Lehrpraxen: In akuter Gefahr

10.11.2010 | Politik

Das international anerkannte Modell der Ausbildung von Jungärzten in Lehrpraxen droht in Österreich zu scheitern. In einer aktuellen Umfrage erklärten 65 Prozent der Lehrpraxisinhaber, dass sie seit Einführung des Kollektivvertrages keine Lehrpraktikanten mehr ausbilden.
Von Kurt Markaritzer

Seit 1. Jänner 2010 gilt der zwischen den Vertretern der Bundeskurie angestellte Ärzte und niedergelassene Ärzte abgeschlossene Kollektivvertrag für Lehrpraxen. Er regelt die Rahmenbedingungen für die Ausbildung von Turnusärzten bei niedergelassenen Ärzten, die allerdings von der öffentlichen Hand nicht ausreichend unterstützt wird. Die Konsequenz: Das gesamte System ist gefährdet.

Eine aktuelle Umfrage bei Allgemeinmedizinern und Fachärzten zeigt jedenfalls ein bedenkliches Bild. 65 Prozent erklärten, dass sie seit der Einführung des Kollektivvertrages in ihrer Praxis keine Lehrpraktikanten ausbilden und immerhin vier Prozent mussten ein begonnenes Ausbildungsverhältnis beenden.

Die Ärzte sagen auch unmissverständlich, wo die Motive für die Zurücknahme bei der Ausbildung liegen: Immerhin 17 Prozent verzichten auf die Ausbildung eines Jungarztes, weil sie keine Förderung erhielten, obwohl sie bereit waren, den Differenzbetrag selbst zu tragen. Die überwiegende Mehrheit – exakt sind es 62 Prozent – erklärt offen, dass sie sich den Kollektivvertragslohn nicht leisten kann, das gilt vor allem für Allgemeinmediziner. In dieses Bild passt die Einschätzung, dass der Kollektivvertrag „nur mit einer erhöhten Förderung lebbar“ wäre, die von 49 Prozent der Ärztinnen und Ärzte geteilt wird. Für Günther Wawrowsky, Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte, ist die distanzierte Haltung seiner Kollegen keine Überraschung: „Es war uns schon beim Abschluss der Kollektivvertragsverhandlungen klar, dass man eine erhöhte Förderung brauchen wird, wenn man diese Art der ärztlichen Ausbildung auch in Zukunft haben will.“ Aus Gründen der Qualität wäre die Beibehaltung von Lehrpraxen unbedingt wünschenswert, betont Wawrowsky. „Sie ist für Allgemeinmediziner jedenfalls von Vorteil und aus meiner Sicht auch für angehende Fachärzte eine Bereicherung ihres Wissens und ihrer praktischen Erfahrung im Umgang mit Patienten.“ Die Ärztekammer habe mit dem Kollektivvertrag die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass junge Ärzte ihre Ausbildung nicht nur in Spitälern, sondern auch in der Praxis niedergelassener Ärzte absolvieren können – und das mit einer materiellen Absicherung, die früher nicht gegeben war (siehe Kasten).

Der Nutzen dieses Bildungsweges ist unbestritten. Vor einigen Jahren betonten 88 Prozent der Lehrpraktikanten bei einer Umfrage in Wien, dass ihnen die Lehrpraxis im Hinblick auf eine zukünftige allgemeinmedizinische Tätigkeit „sehr viel“ gebracht hat. Vor allem der Patientenkontakt war viel intensiver als im Spital; außerdem lernten sie mehr über klassische Volkskrankheiten, über die Betreuung chronisch kranker Patienten, die Erstellung von Diagnosen oder auch über Gesundheitsförderung und Vorsorge. Wawrowsky weiter: „Für uns ist die Lehrpraxis ein ganz wichtiger Ausbildungspunkt, gerade im Zusammenhang mit der Ausbildung zum Allgemeinmediziner und vor allem mit dem geplanten Facharzt für Allgemeinmedizin, zu dem seit langem unsere Vorschläge im Gesundheitsministerium liegen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass der Sprung von der Ausbildung im Spital in die Arbeit in der Praxis ein sehr großer ist – er wird durch eine Lehrpraxis sinnvoll erleichtert.“

Förderung durch öffentliche Hand

Wenn das System erhalten bleiben soll, müsste die öffentliche Hand für angemessene Förderungen sorgen, betonte der Kurienobmann. Derzeit ist das nicht der Fall: „Leider sind die neuen Förderungsrichtlinien für Lehrpraxen alles andere als zufriedenstellend. Den niedergelassenen Ärzten, die ausbilden wollen, nützt der Hinweis gar nichts, dass die Spitäler die Turnusärzte selbst bezahlen und dass daher auch sie das tun sollten. Zum einen sind Turnusärzte in den Krankenhäusern Systemerhalter, deren Dienste dort unverzichtbar sind. Das gilt in dem Ausmaß für eine Praxis natürlich nicht. Zum anderen können sich viele niedergelassene Ärzte die vorgesehene Honorierung vor allem bei älteren Turnusärzten schlicht und einfach nicht leisten.“

Darauf nehmen die im August des heurigen Jahres vorgelegten neuen Richtlinien für die Lehrpraxis-Förderung keine Rücksicht, sie entsprechen weder den realen Notwendigkeiten noch den Wünschen der Ärzteschaft. Thomas Holzgruber, Kammeramtsdirektor der Ärztekammer Wien und zuständiger Jurist in der Österreichischen Ärztekammer für Lehrpraxisfragen, gibt im Gespräch mit der ÖÄZ einen Einblick in das Geschehen hinter den Kulissen. „Wir haben als Ärztekammer im Februar darauf verwiesen, dass im Zusammenhang mit dem neuen Kollektivvertrag Änderungen bei den Förderungsrichtlinien notwendig sind. Aber dann haben sich das Gesundheitsministerium und das gleichfalls mit der Materie befasste Finanzministerium für einen Alleingang entscheiden und uns im August die neuen Richtlinien vorgelegt, ohne dass die Ärztekammer ihre Erfahrung und ihr Wissen einbringen konnte“, schildert der Jurist das Geschehen.

Das Ergebnis: Nach den derzeitigen Richtlinien hat man nicht nur die Förderung der fachärztlichen Lehrpraxis komplett gestrichen, sondern auch den Kollektivvertrag schlichtweg ignoriert. Damit ergeben sich selbst bei einer Förderung beträchtliche Lücken zwischen der Förderung und dem Einkommen der auszubildenden Turnusärzte, die von den niedergelassenen Ärzten selbst getragen werden müssten. Ob das die Lehrpraxis fördert kann bezweifelt werden. Darüber hinaus helfen diese Förderrichtlinien auch bei der Verbesserung der allgemeinmedizinischen Ausbildung so gut wie gar nicht. Die Differenz zwischen den Anforderungen für eine umfassende Ausbildung junger Ärzte in der Lehrpraxis und der Realität der Förderrichtlinien ist enorm: Nach Berechnungen der Ärztekammer wäre für ein klaglos funktionierendes System einer allgemeinmedizinischen Ausbildung mit einer Lehrpraxis von einem Jahr ein Betrag von rund zehn Millionen Euro im Jahr notwendig. Nach den gültigen Richtlinien sind aber alles in allem lediglich 900.000 Euro vorgesehen. Holzgruber: „Mit den derzeit eingeplanten Fördermitteln kann man nach unseren Berechnungen niemals alle Ärzte und Ärztinnen gemäß den internationalen Standards ausbilden. Wir bleiben durch diese Förderrichtlinien internationales Schlusslicht in der allgemeinmedizinischen Ausbildung.

Lehrpraxis in Gefahr

Die Ausbildung in den Lehrpraxen ist also akut gefährdet, obwohl dieses Modell international als zentrales Element der Ärzteausbildung gilt. Immerhin wird dieser Bildungsweg in zwei Drittel aller europäischen Länder von der öffentlichen Hand massiv unterstützt.

Die jetzigen Förderrichtlinien sind in Kraft und vorerst nicht zu ändern, sie gelten jedenfalls für das ganze Jahr 2011. Was danach kommt, wird Gegenstand von Verhandlungen sein. Wawrowsky: „Die Gestaltung der Förderung wird zur Nagelprobe für Politiker, die sich so gerne für Qualitätsverbesserungen im Gesundheitswesen aussprechen. Die Ausbildung in einer Lehrpraxis ist ein zentrales Element der Qualität. Wenn die öffentliche Hand sie erhalten will, muss sie auch für die notwendige Finanzierung oder Mitfinanzierung sorgen.“

Was der Kollektivvertrag regelt

Der Kollektivvertrag für die Dienstverhältnisse von Turnusärzten, die bei niedergelassenen Ärzten (Lehrpraxen) und ärztlichen Gruppenpraxen (Lehrgruppenpraxen) angestellt sind, ist seit 1. Jänner 2010 in Kraft. Er regelt Mindeststandards in Fragen der Arbeitszeit, der Freizeit für Familienangelegenheiten, des Urlaubs, der Kündigung, der Aus- und Weiterbildung und der Haftung. Festgesetzt ist auch das Gehalt, das den Turnusärzten in der Lehrpraxis mindestens zusteht. Es ist nach der Berufserfahrung gestaffelt und bezieht sich auf eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden.

 

 

Die Grundeinkommen betragen demnach:

Bei einer Turnuszeit von weniger als einem Jahr nach Studienabschluss

Im 1. bis 3. Monat

im 4. bis 6. Monat

danach

1.300 Euro

1.600 Euro

1.800 Euro

Bei einer Turnuszeit von ein bis zwei Jahren nach Studienabschluss

Im 1. bis 3. Monat

im 4. bis 6. Monat

danach

1.600 Euro

1.800 Euro

2.000 Euro


Bei einer Turnuszeit von zwei bis vier Jahren nach Studienabschluss

Im 1. bis 3. Monat

im 4. bis 6. Monat

danach

1.800 Euro

2.000 Euro

2.200 Euro


Bei einer Turnuszeit von mehr als vier Jahren nach Studienabschluss

Im 1. bis 3. Monat

im 4. bis 6. Monat

danach

2.200 Euro

2.400 Euro

2.600 Euro

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2010