bedeutet eine Herausforderung, nicht nur für die Gesellschaft, sondern speziell auch für die Medizin. Neue ethische Grundregeln scheinen notwendig zu sein, um das gesellschaftliche Wertesystem umzubauen, zukunftssicher zu machen.

Ethik in der Forschung, Ethos und Wissenschaftsglaube waren die zentralen Themen. Die Ethik ist die Lehre vom richtigen Handeln. Ethik handelt davon, wie die Gesellschaft aussehen soll, sie stellt damit keine Beschreibung der Fakten in einer Gesellschaft dar. Felix Ekardt von der juristischen Fakultät der Universität Rostock meinte dazu in seinem Vortrag: „Ethische Erkenntnis ist keine empirische und insbesondere keine naturwissenschaftliche Erkenntnis. Sie ist vielmehr eine normative Erkenntnis.“ Dennoch, so der Experte, seien die Grundprinzipien der Ethik durchaus objektiv zu betrachten. Ekardt illustrierte das mit einem Beispiel: Die konkrete Entscheidung ethischer Einzelfragen, wie etwa beim Thema Embryonenforschung oder Rationierungen im Gesundheitssystem sind meist unscharf. Dennoch weisen die Abwägungsregeln und die institutionellen Zuständigkeiten, die den Entscheidungsspielraum bei Unschärfen näher eingrenzen, objektive Kriterien auf. „Allerdings ist jede ethische Entscheidung letztlich ein Abwägungsproblem, in der Ethik kann es keine Absolutheitsansprüche geben“, so Ekardt.

Jede Ethik – auch jede wissenschaftliche Ethik – ist ohne Freiheit nicht möglich – postulierte Prof. Thomas Görnitz vom Institut für Didaktik der Physik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Auch wenn der Mensch durch seine genetische Konstitution, seine Beziehungen und seine soziale Umwelt eingeengt wird, kann er doch freie Entscheidungen treffen. „Deshalb würde eine Konzentration medizinischer Forschung lediglich auf die materiellen Aspekte des Menschen der leib-seelischen Einheit des Menschen und der bedeutsamen Rolle des Geistigen nicht gerecht werden können“, betonte Görnitz. Freiheit sei daher eine unabdingbare Voraussetzung für ethische Entscheidungen.

Über- und Fehlinformation

Ein eher düsteres Bild der Ethik in der modernen Gesellschaft entwarf dagegen der Schriftsteller Max Otte, Professor für allgemeine und internationale Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Worms. „Die allgegenwärtige Konsumwelt, die auf Schein und Verführung aufgebaut ist, arbeitet größtenteils mit Über- und Fehlinformationen“, erläuterte Otte in seinen Ausführungen. Und weiter: „Übertragen auf die menschliche Psyche heißt dies, dass die Verführung zu unkritischem Rezipieren all jener Dinge, die den Menschen umgeben, letztlich Ausdruck einer in sich unethischen Gesellschaftsstruktur ist.“ Zu einem ethischen Denken und Handeln könne man nur dann kommen, wenn es aufrechte demokratische Strukturen gibt. Diese sieht der deutsche Schriftsteller allerdings nur in geringem Ausmaß gegeben. Er forderte zur Rückkehr in eine demokratische Welt und zur Ermittlung eines Mittelwegs zwischen liberal, ausgewogen und gesamtstaatlich auf. Denn „derzeit werden Kommunikationswelt, Finanzwelt und reale Produktionswelt nur durch die Lüge der ‚Schein-Kommunikation‘ aufrecht erhalten“ – so sein Fazit.

Wissenschaft im Spannungsfeld

Inmitten der gesellschaftlichen Ethik-Debatte steht die medizinische Forschung, die sich beinahe täglich mit ethischen Fragen beschäftigen muss. Es gibt eine ethisch neutrale Grundlagenforschung und die Anwendung des dabei gewonnenen Wissens. Diese Vorstellung schien über lange Zeit Gültigkeit zu haben, mittlerweile wird diese These allerdings immer stärker angezweifelt. Wie Univ. Prof. Günther Pöltner, stellvertretender Vorsitzender der Bioethikkommission im Wiener Bundeskanzleramt anmerkte, „steht bereits die Theorie unter einem ethischen Vorzeichen“. Als Beispiel nannte er etwa die verbrauchende Embryonenforschung.

Pöltner sieht den Arzt im Spannungsfeld zwischen Heilung und Forschungsinteresse. Der Heilungsauftrag bedeutet, dass der Arzt seine medizinische Kompetenz in Verantwortung für einen realen Kranken ausübt. Ist der Arzt, der Kranke behandelt, außerdem Forscher, verstärkt sich das Spannungsfeld ins Unermessliche, da plötzlich nicht mehr nur die Behandlung von Kranken, sondern auch Forschungsinteressen, die eigene Karriere, aber auch der wissenschaftliche Ruf und ökonomische Ziele eine Rolle spielen. Der Philosoph Pöltner sieht in der Zukunft eine Verstärkung dieser Spannung, dann nämlich, wenn es abzuwägen gilt zwischen den Bedürfnissen von Kranken und den Interessen des Marktes. „Es ist trivial zu behaupten, Forschung benötigt Geld“, merkte Pöltner an, der dies aber auch als sozialethisches Problem sieht. „Für welche Art von Forschung gibt es Geld und Ressourcen?“ Eine reine Wirtschaftsfrage sei die Ethik in der Medizin deswegen allerdings nicht. Sie muss vielmehr im Rahmen einer gesellschaftlichen Debatte erörtert werden“, meinte der Philosoph abschließend.

Mehr Vertrauen

Vertrauen in die Wissenschaft forderte der Rektor der Medizinischen Universität Wien, Univ. Prof. Wolfgang Schütz, in seinem Statement ein. Damit sei allerdings kein „blinder Glaube“ an die Wissenschaft gemeint, denn dieser hätte speziell in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Bild des Arztes als „Gott in Weiß“ geführt, der paternalistisch über das Patientenschicksal bestimmt. „Dies ist zum Glück vorbei“, hielt Schütz fest. Er sieht die Wissenschaft nicht als starres Lehrgebäude, sondern als sich immer in Bewegung befindliches System. „Schon Karl Popper hat gesagt, wissenschaftliche Arbeit ist die Aufdeckung von Falsifizierungen“, erläuterte Schütz. „Und es kann dauern, bis sich ein solcher falsifizierender Befund durchsetzt.“

Umfassend informieren

„Um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft zu stärken, sind zwei Dinge vonnöten: Transparenz und die Einhaltung einer ‚…good scientific practice…‘ sowie verstärkte Öffentlichkeitsarbeit von Seiten der Wissenschaft“, führte Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, aus. Denn wenn Fortschritte in der medizinischen Forschung von der Bevölkerung nicht verstanden würden, könne dies Angst auslösen: „Und diese Angst kann auch instrumentalisiert werden“, zeigte sich Druml überzeugt.

Die wissenschaftliche Forschung in der Medizin wird sich auch in Zukunft immer in einem Spannungsfeld bewegen müssen: Denn je mehr Möglichkeiten in der Medizin zur Verfügung stehen, umso mehr neue Probleme und Dilemmata werden damit produziert. „Der Weg der Moderne erweist sich nicht selten als janusköpfig“, bemerkte Univ. Prof. Ulrich Körtner, Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien. „Entwicklungen wie die Intensivmedizin, die medizinische Genetik oder die Reproduktionsmedizin haben den Spielraum medizinischen Handelns enorm erweitert, erfordern aber auch täglich aufs Neue die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen“, so der Theologe. „Dies alles spricht nicht gegen den medizinischen Fortschritt. Vielmehr ist es die Aufgabe der Ethik in der Medizin, kritisch mit Ambivalenzen umzugehen, und – bei allem Fortschritt – die Endlichkeit und Fragmenthaftigkeit des Lebens nicht zu vergessen.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2010