Kommentar – Univ. Prof. Enrique Prat: Vertrauen und Autonomie

25.11.2010 | Politik

Das Patientenbild im modernen Gesundheitswesen ist von der autonomen Person geprägt, die über sich selbst bestimmt und noch dazu immer bestens ausgerüstet ist: vom Bild des mündigen Patienten also. Kein Zweifel: Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist wichtig und muss immer respektiert werden. Die Autonomie des Patienten stellt den Patienten de facto vor die Pflicht, über sich selbst zu entscheiden und diese Entscheidungen an niemanden zu delegieren.

Aus der Perspektive des Patienten ist die Frage wichtig, inwiefern er autonomiefähig ist, das heißt inwiefern er wichtige Lebensentscheidungen kompetent treffen kann. In der Regel stehen Kranke unter einem größeren oder kleineren emotionalen Schock und leiden an geistigen und körperlichen Schmerzen. In dieser Situation ist ihr Urteilsvermögen eingeschränkt. Oft möchten Kranke in solchen Situationen keine Entscheidungen allein treffen. Dennoch werden sie im Spital und in den Ordinationen oft damit konfrontiert, weil die Gesetzgebung der meisten Länder verlangt, dass sie vor den einzelnen medizinischen Eingriffen zumindest formell ihre Einwilligung erteilen.

Wie soll sich ein mündiger Bürger im Krankheitsfall verhalten, der gewohnt ist, die Entscheidungen, die er selbst trifft, auch selbst zu verantworten, aber die Erfahrung hat, dass er mitunter wegen physischer oder psychischer Belastungen nicht richtig entscheidet? Eine Antwort darauf kann in der aristotelischen, innerlich geformten Haltung der Klugheit, oft auch Weisheit genannt, gefunden werden.

Welche Entscheidungen trifft der kluge Patient? Hier kann man zunächst zwischen autonomen Entscheidungen erster und zweiter Ordnung unterscheiden. Entscheidungen oder Wünsche erster Ordnung betreffen einzelne Handlungen zum Beispiel „Ich wünsche ein Aspirin“ oder „Ich willige in diese Spritze ein“. Autonome Entscheidungen zweiter Ordnung sind Festlegungen auf allgemeine Verhaltensregeln, die die Entscheidungen erster Ordnung determinieren wie beispielsweise „Dieser ist der Arzt meiner Wahl“; „Ich tue prinzipiell, was er sagt“; „Ich vertraue mich an“; „Meine normativen Überzeugungen, Werte sind…“ usw. Während die Entscheidungen erster Ordnung immer der jeweiligen Situation entsprechend getroffen werden müssen, sind die Entscheidungen höherer Ordnung in der Regel stabile, langfristig getroffene Festlegungen, die zur Identität der Person gehören. Das heißt: Auch wenn der Betroffene nicht bei Bewusstsein ist, können solche Festlegungen meistens über sein Umfeld in Erfahrung gebracht werden.

Der kluge Patient wird die Entscheidungen zweiter Ordnung mit Hilfe von vertrauten Personen zu treffen versuchen. Diese Entscheidungen werden nicht leichtfertig getroffen, denn es geht um sein Überleben. Wenn diese Entscheidungen richtig getroffen sind, dann wird sich der Patient viele schwierigere Entscheidungen erster Ordnung ersparen, ohne deswegen fremdbestimmt zu sein. Muss er die Entscheidungen erster Ordnung auch selbst treffen? Nach dem Gesetz muss der behandelnde Arzt vom Patienten Entscheidungen erster Ordnung („Ich würde dies empfehlen, sind Sie damit einverstanden?“), das heißt die Einwilligung oder Zustimmun über die zu verwendenden Mittel, abverlangen. Aber da der Patient meistens kaum Sachwissen hat und sich nicht sicher sein kann, ob er sich gewisse Entscheidungen zutrauen soll, ist es nur vernünftig, darauf mit der Entscheidung zweiter Ordnung zu reagieren, nachdem er sich vergewissert hat, dass der Arzt über seine Zielvorstellungen Bescheid weiß: „Sie haben mein Vertrauen, tun Sie, was Sie glauben, tun zu müssen.“ Er verzichtet aber nicht auf weitere Informationen. Diese Entscheidungsstruktur ist in jeder vom Vertrauen getragenen Beziehung zwischen Experten und Hilfesuchenden (beim Rechtsanwalt, Steuerberater, Elektroinstallateur oder Schlosser) grundsätzlich dieselbe.

Dennoch: Die Arzt-Patient-Beziehung ist eine besondere. Denn nur in ihr vertraut der Hilfesuchende die letzte Grundlage seiner Existenz – sein Leben – den Händen eines anderen, nämlich jenen des Arztes an. Der Patient kann autonom einzelne Eingriffe verweigern. Doch auch wenn er sich voll anvertraut, ist seine Autonomie gewahrt – denn auch das ist seine Entscheidung.

*) Prof. Dr. Enrique Prat ist Geschäftsführer von IMABE – Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik in Wien.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2010