Kommentar – Univ. Prof. Dr. Enrique Prat: Selbstbestimmung ohne Grenzen?

10.03.2010 | Politik

Das positive Recht gibt dem selbstbestimmungsfähigen Patienten das Recht, eine medizinische Maßnahme zu verweigern, auch wenn das Unterlassen dieser Maßnahme der medizinischen Vernunft, dem ärztlichen Berufsethos und dem individuellen Gewissen des Arztes widerspricht. Der Arzt kann nichts gegen den Willen des Patienten tun, selbst wenn das Unterlassen der Maßnahme direkt zu dessen Tod führt. Damit wird aber keineswegs die Sittlichkeit der Verweigerung gesetzlich sanktioniert. Die juristische und die ethische Ebene stehen miteinander in Beziehung, haben aber unterschiedliche Rationalität.

Was ist mit der modernen medizinethischen Maxime „voluntas aegroti suprema lex“ („der Wille des Patienten ist höchstes Recht“) gemeint? Kann nun der Patient alles verlangen? Diese Maxime fordert vom Arzt, den Patienten nicht ohne seine Zustimmung zu behandeln, doch sie fordert nicht von ihm, nur das zu tun, was sich der Patient wünscht. Auch der Arzt hat ein Selbstbestimmungsrecht, das er geltend machen muss. Sein Ethos darf prinzipiell nichts rechtfertigen, was gesundheitsschädlich ist.

Es gibt also Grenzen der Autonomie. Wo liegen nun diese aus der Perspektive des Patienten? Gleich wie bei jedem Menschen: Autonomie definiert sich als Selbstgesetzgebung der Vernunft und schließt jede Handlungswillkür aus. Somit ist jeder Mensch – und daher auch der Patient – vor die ethische Forderung gestellt, nach dem zu suchen, was die Vernunft als richtig erkennt. Hier liegt die Grenze der Autonomie, über sie hinaus kann der Mensch nicht mehr von sich behaupten er sei autonom, sondern er wäre heteronom, also fremdbestimmt. Denn wer Unvernünftiges tut, tut es nur, weil er nicht erkennt, dass er sich im Irrtum befindet – sonst würde er es nicht wollen. Darin liegt seine Heteronomie. Das erste ethische Prinzip „tu Gutes und vermeide Böses“ gilt zuerst für jeden selbst. Nicht alles, was dem Menschen einfallen kann, muss schon per se vernünftig und gut sein. Es geht darum, zwischen dem Schein des Guten und dem objektiv Guten zu unterscheiden. Dazu braucht der Patient auch die sittlichen Tugenden. Sie sind der Schlüssel zur wirklichen Autonomie.

Weiters ist sich der kluge Patient bewusst, dass er in eine Situation kommen kann, in der er vielleicht einen Willen äußert, jedoch weder physisch und psychisch in der Lage ist, wirklich etwas zu wollen, geschweige denn, eine autonome Entscheidung zu treffen. Das heißt, seine Äußerungen könnten zwar formell als bindender Patientenwille gewertet werden, aber trotzdem nicht autonom sein, weil sie in einem emotionalen und geistigen Zustand getroffen werden, der nicht geeignet ist, um lebenswichtige Entscheidungen rational zu treffen. Wer schützt dann den Patienten sozusagen vor sich selbst? Das Gesetz sicher nicht, und auch der Arzt nicht. Schließlich fühlt sich dieser Patient vielleicht einsam, überfordert, depressiv, aber er ist nicht dement. Kein Arzt wird sich trauen, ihm deswegen Unzurechnungsfähigkeit zu bescheinigen.

Der kluge Patient müsste sich für diese Situation jemandem – in der Regel aus seinem unmittelbaren familiären Umfeld – anvertrauen können, mit bestimmten Personen aus diesem Umfeld jede Willensäußerung abstimmen und sogar bereit sein, ihren Rat gegen seinen eigenen Willen zu befolgen, solange die Situation andauert. Der kluge Patient wird sogar schriftlich dokumentieren, wen er im Krankheitsfall als Mitentscheider haben will.

Es ist bedauerlich, dass in unserer individualistischen und atomisierten Gesellschaft immer mehr kranke Menschen niemanden haben, dem sie sich wirklich anvertrauen können und dass die Familie immer weniger die ureigenste Funktion erfüllt, ihren alten und kranken Mitgliedern in schweren Situationen so beizustehen, dass sie ihnen viele Entscheidungen abnimmt und so Schutz und Geborgenheit spendet. Dennoch: Die schwache Akzeptanz und das geringe Interesse an der Patientenverfügung zeigen einmal mehr, dass die Österreicher einen gut funktionierenden Familienverband kaum ersetzen wollen. Vertrauenspersonen, nicht Notare, stellen die Autonomie des Patienten am besten sicher.

*) Prof. Dr. Enrique Prat ist Geschäftsführer von IMABE – Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik in Wien. 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2010