Interview – Univ. Prof. Dr. Gerald Gartlehner: Prävention anstelle kurativer Medizin

25.05.2010 | Politik

Ein enormes Potential in der Prävention ortet Prof. Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems, einer der wissenschaftlichen Leiter des Europäischen Forums für evidenzbasierte Prävention, das Mitte Juni zum zweiten Mal in Baden bei Wien stattfindet. Das Gespräch führte Alexandra Bachmayer.

ÖÄZ: Welche Ziele verfolgt das EUFEP?
Gartlehner: EUFEP versteht sich als internationale Plattform für „best practices“ in der Präventivmedizin und Gesundheitsförderung. Ziel ist es, Herausforderungen und Strategien der Planung, Umsetzung und Bewertung populationsbezogener Programme und Projekte zu diskutieren sowie Erfahrungen mit internationalen Experten auszutauschen. Weiters sollen nationale und internationale Institutionen mit ihren Strukturen und Zielsetzungen vorgestellt und Vernetzungen ermöglicht werden.

Das Motto der Veranstaltung lautet „Mentale Gesundheit – Förderung mentaler Gesundheit und Prävention psychischer Erkrankungen“. Warum ist dieses Thema wichtig?
Die epidemiologischen Daten zeigen eine enorme Krankheitslast in der westlichen Welt durch mentale Erkrankungen. Vor zwei Jahren ergab eine Meinungsumfrage innerhalb der EU eine Prävalenz von 27 Prozent für mentale Erkrankungen innerhalb von zwölf Monaten. Das bedeutet, dass jeder vierte Europäer angab, innerhalb des letzten Jahres unter psychischen Beschwerden gelitten zu haben. 18 Millionen Europäer leiden an einer Depression, weitere 18 Millionen an einer Angststörung. 58.000 Selbstmorde werden innerhalb der EU begangen. Jeder 15. Österreicher gab an, innerhalb der letzten vier Wochen zumindest einen Arbeitstag aufgrund psychischer Probleme versäumt zu haben. Jedoch nahm nur ein Drittel dieser Personen ärztliche Hilfe in Anspruch, da das Thema psychische Erkrankungen in Österreich noch immer tabuisiert ist. Von den Betroffenen, die professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, erhalten laut einer Schätzung des Eurobarometers nur zehn Prozent auch tatsächlich eine adäquate Therapie. Und schlussendlich sind psychische Erkrankungen einer der häufigsten Gründe für eine Frühpension in Österreich.

Welches Ziel setzt sich die Veranstaltung?
Wir wollen Entscheidungsträger aus der Gesundheitspolitik und Ärzte aus dem
klinischen Bereich zusammenbringen. Das EUFEP bietet die Plattform für Diskussionen, im Zuge derer im kleinen Rahmen aktuelle Themen besprochen werden können.

Können Sie Strategien zur Förderung mentaler Gesundheit nennen?
Die Menschen sollen gesund bleiben, ihre Gesundheit soll gefördert werden. Es gibt zahlreiche Risikofaktoren für mentale Erkrankungen wie Arbeitslosigkeit, Gewalt, Stress oder Traumen. Vieles davon wie zum Beispiel die Arbeitslosigkeit ist der Prävention nicht zugänglich und lässt sich nur schwer beeinflussen. Unter der Förderung mentaler Gesundheit verstehen wir das Anbieten von Coping-Strategien: wie geht man mit Stress um, wie mit Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz.

Wie sehen Präventionsprogramme aus?

Es geht dabei um klinische Prävention wie zum Beispiel das Screening nach Depressionen bei Kindern und Jugendlichen. Wissenschaftliche Studien belegen den Nutzen solcher Programme. Im Rahmen des Symposiums werden unter anderem Burn out-Präventionsprogramme auf Intensivstationen, psychotraumatologische Notfall-Kits oder das schottische Suizid-Präventionsprogramm vorgestellt. Wir versprechen uns davon auch ein Übergreifen dieser Dynamik auf Österreich, wo sich auf diesem Gebiet bisher leider noch nicht allzu viel tut.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang „evidenzbasiert“?
Grundsätzlich versteht man unter evidenzbasierter Medizin die „auf Beweismaterial gestützte Heilkunde“. In diesem konkreten Fall wird beurteilt, was „am Ende des Tages“ von den Präventionsprogrammen bleibt, das heißt, welchen Nutzen die Patienten nach Monaten oder Jahren davon haben. Ist es zum Beispiel zu einer Verbesserung der Gesundheitssituation oder zu einer Reduktion der Mortalitätsrate gekommen? Da die Ressourcen limitiert sind, ist es besonders wichtig, vorhandene Gelder zielgerichtet und effizient einzusetzen. Dies gelingt am besten anhand von solchen evidenzbasierten Programmen.

Welche Rolle spielt der Allgemeinmediziner?

Er hat meiner Meinung nach eine der wichtigsten Aufgaben im Gesundheitssystem, nicht nur als „Gatekeeper“. Aufgrund seiner breiten medizinischen Ausbildung kann er komplexe Zusammenhänge erfassen. Anhand der vom Patienten geschilderten Beschwerden ist es ihm möglich, die Erkrankung zu identifizieren und bezüglich der Therapie den richtigen Weg einzuschlagen. Kommt zum Beispiel ein Patient mit einer Depression und körperlichen Schmerzen in die Praxis und denkt der Hausarzt sofort an eine mentale Erkrankung, die die somatischen Beschwerden verursacht, wird er rasch die richtige Therapie einleiten. Dieser Verlauf ist für den Betroffenen ideal. Schickt der Arzt den Patienten zunächst zu einem Orthopäden, wird sich die richtige Diagnose verzögern und der Leidensweg verlängern.

Einen Schwerpunkt bei der Tagung wird auf Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen gelegt. Was ist bei diesen Persongruppen jeweils zu beachten?
Kinder stellen eine besonders vulnerable Gruppe dar. Das familiäre und das soziale Umfeld spielen eine enorm wichtige Rolle. Für Ärzte und gesundheitsfördernde Einrichtungen sind diese jedoch schwer erreichbar. Wichtig ist es deshalb, den Kindern Coping-Strategien anzubieten. Das bedeutet einerseits, Probleme frühzeitig zu erkennen und andererseits aufzuzeigen, wie man mit einer schwierigen Situation umgeht. Im Rahmen unseres Symposiums wird aber auch diskutiert, ob die Zahl der Kinder mit ADHS tatsächlich im Ansteigen ist oder ob es sich um eine „Modeerkrankung“ handelt. Österreich ist jedenfalls – was die kinderpsychiatrische Betreuung betrifft – deutlich unterversorgt. Umso wichtiger ist es, gesundheitsfördernde Programme in Kindergärten und Schulen zu propagieren. Ein erster Schritt in die richtige Richtung sind die „Gesunde Schule“-Programme, wo es zwar hauptsächlich um Bewegung und Ernährung geht, wo jedoch langsam auch die mentale Gesundheit an Bedeutung gewinnt.

Um welche Aspekte geht es bei älteren Menschen?
Ältere und pflegebedürftige Menschen leiden oft unter Vereinsamung und Mangel an sozialen Kontakten. Aufgrund dieser Probleme werden sie häufig mit Psychopharmaka therapiert, die jedoch nachgewiesenermaßen bei leichten Depressionen nicht wirksam sind. Somit haben diese Personen in erster Linie die Nebenwirkungen der Medikamente zu tragen. Ein zukunftsweisendes Projekt kommt aus den USA, wo ältere Menschen, die dazu in der Lage sind, im Rahmen von verschiedenen Volontariaten eine neue Beschäftigung finden.

Sind wir mit unserer Medizin, die erst die Erkrankung therapiert, auf dem richtigen Weg?
Daten aus den USA zeigen, dass mit Hilfe der kurativen Medizin zehn Prozent aller Todesfälle vermieden werden können. Mit Hilfe der Prävention dagegen sind es 40 Prozent aller Todesfälle. Das bedeutet, dass hier ein großes Potential besteht.

Wie sehen die internationalen, wie die österreichischen Strategien aus?

Was die mentalen Erkrankungen, deren Diagnose und Therapie betrifft, befindet sich Österreich nicht auf internationalem Niveau. Laut Experten sollen drei bis fünf Prozent der Bevölkerung psychotherapeutisch versorgt sein. In Österreich sind es gerade einmal 0,5 Prozent, in Deutschland immerhin 2,5 Prozent. In Bezug auf evidenzbasierte Medizin sind uns die angelsächsischen und skandinavischen Länder um Jahre voraus. Dort gibt es viel härtere evidenzbasierte Ansätze. Es besteht ein Zugang zum besten verfügbaren Wissen. In Österreich dagegen dominiert die hierarchisch strukturierte Medizin und es existiert ein Spannungsfeld zwischen Experten-lastiger Hierarchie und evidenzbasierter Medizin. Das EUFEP möchte dazu beitragen, hier einen Ausgleich zu schaffen zum Nutzen der Patienten.

EUFEP Symposium 2010
„Mentale Gesundheit“

Zeit: 16. bis 18. Juni 2010
Ort: Baden/NÖ
Details und Anmeldung: www.eufep.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2010