Interview – Univ. Prof. Walter Hauptmann: Trendwende in der Drogenpolitik

10.10.2010 | Politik

Mit 15 Milliarden Euro beziffert der ehemalige Kriminalpsychologe Univ. Prof. Walter Hauptmann die Kosten durch den Missbrauch von illegalen Drogen in Österreich und zieht daraus den Schluss, dass die Drogenpolitik gescheitert ist. Seine Forderung: Frühzeitige Interventionen, um so die Zahl der Einsteiger drastisch zu reduzieren.


Warum haben Sie das Buch „Soziale Kosten des Drogenmissbrauchs“ geschrieben?

Wir haben uns schon seit Mitte der 1990er Jahre intensiv mit dem Thema Drogenmissbrauch beschäftigt, nicht aber mit den dadurch entstehenden sozialen Kosten. Anfang dieses Jahrtausends erschien ein Bericht des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheitswesen, in dem für einen kleinen Teilaspekt dieser Problematik Kosten in der Höhe von rund 67 Millionen Euro jährlich ausgewiesen wurden. Ich habe das überschlagsmäßig nachgeprüft und bin auf eine Summe gekommen, die mehr als doppelt so hoch lag. Diese Daten haben mich geradezu ‚elektrisiert’. Letztlich habe ich gemeinsam mit meiner Mitarbeiterin Frau Prof. Eleonora Hübner eine umfangreiche und über Jahre dauernde Studie zur Berechnung dieser Kosten angestellt, deren Resultate wir in diesem Buch niedergelegt haben.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Studie?
Für uns war die erstmals in dieser Form erstellte Kostenermittlung ein Schock. Wir haben es selbst nicht glauben können, wie katastrophal die nationale und internationale Forschungslage zu diesem Thema ist. Die Ursachen liegen primär wohl darin, dass derartige Kostenstudien bisher ausschließlich von Ökonomen erstellt worden sind, die sehr wenig Ahnung von Kriminologie haben. Unsere
Studie „Soziale Kosten des Drogenmissbrauchs“ kann derzeit als die weltweit mit Abstand vollständigste Untersuchung zu diesem Thema angesehen werden.2002 haben die sozialen Kosten des Drogenmissbrauchs in Österreich rund 15 Milliarden Euro betragen. Wir gehen von einer jährlichen Steigerungsrate von rund elf Prozent aus.

Wie kommen Sie auf diesen Betrag?
Das sind etwa die Substanzkosten, die jährlich mit rund vier Milliarden Euro beziffert werden, die Beschaffungskriminalität mit rund 2,6 Milliarden Euro sowie die Transferleistungen wie etwa Sozialhilfe, die 1,96 Milliarden Euro ausmachen und die Kosten der Rechtsdurchsetzung, die wir mit allermindestens zwei Milliarden Euro errechnet haben. Rund 45 Millionen Euro werden für Kinder von Süchtigen ausgegeben, die in Heimen untergebracht werden müssen. Drogenkranke verursachen jährlich Kosten von rund zwei Milliarden Euro. Die Drogentodesfälle im Jahr 2002 haben 156 Millionen Euro „gekostet“ und der ökonomische Nachteil aus Erwerbsausfall und Erwerbsminderung schlägt mit etwas mehr als zwei Milliarden Euro zu Buche. Weitere notwendige Aufwendungen konnten von uns mit etwa 190 Millionen Euro beziffert werden.

Sie schreiben, die Methode „helfen statt strafen“ für Drogendelikte hätte versagt. Was sind die Alternativen dazu?
In unserer Studie hat sich gezeigt, dass die Diversion, wie sie seit dreieinhalb Jahrzehnten betrieben wird, nahezu wirkungslos bleibt. Ich bin nicht gegen Diversion an sich, denke aber, diese Maßnahme müsste konsequenter und vor allem mit einem deutlich höheren Ausmaß an Kontrolle durchgeführt werden. Derzeit stellt die Diversion für Drogendelikte eine versteckte Entkriminalisierung dar, wirksam ist sie nicht. Als Alternative sehe ich deutlich intensivere Kontrollen: die betreffenden Probanden müssen über ihre Probezeit hinweg tatsächlich ‚clean’ bleiben, das würde schon viel helfen. Die Kontrollmechanismen, die derzeit in Gebrauch sind, taugen nichts.

Wo sehen Sie Schwachstellen in der österreichischen Drogenpolitik?

Zu den wesentlichen Schwachstellen gehören sicherlich die meisten der angebotenen Präventionsprogramme. Unter dem Titel ‚Prävention’ wird alles Mögliche und Unmögliche betrieben. Echte Evaluationsprogramme zur Prävention dagegen fehlen zur Gänze. Meiner Ansicht nach dienen viele dieser Präventionsmaßnahmen allerhöchstens zur Suchtprophylaxe im Sinn von: ‚Nimm es nur, pass aber auf, dass du nicht süchtig wirst’. Das kann nicht ausreichen für eine sinnvolle Präventionsarbeit.

Was kritisieren Sie im Rahmen der Diversion an den gesundheitsbezogenen Maßnahmen?
Im Rahmen der Diversion werden Drogentätern ‚gesundheitsbezogene Maßnahmen’ verordnet. Dieser Begriff ist sehr schwammig und kann von regelmäßigen ärztlichen Kontrollen bis hin zur Einsendung von Urinproben der Delinquenten an eine Kontrollinstanz per Post erfolgen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: 2002 – auf dieses Jahr bezieht sich unsere Studie – wurde bei österreichweit 5.500 Präventionsfällen nur in 14 Prozent der Fälle eine ‚ärztliche
Überwachung des Gesundheitszustandes’ angeordnet. Ich bin kein Freund des ‚Einsperrens’, aber derartige Maßnahmen werden Jugendlichen wohl eher ein ‚Lächeln’ entlocken, sie aber nicht wirklich abschrecken. Das schlimmste Ergebnis unserer Studie ist jedoch die relative Wirkungslosigkeit von Substitutionsmaßnahmen. Unseren Forschungen zufolge liegen die Langzeitergebnisse der Substitutionstherapie, aber auch von Abstinenztherapien zwischen fünf und sieben Prozent. Dieser Prozentsatz ist genauso hoch wie jener von Spontanremissionen.

Wie müsste die österreichische Drogenpolitik gestaltet sein, um bessere Erfolge zu erzielen?
Wir müssen ein echte Diversion, die auch engmaschig kontrolliert wird, anbieten. Wir müssen den Bereich Abstinenz- und Substitutionstherapie sowie alle vorliegenden Präventionsmaßnahmen evaluieren. Zudem müsste auch im Bereich der Diversion eine tatsächliche Strafandrohung dahinterstehen. Was derzeit angeboten wird, kann ich nur als ‚Witzmaßnahmen’ bezeichnen, die völlig wirkungslos bleiben. Mein Ansatz ist anders. Wenn ich etwa behaupte, Strafmandate könnten die Rate an Lungenkrebsneuerkrankungen verringern, würde man mich gewiss für verrückt haben. Wenn wir aber nun jedem Jugendlichen unter 16 mit einer Zigarette ein ‚Bußgeld’ von 20 Euro
‚aufbrummen’, könnten wir sicherlich einen nicht unbeträchtlichen Teil dieser gefährdeten Population von weiterem Rauchen abhalten. Und dies würde – natürlich zeitverschoben – dazu führen, die Lungenkrebsrate zu senken. Diesen einfachen Gedanken würde ich auch auf die Drogenpolitik beziehen wollen: Wir müssen rechtzeitig und intensiv intervenieren und dürfen erst gar nicht zuwarten, bis wir etwa auf Abstinenzprogramme angewiesen sind.

Sie sprechen in Ihrem Buch häufig von ‚Drogentätern’ und ‚Drogenmissbrauch’. Ist Drogenabhängigkeit in Ihren Augen keine Krankheit?
Ich halte mich hier sehr eng an die Terminologie der einschlägigen UN-Konventionen: Diese sprechen nur dann von einem ‚Drogengebrauch’, wenn dafür eine medizinische Indikation vorhanden ist, es also zum Beispiel darum geht, krebskranke Patienten mit Morphium zu versorgen. Alles andere ist demnach Drogenmissbrauch. Leider fehlen in diesem Bereich anerkannte Definitionen. Mir geht es darum, die jungen Leute gar nicht erst in die Situation einer Suchterkrankung geraten zu lassen. Sie müssen vielmehr deutlich früher ‚aufgefangen’ und ernst genommen werden.

Ist die Androhung von Strafen tatsächlich ein wirksames Mittel zur Verhinderung von Drogenkrankheit?
Strafandrohung trägt zur sogenannten Normverdeutlichung bei. Wenn ich beim Falschparken erwischt werde und eine geeignete Sanktion, wie etwa ein Strafmandat, mir die gesetzlichen Schranken aufzeigt, so ist das Normverdeutlichung die Unrechtsbewusstsein schafft. In Ländern wie Australien, Italien, Spanien oder Schweden konnten im Drogenbereich allein schon mit verwaltungsstrafrechtlichen Maßnahmen gute Ergebnisse erzielt werden. Im Rahmen einer kürzlich veröffentlichten Dissertation aus Österreich stellte sich heraus, dass die Jugendlichen auch hier ‚Scherereien’ mit Polizei und Gericht durchaus vermeiden wollen. Wir brauchen daher irgendeine Form von institutionellem Druck auf Drogenmissbraucher, damit Suchtkrankheit möglichst gar nicht mehr entstehen kann.

Welches Fazit ziehen Sie aus Ihrer Studie?
Ich bin entsetzt über die Höhe der materiellen und immateriellen Schäden, die der Drogenmissbrauch mit sich bringt. Wir müssen endlich auf diese Problematik reagieren und eine Trendwende herbeiführen. Das Problem des Drogenmissbrauchs kann sicher niemand über Nacht ‚wegzaubern’, aber es sollte zumindest erreicht werden, die Zahl der Einsteiger drastisch zu reduzieren. Es hat sich mit unserer Studie zudem bestätigt, dass die 1971 begonnene „neue“ Drogenpolitik ihr Ziel meilenweit verfehlt hat.

Tipp:

Walter Hauptmann/Eleonora Hübner:
„Soziale Kosten des Drogenmissbrauchs“ – für 2002 dargestellt am Beispiel Österreichs
Neuer wissenschaftlicher Verlag GmbH Nfg KG
288 Seiten
ISBN: 978-3-7083-0542-4
€ 42,80

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2010