Interview – Univ. Prof. Peter Hofmann: Ärzte: Helfen bis zur Selbstaufgabe?

15.12.2010 | Politik

Ärzte haben es nicht gelernt, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um der Stressfalle zu entkommen. Neue An- und Herausforderungen machen die Situation nicht besser. Univ. Prof. Peter Hofmann von der Universitätsklinik für Psychiatrie in Graz geht im Interview mit Ruth Mayrhofer diesen Phänomenen auf den Grund.

ÖÄZ: Ärztinnen und Ärzte sind bekanntlich von einer hohen Burnout-Inzidenz bedroht. Was unterscheidet diese Berufsgruppe diesbezüglich von anderen verantwortungsvollen Berufen, die ja auch hohem Stress ausgesetzt sind?
Hofmann: Im Belastungsprofil der Ärzte gibt es einige Besonderheiten. Zunächst steht die direkte persönliche Beziehung zu einem anderen Menschen im Vordergrund, dies verbunden mit hoher Verantwortung. Das heißt – um einen banalen Vergleich zu bringen – ist es gerade bei Ärzten eben nicht so, dass zum Beispiel eine Reklamation per E-Mail erfolgen kann, bei der ein Sachbearbeiter einer Firma mit Sitz in Irgendwo reagiert und ein Problem löst, sondern hier sind es ganz persönliche Beziehungen mit sehr persönlichen, emotionalen Verbundenheiten, Haftungen und Verantwortungen. Dazu kommt, dass Ärzte enorme Arbeitszeiten haben. Denken Sie daran, dass praktische Ärzte neben ihren Ordinationen oft Hausbesuche machen, Bereitschaftsdienste haben, auch an den Wochenenden, und der Spitalsarzt neben seiner Regelarbeitszeit zusätzlich Nachtdienste macht. Definitionsgemäß sind diese Bereitschaftsdienste und Nachtdienste medizinischen Notfällen oder ähnlichen Situationen vorbehalten, was eine zusätzliche Belastung und Verantwortung bedeutet. Ergänzend noch ein letzter Gedanke: Der Ökonomisierungsdruck wirkt sich besonders ungünstig auf die Arzt-Patient-Beziehung aus.

Orten Sie Unterschiede in Bezug auf Stressbewältigung bei männlichen und weiblichen Ärzten und wenn ja, wie sehen die Unterschiede in den Herangehensbeziehungsweise Bewältigungsstrategien aus?
Die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Ärzten bestehen zunächst einmal darin, dass Frauen nach wie vor tatsächlich doppelt bis dreifach belastet sind. Wir erkennen das auch in vielen Stresshormon-Untersuchungen, wonach bei Männern am Abend die Stresshormonkurve nach unten geht, bei Frauen steigt sie noch einmal stark an, bis zum späten Abend, weil sie in dieser Zeit sehr rasch, geordnet Tätigkeiten im Haushalt ausführen, sich um die Kinder kümmern, kontrollieren, ob für die Schule alles vorbereitet ist, etc. Daher haben wir gerade in jüngeren Lebensjahren – so zwischen 25 und 35 – beziehungsweise auch älter, besonders die Berufsgruppe der Frauen als ‚sehr belastet‘ anzusehen. Auf der anderen Seite sind Frauen Stressbewältigungsstrategien wie Entspannungstherapien, Yoga, etc. gegenüber viel aufgeschlossener als Männer. Männer neigen dann eher zu sportlichen Aktivitäten. Erst zögerlich beginnt hier ein Umdenken, wobei man generell feststellen muss, dass unserer Berufsgruppe niemand auf dem Wege der Ausbildung wirklich beibringt, wie man auf sich selber schaut, wie man vernünftig Regenerationsphasen einschiebt und Ähnliches.

Gerade durch das Internet scheinen Patienten heute informierter denn je, und auch das ist eine Herausforderung für Ärzte. Wie sollten Ärzte damit umgehen?
Das Internet ist eine soziale Realität. Hier müssen wir uns eingestehen, dass das Internet mittlerweile zur wichtigsten Informationsquelle in medizinischen Angelegenheiten geworden ist. Dies gilt nicht nur für Patienten, sondern natürlich auch für Ärzte. Das bedeutet, dass die gesamte Gesellschaft das Internet nützt, um sich medizinisch zu informieren. Unter den vielen 100 Millionen Seiten zum Thema Medizin ist natürlich viel Blödsinn dabei. Auf der anderen Seite finden sich hervorragende Seiten, wo medizinische Informationen in eine gut verständliche Sprache übersetzt werden und den Patienten tatsächlich bereichern. Zudem gibt es ausgewiesene Fachseiten für Ärzte. Sehen wir doch das Internet als Bereicherung dergestalt, dass der Patient sich aktiv Zusatzinformationen beschaffen kann. Mitunter entstehen Auswüchse wie, dass Patienten mit eigenen Diagnosevorstellungen plus Therapievorschlägen in die Ordinationen kommen, vielleicht auch gewürzt mit einer fachlichen Stellungnahme eines Kollegen, der im Internet seine Meinungen ausbreitet. Aber das darf uns nicht verunsichern oder gar verärgern, sondern sehen wir es vielmehr als das, was es ist: eine aktive Auseinandersetzung des Patienten mit seiner Erkrankung. Dort müssen wir ihm begegnen und unsere Aufgabe wird es hier zunehmend sein, die Informationsflut, die den Patienten teilweise auch verwirrt, zu ordnen und je nachdem auf den Boden der Realität zu bringen.

Ganz selbstverständliches „Helfen bis zur Selbstaufgabe“ ist ein Bild, das in der breiten Öffentlichkeit oft Ärzten zugeordnet wird. Diverse TV-Serien haben das Ihre dazu getan, um das Image dahingehend zu zementieren. Wie sehen Sie das?
Mittlerweile ist das Helfen bis zur Selbstaufgabe eher ein Phänomen des zu viel Arbeitens als der Unfähigkeit, sich gegenüber Bedürfnissen, Erkrankungen von Menschen abzugrenzen. In manchen Bereichen hat die Medizin ein Stadium erreicht, das durchaus mit Akkord-Arbeit vergleichbar ist. Hier dürfen wir uns nichts vormachen. Aber natürlich gibt es auch Situationen zuhauf in unserem Beruf, in denen Kolleginnen und Kollegen sich aufopfernd um spezielle Patienten kümmern, außerhalb der Dienstzeit und Dienstverpflichtung, Krankenbesuche machen, sich für den Fall speziell weiter interessieren und helfen, wo sie können.

Welche Möglichkeiten in der Arzt-Patienten-Kommunikation stehen Ärzten offen, um seitens der Ärzteschaft Patienten-Begehrlichkeiten, unrealistischen Wünschen oder Erwartungen zu begegnen oder sogar klare Grenzen zu setzen?

Zur Arzt-Patienten-Kommunikation ist auszuführen, dass sich hier tatsächlich ein Paradigmenwechsel abgespielt hat. Wir sehen heute das Verhältnis Arzt-Patient als ein ebenbürtiges. Das Einverständnis zur Therapie erfolgt nach umfassender Aufklärung der Vor- und Nachteile, nach einem kritischen Abwägen auf Seiten des Patienten im Sinne einer gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung. Hier muss man aber aufpassen, dass man nicht Willfährigkeit anheim fällt. Also es geht nicht darum, wie in einem Bauchladen, zu sagen, wir könnten dies oder jenes nehmen, was immer Sie machen, entscheiden Sie ruhig, es wird schon passen. Meiner Meinung nach sollte der Arzt in jedem Fall die Themenführerschaft behalten, denn das ist seine Kernkompetenz, und wenn man sich entlang dieser Linie bewegt, ist es auch ein Leichtes, ganz klare Grenzen zu setzen. Was erschwerend hinzukommt, ist, dass in den letzten Jahren neben den Begehrlichkeiten auch die Konfliktneigung zugenommen hat. Wie schnell hören wir im Alltag: „Das werde ich an die Zeitung weitergeben“. Hier geht es um größere Gesamtzusammenhänge wie Image und Profil von Ärzten, hier haben wir sehr viel zu tun. Wir (die Ärzteschaft, Anm.) sind zwar nach wie vor in der Bevölkerung die am höchsten angesehene Berufsgruppe, zwischenzeitlich haben wir aber auch ein ‚Marketingproblem’. Denken Sie an in jüngerer Vergangenheit medial enorm aufgebauschte Situationen wie vertragsloser Zustand, ärztliche Behandlungsfehler und Ähnliches. Hier gilt es bewusst gegenzusteuern.

Auf der anderen Seite setzen sich Ärzte wahrscheinlich auch selbst enorm unter Druck, um im Interesse ihrer Patienten zu agieren. Was raten Sie Ärztinnen und Ärzten, um ganz generell zu einer besseren Life-Work-Balance zu kommen?
Wie ich bereits vorhin gesagt habe, bringt uns Ärzten keiner wirklich bei, was eine vernünftige Work-Life-Balance ist. In meiner Generation muss man sich das hauptsächlich autodidaktisch aneignen. Wir haben durchaus das Problem, dass wir unseren Patienten gute Ratschläge geben und ihnen weiterhelfen, ein gesundes, selbstverantwortliches Leben zu entwickeln; dabei übersehen wir unsere eigenen Bedürfnisse. Oft haben wir auch aufgrund der enormen zeitlichen Belastung gar nicht die Möglichkeit, in Ruhe zu reflektieren. Genau dieser Reflexionsprozess ist es jedoch, den es braucht, um entsprechende Schritte zu setzen, damit eben die Balance zwischen Berufs- und Privatleben ausgeglichener wird. Gerade in unserer Berufsgruppe haben wir hier eine eindeutige Verschiebung in Richtung Arbeitswelt.

Zu guter Letzt: Was müsste sich Ihrer Meinung nach aus politischer Sicht ändern, um Ärzten ein Zuviel an Druck zu nehmen und damit vielleicht auch den Arztberuf wieder etwas attraktiver zu machen?
Aus politischer Sicht wäre es notwendig, klare rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die bestimmte Entscheidungs- und Ablaufprozesse vereinfachen. Denken Sie nur an die Situation, was alles an Abklärung stattfindet, nur um Haftungsfragen auszuschließen. Eine Imagekorrektur tut auf jeden Fall not; ich bin mir nicht sicher, ob weithin bekannt ist, dass die Ärzte, die tatsächlich zu den Spitzenverdienern in Österreich gehören, dafür auch eine enorme Arbeitsleistung, die weit über die Arbeitsleistung der Bevölkerung hinausgeht, erbringen. Dabei führt oft nur die Masse der Leistungen zu einem vernünftigen Einkommen, wobei der Arzt als Unternehmer allein verantwortlich für sein Unternehmen, seine Mitarbeiter und sich selbst ist.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2010