Kommentar – Univ. Prof. Dr. Johannes Bonelli: Medikamentencocktail im Alter

25.04.2010 | Politik

Ein Blick auf die internen Abteilungen eines normalen Versorgungsspitals zeigt: Mehr als 50 Prozent aller Patienten sind über 70 Jahre alt. Wenn man deren Krankengeschichten analysiert, dann haben speziell die alten Patienten im Durchschnitt rund sieben Diagnosen, also sie sind klassisch multimorbid und nehmen mindestens zehn bis 15 Medikamente täglich ein.

Das Erstaunliche dabei: Es gibt praktisch keine einschlägige Literatur über Multimorbidität und schon gar nicht über die Multimorbidität alter Menschen. Der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung wird immer größer, die Lebenserwartung immer höher. In den kommenden Jahren werden die über 65-Jährigen mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Diese älteren Patienten konsumieren rund 50 Prozent aller verschriebenen Medikamente. Obwohl diese Patientengruppe wächst, gibt es für sie praktisch keine evidenzbasierte Medizin. Wir werden zwar heute mit einer Unzahl von großangelegten kontrollierten Multicenterstudien überschwemmt, aber diese werden meist nur an Patienten unter 75 Jahren und keinesfalls an multimorbiden Patienten durchgeführt, denn diese fallen von vornherein den Einschluss- beziehungsweise Ausschlusskriterien zum Opfer. Die Folge: Man überträgt die Ergebnisse von artfremden Einzelstudien wie beispielsweise zu Hypertonie, Diabetes, Hypercholesterinämie, Herzinsuffizienz, COPD, Glaukom, Arthritis, urologischen Erkrankungen usw. unreflektiert summarisch und geballt auf den multimorbiden, alten Patienten, der alle diese Krankheiten auf einmal hat. Dadurch handelt man sich eine verhängnisvolle Polypharmakopragmasie ein, die vor allem zu einer exponentiellen Kumulation von Nebenwirkungen und Interaktionen führt, die kaum erforscht sind. Besonders bei älteren Menschen werden ja häufig durch Medikamente Nebenwirkungen hervorgerufen, die fälschlicherweise als krankheitsbezogen interpretiert und mit weiteren Medikamenten behandelt werden. Das führt zur sogenannten „Verschreibungskaskade“.

Man könnte also pointiert sagen: Die heutige Medizin forscht und therapiert an
einem großen Teil ihrer Patienten vorbei. Das muss sich ändern. Kann man dem Dilemma – Multimorbidität und „Medikamentencocktail“ im Alter – entrinnen?

Erstens wären klinische Studien gezielt auch an multimorbiden alten Patienten durchzuführen, zumal ja bei älteren Menschen auch deutliche Veränderungen in der Pharmakokinetik von Medikamenten bestehen. Zweitens sollte man bei der medikamentösen Behandlung von multimorbiden älteren Patienten nach dem Prinzip vorgehen: „So viel wie unbedingt nötig und so wenig wie nur möglich“. Drittens muss das alte Prinzip des primum nil nocere, also eine gewissenhafte Schaden-Nutzen Analyse bei alten Patienten mit besonders kritischer Sorgfalt beachtet werden. Der Heilauftrag des Arztes bei alten, multimorbiden Patienten sollte primär in der Verbesserung der Lebensqualität liegen und erst sekundär in (präventiven) Maßnahmen zur Lebensverlängerung.

Zwar will fast jeder Mensch alt werden, altern dagegen will niemand. Denn das Altern wird instinktiv mit verminderter Lebenskraft, körperlichem und geistigem Verfall und anderen altersspezifischen Gebrechen assoziiert. Vom Altern als solchem kann man allerdings nicht geheilt werden, denn es handelt sich um einen natürlichen Vorgang, der unvermeidlich und irreversibel ist. Wenn wir als Ärzte unsere alten Patienten weiterhin täglich mit einer Unzahl von Medikamenten überfüttern, so werden sie ihren Lebensabend – wie dies heute vielfach schon der Fall ist – hauptsächlich mit dem Abzählen von Tabletten und der Bekämpfung von deren Nebenwirkungen bei unzähligen Arztbesuchen verbringen.

Die heutige Herausforderung für die Ärzteschaft besteht hingegen darin, das Leben unserer Patienten und Patientinnen im Alter nicht durch eine überzogene Medikalisierung weiter zu verkomplizieren, sondern Leiden zu lindern und ihnen durch maßvolle Zurückhaltung einen zufriedenen und so weit wie möglich angenehmen Lebensabend zu ermöglichen.

* Univ. Prof. Dr. Johannes Bonelli ist Direktor von IMABE – Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik in Wien

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2010