Off-Label-Use von Arzneimitteln: Heikel, aber nicht verboten

10.06.2010 | Politik

Wird ein Arzneimittel „off label“, also ohne Zulassung für eine bestimmte Indikation oder gänzlich ohne Zulassung angewendet, ergeben sich damit durchaus heikle Anforderungen und Fragestellungen für den Arzt. Die Haftung ist nur eine davon. Und ganz abgesehen davon haben auch Arzneimittelhersteller wenig Freude mit einer nicht zulassungsgemäßen Verwendung ihrer Produkte.
Von Ruth Mayrhofer

Der Zulassungsprozess eines Arzneimittels ist kostenintensiv und nimmt Zeit in Anspruch. Daher hinkt oftmals – vor allem im Bereich der Onkologie – der Zulassungsstatus hinter dem medizinischen Wissen hinterher. Oft fehlen für eine Zulassung auch die medizinischen Studien, wie etwa für die Anwendung bei Kindern, oder bei Arzneimitteln, die schon lange am Markt verfügbar sind.

Bei der Verwendung von Arzneimitteln im nicht zugelassenen Bereich sind folgende Abstufungen zu unterscheiden:
1) Nicht zugelassenes Arzneimittel, bei dem die Zulassung noch nicht erteilt oder nicht beantragt, oder die Verwendung unter bestimmten Bedingungen behördlich untersagt wurde sowie
2) Die Verwendung eines an sich zugelassenen Arzneimittels in einem Indikationsgebiet, für das keine Zulassung besteht („Off-Label-Use“).

„Das österreichische Recht kennt den Begriff ‚Off-Label-Use‘ nicht. Dennoch ist ein solcher aber nicht grundsätzlich verboten. Die Möglichkeit der Anwendung eines Arzneimittels außerhalb der zugelassenen Indikation wird vom europäischen Gesetzgeber – als ‚Compassionate Use‘ – genauso wie in § 8 Abs. 1 des österreichischen Arzneimittelgesetzes (AMG) geregelt“, erklärt Maria-Luise Plank, Rechtsanwältin und Spezialistin für Arzneimittelrecht in Wien.

Off-Label-Use: Ärzte haften!

Nach § 49 ÄrzteG hat der Arzt nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung sowie unter Einhaltung der bestehenden Vorschriften und der fachspezifischen Qualitätsstandards, das Wohl der Kranken und den Schutz der Gesunden zu wahren. Verwendet der Arzt ein Arzneimittel außerhalb der zugelassenen Indikation oder verwendet er ein Heilmittel, dem die Zulassung gänzlich fehlt, stellt sich die Frage, ob er in diesem Falle die alleinige Haftung für das Produkt übernimmt. Hat der Hersteller der Verwendung in dieser Indikation widersprochen oder sind keine Studien, die die Wirksamkeit belegen, verfügbar, liegt unbestreitbar „kein bestimmungsgemäßer“ Gebrauch vor, der für eine mögliche Herstellerhaftung erforderlich ist. In diesem Fall ist der Patient darüber aufzuklären, dass das Unternehmen für die beim Patienten eingetretenen Schäden nicht haften wird. Die Beweissituation des Arztes verschärft sich zusätzlich, wenn in dieser Indikation ein zugelassenes Arzneimittel verfügbar ist. In diesem Fall wird die Haftpflichtversicherung des Arztes eine grob fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung des Arztes prüfen. Daher kommt bei einer Off-Label-Anwendung eines Arzneimittels der Patienteninformation und Patientenaufklärung große Bedeutung zu. Eine lediglich mündlich erfolgte Aufklärung reicht; dies wurde übrigens durch ein OGH-Urteil unterstützt.

SV ist erstattungspflichtig

Nach der Rechtssprechung des Verwaltungsgerichtshofes* sind „nicht konventionelle Therapien“ nicht gänzlich von der Kostenerstattungspflicht der sozialen Krankenversicherung ausgenommen. Auch der Oberste Gerichtshof° erkannte, dass die Erstattung der Kosten einer erfolgreichen Therapie nicht mit der bloßen Begründung abgelehnt werden kann, dass die angewandte Arzneispezialität in Österreich nicht zugelassen ist beziehungsweise die Verwendung im Inland untersagt ist. Entscheidend ist vielmehr, ob eine gleich teure oder sogar teurere, aber wissenschaftlich anerkannte sonstige zumutbare Behandlung mit schulmedizinisch anerkannten Methoden versucht wurde und diese nicht erfolgversprechend gewesen wäre. Kann nämlich schon mit derartigen schulmedizinischen Methoden das Auslangen gefunden werden, dann kommt der Ersatz der Kosten einer Außenseitermethode nicht in Betracht.

In § 6 Abs 1 der Richtlinien über die ökonomische Verschreibweise von Heilmitteln („RöV“) wird die Rechtsprechung und Lehre zur Kostenerstattung von nicht zugelassenen Arzneimitteln wie folgt umgesetzt**: Bei Verschreibung von in Österreich nicht zugelassenen Heilmitteln ist dann eine Chef- und Kontrollärztliche Bewilligung möglich, wenn eine zumutbare, erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst mit in Österreich zugelassenen Heilmitteln nicht zur Verfügung steht oder erfolglos blieb und die Behandlung mit dem nicht zugelassenen Heilmittel erfolgreich war oder von der Behandlung nach den Ergebnissen einer für die Bildung des Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen ein Erfolg erwartet werden konnte.

Off-Label-Use am Beispiel Avastin/Lucentis

Das wohl in Österreich bekannteste Beispiel für Off-Label-Use von Arzneimitteln ist jener von Avastin. Die Substanz, die ausschließlich für die Verwendung im Krankenhaus gedacht ist, wird von der Firma Roche hergestellt und verfügt derzeit über vier Zulassungen bei fortgeschrittener Krebserkrankung in unterschiedlichen Dosierungen für Kolorektal-Karzinom (met. CRC), Brustkrebs (met. BC), nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (met. NSCLC) sowie Nierenkrebs (met. RCC). Zu diesem Medikament liegen für diese Indikationen rund 300 klinische Studien vor, 40.000 Menschen wurden und werden damit behandelt. In Zukunft erwartet Roche weitere 20 Zulassungen für dieses Arzneimittel, darunter schon bald für Glioblastom, Eierstockkrebs, Prostatakrebs und Magenkrebs. Die EU-Erstzulassung ist übrigens 2005 für metastasierenden Dickdarmkrebs erfolgt. Dennoch wird dieses Krebsmedikament im Rahmen eines Off-Label-Use gern zur Therapie einer altersbedingten Makuladegeneration (AMD) angewandt. Studien für einen solchen Gebrauch liegen nicht vor.

„Wir haben wirklich keine Freude mit der Off-Label-Anwendung von Avastin in der Augenheilkunde“, betont Roche Austria-Sprecherin Nicole Gorfer. Schließlich gäbe es schon seit längerem Sicherheitsbedenken gegen einen Off-Label-Use von Avastin; zuletzt hat im Jänner 2009 die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) eine diesbezügliche Warnung ausgesprochen. Die Gründe dafür: Die benötigten Dosen Avastin werden aus größeren Gebinden entnommen; außerdem enthält Avastin keinerlei Konservierungsstoffe. Das Risiko von Augeninfektionen liegt daher gleich mehrfach auf der Hand. Ganz abgesehen davon liegen zum Einsatz von Avastin bei Altersbedingter Makula-Degeneration keinerlei Studien vor, und auch der Punkt „ausreichende medizinische Erfahrung“ ist, wie Gorfer betont, aus Roche-Sicht nicht zutreffend. „Viele sagen, wir sollten doch ganz einfach klinische Studien beginnen“, erzählt sie. „Augenheilkunde ist jedoch – ganz abgesehen von den hohen Kosten für solche Studien – kein Geschäftsfeld unseres Unternehmens und wird es wohl auch in Zukunft nicht werden“. Dazu kommt noch: Obwohl bei Problemen im Zuge eines Off-Label-Use der Hersteller rechtlich nicht haftbar gemacht werden kann, meint Gorfer doch, dass – zumindest medial – dieser im Fall der Fälle doch so etwas wie eine „schlechte Nachrede“ zur Folge haben würde. Ein Imageschaden für das produzierende Unternehmen sei daher „fast vorprogrammiert“.

Wenig Begeisterung herrscht in Sachen Off-Label-Use von Avastin auch bei Novartis Österreich. Das Novartis-Präparat Lucentis ist für Altersbedingte Makula-Degeneration (AMD) explizit zugelassen und ausreichend dokumentiert. Außerdem wird es als Single-Dose angeboten. Das Infektionsrisiko ist dadurch sehr gering. „Wir schätzen Avastin als ganz hervorragendes Krebsmedikament, das schon vielen Menschen geholfen hat“, betont Wolfgang Bonitz, Medical Director und Chief Scientific Officer von Novartis Pharma in Österreich. „Aber in der Indikation AMD ist es nicht nur aus gesetzlicher, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht keinesfalls zulässig“. Mit Lucentis werden jährlich rund 3.000 Patienten gegen AMD behandelt. Zum Ausmaß des Off-Label-Use von Avastin liegen Bonitz zufolge keine genauen Zahlen vor.

„Es gibt Nebenwirkungen“!

Die Frage, ob und wie viele Patienten mit Avastin als Off-Label-Use gegen AMD in Österreich behandelt wurden und ob es dabei auch schon zu Meldungen hinsichtlich unerwünschter Wirkungen gekommen sei, beantwortet Nicole Gorfer so: „Wir kennen leider keine genauen Patientenzahlen. Schließlich trägt der behandelnde Arzt allein die Verantwortung, wenn es um einen Off-Label-Use geht. Wir wissen jedoch verbindlich, dass es tatsächlich schon zu Nebenwirkungen in Form von Infektionen gekommen ist“. Wenn aber nun Avastin zur Therapie einer AMD weder zulässig und noch dazu nachgewiesenermaßen nicht nebenwirkungsfrei ist, warum wird das Arzneimittel dann noch immer Off Label angewandt? „Es geht um’s Geld“, stellt Wolfgang Bonitz, selbst Mediziner, trocken fest. Da Avastin für die Krebsbehandlung in größeren Dosen eingesetzt wird, ist der Preis pro Milligramm geringer als jener von Lucentis. Und da die Ökonomie in Spitälern ein großes Thema ist, wird eben dort aus rein wirtschaftlichen Erwägungen heraus ein Arzneimittel angewandt, das nicht zugelassen ist“.

° Erkenntnis vom 22.4.1991, ZNB 1992/3/1040
* OGH 26.11.1996, 10 ObS 2374/96g
** zuletzt OGH 29.4.2003, 10 ObS 409/02y

Die rechtliche Situtation

Europa: Compassionate Use (nach VO 726/2004)

Der europäische Gesetzgeber geht von der Möglichkeit einer Anwendung von Arzneimitteln außerhalb der Zulassung aus und hat in Art. 83 der VO 726/2004 zum zentralen Zulassungsverfahren eine Ausnahmeregelung vorgesehen, nämlich den sog. „Compassionate Use“. Ein Arzneimittel darf dann ohne Zulassung an Patienten verabreicht werden, wenn bereits eine Zulassung beantragt wurde oder eine klinische Prüfung zum Zweck der Zulassung noch nicht abgeschlossen ist. In diesem Fall können Patienten, die an einer zu Invalidität führenden chronischen oder schweren Krankheit leiden oder deren Krankheit lebensbedrohlich ist und eine Behandlung mit bereits zugelassenen Arzneimitteln nicht zufriedenstellend verlaufen ist, ein Arzneimittel auch im Off-Label-Use erhalten. Der Hersteller hat aber dabei die Pflicht, den Arzt und den Kostenträger (Sozialversicherung) mit einer ausreichenden Information über das Arzneimittel zu versorgen.

Österreich: Arzneimittelgesetz (AMG)
Das AMG regelt einen Off-Label-Einsatz von Arzneimitteln in § 8 Abs. 1 so: „Arzneispezialitäten bedürfen keiner Zulassung, wenn (…) 2. Ein zur selbständigen Berufsausübung im Inland berechtigter Arzt, Zahnarzt oder Tierarzt bescheinigt, dass die Arzneispezialität zur Abwehr einer Lebensbedrohung oder schweren gesundheitlichen Schädigung dringend benötigt wird und dieser Erfolg mit einer zugelassenen und verfügbaren Arzneispezialität nach dem Stand der Wissenschaft voraussichtlich nicht erzielt werden kann, oder (…).

Quelle: Bachinger/Plank, „Off Label-Use“ von Arzneimitteln, RdM-Ö&G, 2008/5

 

 

Off-Label-Use: Das Wichtigste auf einen Blick

Eine „nicht konventionelle Methode“ – dazu gehört auch Off-Label-Use – ist dann anzuwenden, wenn keine anerkannten schulmedizinischen Methoden zur Verfügung stehen oder diese keinen Therapieerfolg gebracht haben („ultima ratio“). Der Patient ist über diese Tatsache und die Konsequenz, dass der Heilmittelhersteller nicht für einen allfälligen Schaden einstehen wird, aufzuklären. Die soziale Krankenversicherung ist für Arzneimittel im Off-Label-Use dann leistungspflichtig, wenn eine zumutbare, erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst mit in Österreich zugelassenen Heilmitteln nicht zur Verfügung steht oder erfolglos blieb und die Behandlung mit dem nicht zugelassenen Heilmittel erfolgreich war oder vorliegende Studienergebnisse einen Erfolg erwarten lassen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2010