Suizidologie: Werther, Papageno und so weiter…

25.10.2010 | Politik

Univ. Prof. Gernot Sonneck tritt nach 40 Jahren als Arzt, Psychiater, Psychotherapeut, Individualpsychologe, Universitätslehrer und Forscher in den Ruhestand. In der ÖÄZ zieht er Bilanz: über seine Erfolge und Misserfolge, über die Situation der Psychiatrie in Österreich, und er verrät, wie man vielleicht gleich mehrfach den Nobelpreis gewinnen könnte.
Von Ruth Mayrhofer

Worauf Gernot Sonneck in seinem Leben besonders stolz ist? „Auf meine Familie!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Seine Frau, seine beiden Töchter, beide Ärztinnen, „obwohl sie mitbekommen haben, dass ein Leben als Arzt durchaus auch Schattenseiten hat“, seine drei Enkelkinder, die ihm viel Freude bereiten. In beruflicher Hinsicht ist es sein „drittes Kind“, das Kriseninterventionszentrum (KIZ) in Wien, dem er seit 1983 als Ärztlicher Leiter und seit 1999 als Vorsitzender vorsteht, das den gebürtigen Wiener stolz macht.

Doch halt! Manche Geschichten muss man von Anfang an erzählen: Sonneck, 1942 geboren, wollte „schon als kleines Kind Arzt werden“. Sein Studium absolvierte er „rund um die Musik“, also um eine durchaus sehens-, pardon, hörenswerte Hornistenlaufbahn. Dass er sich in Psychiatrie spezialisieren sollte, war ebenso – zumindest indirekt – der Musik zu verdanken. Ein Musikerkollege fragte ihn, in welches Fach er wohl gehen wollte. Sonneck, der noch keine konkreten Vorstellungen hatte, war dennoch nicht verlegen. „Raten Sie einmal“, war seine Antwort. Darauf der Kollege: „Ich glaub‘, Sie könnten ein guter Psychiater werden“.

Wegbegleiter Erwin Ringel

Bei den ersten Psychiatrie-Vorlesungen begegnete Sonneck dem legendären Erwin Ringel, den er in fachlicher und menschlicher Hinsicht schätzen lernte, lange Zeit mit ihm zusammen arbeitete und heute als Freund vermisst. Die Suizidologie – das Spezialgebiet, mit dem Sonneck weit über Österreichs Grenzen hinaus berühmt werden sollte – steckte damals, in den 1970er Jahren, in den Kinderschuhen. Die Empirie war gerade erst im Entstehen. Mit Ringel erforschte er das Präsuizidale Syndrom und „erfand“ mit ihm gemeinsam
die Vital-Instabilität. Sonneck selbst verbrachte einen einjährigen Studienaufenthalt am Crisis Intervention Center und Center for Selfdestructive Behavior in Los Angeles. Aus diesen Erfahrungen heraus entstand auch im Zusammenhang mit dem Anspruch einer „gemeindenahen Psychiatrie“ die Idee zum Wiener KIZ, in dem erstmals die psychosoziale Krise in den Mittelpunkt gerückt wurde.

Psychiatriereform: Hinter den Kulissen

Mit seinen Kollegen Heinz Katschnig, Wolfgang Berner und Michael Leodolter arbeitete Sonneck ebenfalls in den 1970ern an einer Psychiatriereform für Wien. Sie sollte „sanft“ vor sich gehen: ausgehend von Floridsdorf sollte sie sich peu à peu und auf den jeweiligen Erfahrungen aufbauend realisieren lassen. Dass der damalige Gesundheitsstadtrat Alois Stacher sich letztlich für eine Paukenschlag-Umsetzung für ganz Wien entschieden hat, sieht Sonneck noch heute mit sehr gemischten Gefühlen: „Die Umsetzung war außerordentlich schlecht. Es ist alles passiert, was wir befürchtet haben. Die Suizide sind in die Höhe geschnellt; die Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt vielfach in Krankenhäusern untergebracht waren, waren orientierungslos, wohnungslos, erlitten vielfach grausame Schicksale“. Diese Entwicklungen waren vorherzusehen, hatte man doch in den USA davor ähnliche Erfahrungen anlässlich des Mental Health Acts machen müssen. Aber aus heutiger Sicht, so der Experte, sei die Reform natürlich „letztlich positiv“ gewesen, die Psychiatrie entstigmatisiert worden.

KIZ: Wege aus der Krise

Schon in den 1980er Jahren setzte sich Sonneck mit seinen Mitarbeitern mit damals neuen Themen wie Burnout und Mobbing auseinander. Noch heute rangieren bei den KIZ-Klienten Arbeitsprobleme nach Partner- und Eltern-/Kind-/Generationsproblemen auf Rang 3. Aber, erzählt Sonneck, die Krisen, weswegen die Menschen heute das KIZ aufsuchen, seien vielfältiger geworden: „Früher gab es ein Hauptproblem und das war’s. Heute sind zwei oder mehr Probleme ineinander verzahnt. Da wird’s oft schwierig“.

Wie wichtig die Einrichtung KIZ ist, lässt sich am besten mit Zahlen belegen: 2009 wurden 1.561 Personen in 8.772 Einzelkontakten betreut. Zusätzlich wurden knapp 3.000 Personen, die das KIZ nicht persönlich aufsuchten, telefonisch beraten. 20 Prozent dieser Menschen werden an ambulante Beratungsstellen, Sozialämter, Krankenhäuser, etc. weitervermittelt. Die Beratung und Behandlung im KIZ kann Einzelberatung, Einzelkurzpsychotherapie, Fokalpsychotherapie, Partner- und Familienberatung und -therapie, medikamentöse Therapie, Sozialberatung sowie kurzfristige finanzielle Aushilfen und Unterstützung im Kontakt mit anderen Institutionen und Behörden beinhalten. Weiters beschäftigt sich das KIZ mit der psychosozialen Versorgung, der nationalen und internationalen Vernetzung sowie nicht zuletzt in Zusammenarbeit mit dem Ludwig Boltzmann-Institut für Sozialpsychiatrie mit Wissenschaft und Forschung.

Forschung mit positiven Konsequenzen

Besonders bei Letzterem kann das KIZ eindeutig punkten: In der sogenannten ‚Wiener Werkstätte für Suizidforschung‘ arbeiten derzeit über 20 junge Ärztinnen und Ärzte beziehungsweise Wissenschafter, die, so Sonneck, „gescheit, ehrgeizig, bestens ausgebildet und einer besser als der andere“ sind, und „die publizieren, dass es nur so raucht“.

Hat Sonneck Ende der 1980er mit seinen Untersuchungen zum Werther-Effekt die Medien darauf aufmerksam gemacht, dass eine angemessene Art der Berichterstattung über Suizide einen Anstieg im Sinne eines Imitations-(Werther)-Effektes verhindern könnte (was funktionierte), kreierte er mit seinem Team – federführend Thomas Niederkrotenthaler – 25 Jahre später den Papageno-Effekt, der darauf abzielt, mit den Meldungen über Bewältigungsstrategien Suizide zu verhindern. Ob die Berichterstattung über diese Bewältigungsstrategien ab nun die Seiten füllen wird? Sonneck, lächelnd: „Ja, das wäre schön!“ Die entsprechende Arbeit wurde erst im September 2010 im renommierten British Journal of Psychiatry publiziert. Das hat Sonneck, wie er sagt, „überaus gefreut; so geht man gern in Pension!“

Außerdem: Mit Martin Voracek publizierte er schon 2007 eine Studie, die sich mit indirekten Indikatoren für die Genetik der Suizidalität auseinandersetzt. Der Hintergrund: Übereinstimmende Befunde aus Familien-, Adoptions-, Migranten- und Zwillingsstudien legen eine Beteiligung genetischer Risikofaktoren für Suizide nahe. Nach Bildung von fünf Familiennamen-Clusters (quasi, weil der Familienname an das Y-Chromosom gebunden ist), stellte sich heraus, dass regionale Unterschiede in der Suizidrate mit der genetischen Struktur in Österreich korrespondieren. Zu regionalen Unterschieden im Suizidaufkommen tragen also vermutlich auch genetische Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen bei.

Wie man Nobelpreise gewinnen könnte

Gernot Sonneck arbeitete auch bei der Verschärfung des EU-Schusswaffengesetzes in Österreich maßgeblich mit. Schließlich sind Schusswaffen-Suizide bei Männern nach wie vor die am zweithäufigsten gewählte Methode. Allein durch die Zugangsbeschränkungen (psychologische Tests, Aufbewahrungsvorschriften) sind die Schusswaffen-Suizide um 40 Prozent, jene der Schusswaffen-Morde um 60 Prozent zurückgegangen (Nestor Kapusta), wie überhaupt seit Mitte der 1980er Jahre die Suizide in Österreich um 40 und in Wien um 60 Prozent zurückgegangen sind. Sonneck: „Wenn das bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen gelänge, bekäme man ungeschaut den Nobelpreis zehn Jahre lang!“

Was nicht gelungen scheint …

Sonneck als Individualpsychologe bedauert, dass in dieser Methode derzeit der Zug eher in Richtung Psychoanalyse fährt: „Daran bin ich nicht unschuldig, ich habe dafür zu wenig getan. Aber man kann nicht überall gewinnen“.

Auf den bestehenden und zukünftig weiteren Mangel an Psychiatern angesprochen, reagiert Sonneck kritisch: „Die Wartezeiten bei niedergelassenen Psychiatern liegen zwischen drei bis sechs Wochen. Das ist eine Katastrophe!“ Er plädiert daher für ein Mehr an Ausbildungsplätzen, eine längerfristige bedarfsorientierte Planung und für eine faire volkswirtschaftliche Rechnung: „Ein Plus an psychiatrischen Praxen ist sicherlich nicht im primären Interesse der Sozialversicherung, denn das kostet Geld. Aber: Wenn es uns am KIZ gelingt, pro Jahr nur 30 Suizidversuche zu verhindern, hätten wir schon unser gesamtes Jahresbudget verdient, wenn es dafür eine ‚volkswirtschaftliche Kassa‘ gäbe. Für das Geld, das volkswirtschaftlich durch einen einzigen Suizid verloren geht, kann man 20 Menschen mit bipolarer Störung lebenslang behandeln. Aber die Sozialversicherung sagt mit Recht, ‚zeigen Sie mir den Topf, in den wir hineingreifen können‘. Und den gibt es nicht“.

Sonneck wird sich anlässlich seiner Emeritierung aus allen Funktionen zurückziehen: „Das sollen die Jungen machen“. Allerdings: Ein Nachfolger für seine Position als Vorstand des Instituts für Medizinische Psychologie der Medizinischen Fakultät Wien ist nicht vorgesehen, ein Umstand, der Sonneck sehr nachdenklich stimmt, genauso, dass die Sozialpsychiatrie in der Nachfolge von Heinz Katschnig „schon ewig unbesetzt“ ist. Schließlich gäbe es nur mehr in Wien diesen Lehrstuhl; „das ist schon schade“.

In Sachen Medizinischer Psychologie ist der Stand der Dinge aktuell der, dass sie als Subeinheit von Public Health bis 2012 erhalten bleibt. Dann will man weitersehen. Sonneck, nüchtern: „Es ist mir leider nicht gelungen, die Medizinische Psychologie so zu verankern, dass es zu einer unproblematischen Fortsetzung und Weiterentwicklung gekommen wäre“.

„Die Wartezeiten bei niedergelassenen Psychiatern liegen zwischen drei bis sechs Wochen. Das ist eine Katastrophe“
Gernot Sonneck

 

Zur Person

Geboren 1942 in Wien, verheiratet, zwei Töchter, drei Enkelkinder
1961: Studium der Medizin an der Wiener Medizinischen Fakultät
1970: Promotion zum Dr. med.
1970 – 1976: Ausbildung in Psychotherapie
Seit 1972: Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Sozialpsychiatrie (Krisen- und Stressforschung)
1970 – 1976: Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie
1973: Studienaufenthalt am Crisis Intervention Center and Center for Self-Destructive Behavior, Los Angeles, USA
1976 – 1979: Leiter der Ambulanz der Psychiatrischen Universitätsklinik Wien
1977 – 1983: Stv. Ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums (KIZ) in Wien
1983: Habilitation für Psychiatrie; Ärztlicher Leiter des KIZ
1984 – 1995: Oberarzt am Institut für Medizinische Psychologie Wien
(1985-1991: Stellvertreter des Institutsvorstands)
1985 – 1995: Generalsekretär der Internationalen Vereinigung für Suizidverhütung und Krisenprävention (IASP)
Seit 1986: Lehr- und Kontrollanalytiker (Individualpsychologie)
1989: Berufstitel außerordentlicher Universitätsprofessor
Seit 1990: Mitglied der Internationalen Akademie für Suizidforschung (IASR)
1995 – 1999: Mitglied des Obersten Sanitätsrates
Seit 1996: ordentlicher Universitätsprofessor für Medizinische Psychologie und Vorstand des Instituts für Medizinische Psychologie der Medizinischen Fakultät
Seit 1999: Vorsitzender des KIZ Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, im wissenschaftlichem Beirat von namhaften Fachzeitschriften

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2010