Kas­sen­ver­hand­lun­gen in Wien: Ver­trags­lo­ser Zustand: Ultima ratio

10.03.2010 | Politik

Nur wenn bei den Kas­sen­ver­hand­lun­gen in Wien gar nichts mehr geht, käme es – nach einer Urab­stim­mung – zu einem ver­trags­lo­sen Zustand, beton­ten Ver­tre­ter der Wie­ner Ärz­te­kam­mer bei einer Ver­an­stal­tung im Rah­men der Reihe „Brenn­punkt Medi­zin“. Titel: „Wird 2010 das Jahr der ver­trags­lo­sen Zustände?“
Von Kurt Mar­ka­rit­zer

Das Bild, das sich den Besu­chern im Dach­saal der Wie­ner Ura­nia bot, war unge­wöhn­lich: auf der einen Seite ein Pult mit den Dis­ku­tan­ten Johan­nes Stein­hart (Kuri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte in Wien) und Nor­bert Jachi­mo­wicz (Kuri­en­ob­mann­stell­ver­tre­ter) und Dis­kus­si­ons­lei­te­rin Irm­gard Bayer, auf der ande­ren Seite drei leere Ses­sel mit Bil­dern von WGKK-Obfrau Ingrid Rei­schl, Gene­ral­di­rek­tor Ste­fan Vla­sich (SVA) und dem stell­ver­tre­ten­den Gene­ral­di­rek­tor Chris­toph Klein (Haupt­ver­band). Die drei Bil­der stan­den stell­ver­tre­tend für alle Per­sön­lich­kei­ten aus Poli­tik, Wirt­schaft und Sozi­al­ver­si­che­rung, die von der Ärz­te­schaft zu einer offe­nen Aus­spra­che ein­ge­la­den wor­den waren, aber abge­sagt hat­ten, zum Teil erst im letz­ten Augen­blick. Stein­hart dazu: „Wir wis­sen nicht, warum sie sich dem Gespräch ent­zo­gen haben: War es Arro­ganz oder Angst?“ Aller­dings wurde nach den Erläu­te­run­gen von Stein­hart und Jachi­mo­wicz rasch klar, warum die Ver­ant­wort­li­chen eine offene Dis­kus­sion scheu­ten. Denn da wurde nur zu deut­lich das Maß an Ver­säum­nis­sen, Fehl­ein­schät­zun­gen und man­geln­dem Durch­set­zungs­ver­mö­gen in der Gesund­heits­po­li­tik dargestellt. 

Zu den zen­tra­len Punk­ten, in denen Ver­ein­ba­run­gen nicht rea­li­siert wur­den, zählt die Abgel­tung der soge­nann­ten ver­si­che­rungs­frem­den Leis­tun­gen, die von den Kran­ken­kas­sen erbracht wer­den müs­sen. In einem Über­ein­kom­men zwi­schen ÖÄK und Haupt­ver­band der Sozi­al­ver­si­che­rungs­trä­ger war dies im Som­mer 2009 als Ziel fest­ge­hal­ten wor­den – umge­setzt wurde sie aber nicht, womit ins­be­son­dere die Finanz­mi­sere der Wie­ner Gebiets­kran­ken­kasse pro­lon­giert wurde. Jachi­mo­wicz: „Der Haupt­ver­band war zu schwach, die­ses Anlie­gen bei der Poli­tik durch­zu­set­zen, obwohl inzwi­schen durch ein Gut­ach­ten fest­steht, dass diese Belas­tung durch ver­si­che­rungs­fremde Leis­tun­gen ver­fas­sungs­wid­rig ist.“ 

Nach wie vor unge­löst ist das Pro­blem der Hebe­sätze für ASVG-Ver­si­cherte, jenen Zuschuss, den der Staat den Kran­ken­kas­sen bei den Pen­sio­nis­ten als Ersatz für den Arbeit­ge­ber­bei­trag zahlt. Bei ASVG­Pen­sio­nis­ten, die bei der Wie­ner GKK ver­si­chert sind, macht das 1,8 Euro für jeden Euro aus, den der Pen­sio­nist für seine Kran­ken­ver­si­che­rung bezahlt. Bei der SVA sind es aber 2,13 und bei der Ver­si­che­rung der Bau­ern sogar 3,95 Euro. Die GKK schnei­det des­halb bei den Ein­nah­men schlech­ter ab. Stein­hart: „Diese Benach­tei­li­gun­gen belas­ten das Bud­get der Gebiets­kran­ken­kasse, die sich aber trotz­dem nicht gegen die hor­ren­den Ein­spa­rungs­ziele gewehrt hat, die ihr vom Haupt­ver­band vor­ge­ge­ben wur­den. Diese enor­men Ein­spa­run­gen sind aber nicht umsetz­bar, wenn man nicht die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung gefähr­den will. Mit kapi­ta­lis­ti­scher Bru­ta­li­tät sol­len Finanz­ziele durch­ge­boxt wer­den – aber nie­mand spricht davon, was das für die Pati­en­ten bedeutet!“ 

Pro­ble­ma­tisch ist auch die neue Alters­grenze für nie­der­ge­las­sene Ärzte. Ursprüng­lich war ver­ein­bart, dass nur für neue Kas­sen­ver­träge eine Alters­grenze der Ärzte von 70 Jah­ren gel­ten sollte. In der ASVG-Novelle stand dann aber, dass diese Rege­lung ab 1.1.2011 für alle Kas­sen­ver­träge gilt, eine „Per­fi­die des Gesetz­ge­bers“ (Stein­hart). Dahin­ter ste­hen Bemü­hun­gen des Haupt­ver­ban­des, aus­ge­lau­fene Ver­träge nicht durch neue zu erset­zen, son­dern die ent­spre­chen­den Kas­sen­stel­len ein­zu­spa­ren. In Wien – hier soll die Alters­grenze sogar auf 67 Jahre her­ab­ge­setzt wer­den – würde diese Lösung zwi­schen 60 und 90 Ordi­na­tio­nen betref­fen, schätzt Stein­hart: „Man ist anschei­nend bereit, auf die Erfah­rung der älte­ren Ärzte zu ver­zich­ten, nur um die Bud­get­ziele durchzusetzen.“ 

Die Stim­mung bei der Ärz­te­schaft ist auch des­we­gen gereizt, weil die Stan­des­ver­tre­ter bei den Ver­hand­lun­gen immer wie­der erle­ben muss­ten, dass Zusa­gen ein­fach nicht ein­ge­hal­ten wur­den. Ein Bei­spiel dafür ist die Grün­dung von Ärzte-GmbHs, die mit „vor­ge­täusch­ten Argu­men­ten“ ver­hin­dert würde. Stein­hart: „Das war wie­der eine nicht gehal­tene Hand­schlag­ver­ein­ba­rung, bei der die Ärzte auf infame Weise aus­ge­bremst wurden.“ 

In die­sem Miss­trauen för­dern­den Klima wer­den die Ver­hand­lun­gen über die soge­nannte Balan­ced Score­card (BSC) geführt – Vor­ga­ben des Haupt­ver­ban­des, in denen die maxi­ma­len Aus­ga­ben für ärzt­li­che Hilfe und Medi­ka­mente fest­ge­legt sind und nach denen sich die Gebiets­kran­ken­kas­sen rich­ten müs­sen. Um die­ses Ziel zu errei­chen, hat die WGKK unrea­lis­ti­sche Vor­ga­ben in die Ver­hand­lun­gen mit der Wie­ner Ärz­te­kam­mer ein­ge­bracht und 2010 für Arzt­ho­no­rare ins­ge­samt 416 Mil­lio­nen Euro vor­ge­se­hen. Stein­hart: „Würde der Ver­trag mit der Gebiets­kran­ken­kasse so wei­ter­lau­fen wie bis­her, würde die Hono­rar­summe 429 Mil­lio­nen betra­gen. Man will also 13 Mil­lio­nen ein­fach ein­spa­ren, anstatt den Ärz­ten einen Aus­gleich für die gestie­ge­nen Anfor­de­run­gen zu bie­ten. So for­dert man zu Recht Ver­bes­se­run­gen bei der Qua­li­tät in den Ordi­na­tio­nen. Das ist gut, aber jeder weiß, dass mehr Qua­li­tät auch etwas kos­tet – nur bei der Medi­zin soll das nicht gelten?“ 

Über eine Redu­zie­rung der Ärz­te­ho­no­rare ließe sich das Kran­ken­kas­sen­bud­get mit Sicher­heit nicht sanie­ren, beton­ten die Ärz­te­ver­tre­ter, wobei Jachi­mo­wicz scharfe Kri­tik an der Poli­tik übte: „Sie hat kei­ner­lei Per­spek­tive, wie die Gebiets­kran­ken­kasse wie­der auf eine gesunde finan­zi­elle Basis kom­men könnte. Ohne ziel­füh­rende Maß­nah­men aber droht Jahr für Jahr eine wei­tere Ver­schlech­te­rung, die zu Las­ten der Pati­en­ten geht.“ Die Denk­weise dahin­ter ist für Johan­nes Stein­hart uner­träg­lich: „Als Ärzte wol­len wir den Pati­en­ten hel­fen, so gut es geht. Beim Dik­tat der nack­ten Zah­len aber wird allen Erns­tes über­legt, ob es sich lohnt, einem 80-Jäh­ri­gen eine neue Hüfte zu finan­zie­ren, obwohl man ihm damit für seine rest­li­chen Lebens­jahre Lebens­qua­li­tät schen­ken kann. In einem der reichs­ten Län­der der Welt darf sich eine sol­che Gesin­nung nicht durchsetzen.“ 

Dazu kommt, dass in Summe genü­gend Geld für das Gesund­heits­we­sen zur Ver­fü­gung stünde. Die Gesund­heits­spre­che­rin der Wie­ner Grü­nen, Sig­rid Pilz, die als ein­zige Poli­ti­ke­rin zur Ver­an­stal­tung gekom­men war, brachte als Bei­spiel die Pfle­ge­bet­ten in den Alten­hei­men der Stadt Wien, die um vie­les teu­rer kom­men als Pfle­ge­bet­ten in pri­va­ten Hei­men, und Stein­hart erin­nerte an das umstrit­tene Pro­jekt der elek­tro­ni­schen Gesund­heits­akte ELGA, das zwei bis drei Mil­li­ar­den kos­ten dürfte. 

Trotz der ange­spann­ten Stim­mung hof­fen die Ärz­te­ver­tre­ter, dass es bei den Ver­hand­lun­gen mit der Wie­ner Gebiets­kran­ken­kasse nicht zu einer Kün­di­gung des Ver­tra­ges kommt, wie das bei der Sozi­al­ver­si­che­rung der gewerb­li­chen Wirt­schaft bereits gesche­hen ist. Stein­hart: „Unser Ziel für Wien ist eine trag­fä­hige Lösung. Wenn man aber die finan­zi­el­len Vor­ga­ben der Wie­ner Gebiets­kran­ken­kasse ansieht, dann müsste eigent­lich sie den Ver­trag kün­di­gen. Denn unter den jet­zi­gen Bedin­gun­gen kann ihn die Kasse nicht erfül­len, außer es wer­den Leis­tun­gen wie ärzt­li­che Haus­be­su­che gestri­chen. Aber das kann nie­mand ernst­haft wol­len!“ Einen ver­trags­lo­sen Zustand wür­den die Stan­des­ver­tre­ter jeden­falls nur nach einer Urab­stim­mung bei allen Mit­glie­dern beschlie­ßen, ver­si­cherte Stein­hart: „Aber das ist die Ultima ratio, wenn gar nichts mehr geht. Wir wür­den in die­sem Fall alles tun, damit die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung für die Pati­en­ten sicher­ge­stellt ist, sie müss­ten aber trotz­dem mit finan­zi­el­len Nach­tei­len rech­nen – und das wird ihnen die Poli­tik wohl nicht zumu­ten wollen.“ 

Die Ärz­te­ver­tre­ter hof­fen jeden­falls auf ein Umden­ken, wie Jachi­mo­wicz betonte: „Wir müs­sen die Poli­ti­ker auf­rüt­teln, auch durch eine ver­stärkte Infor­ma­tion der Pati­en­ten, bei der wir ihnen offen sagen, was auf sie zukom­men könnte wie zum Bei­spiel höhere Kos­ten durch Selbst­be­halte.“ Stein­hart dazu: „Wir soll­ten end­lich zu einer öffent­li­chen Dis­kus­sion kom­men, in der die Frage gestellt wird: Was ist uns in einem der reichs­ten Län­der der Welt die Gesund­heit wert? Als die Ban­ken­krise da war, ist es in kür­zes­ter Zeit gelun­gen, enorme Beträge auf­zu­trei­ben. Mit so viel Geld könnte man das Gesund­heits­we­sen, das schon Kri­sen­er­schei­nun­gen zeigt, auf Jahre hin­aus sanieren!“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 5 /​10.03.2010