Inter­view – Dr. Georg Wult­sch: Arbeits­me­di­zin: Vom Neben- zum Hauptberuf?

25.09.2010 | Arbeitsmedizin, Politik



Die Arbeits­me­di­zin ist bis­lang ein „klei­nes Son­der­fach“ geblie­ben. Das könnte sich ändern, erklärt Georg Wult­sch, Fach­grup­pen­ob­mann der Fach­ärzte für Arbeits­me­di­zin der ÖÄK und Refe­rats­lei­ter für Arbeits­me­di­zin der stei­ri­schen Ärz­te­kam­mer im Gespräch mit Ruth Mayr­ho­fer.

ÖÄZ: Wel­chen Stel­len­wert mes­sen Sie der Arbeits­me­di­zin im Gesamt­kon­zert der ärzt­li­chen Tätig­keits­spek­tren zu?
Wult­sch: Arbeits­be­dingte Erkran­kun­gen sind seit jeher vom behan­deln­den Arzt dif­fe­ren­ti­al­dia­gnos­tisch in Betracht zu zie­hen. So wird unter ande­rem bei der Erhe­bung der Kran­ken­ge­schichte sehr genau auf die beruf­li­chen Ein­fluss­fak­to­ren geach­tet. In jedem der ein­zel­nen Son­der­fä­cher wer­den in der Aus­bil­dung auch die jeweils fach­spe­zi­fi­schen berufs­be­ding­ten Erkran­kun­gen gelehrt. Mei­ner Mei­nung nach ist die Arbeits­me­di­zin in ihrem zusam­men­fas­sen­den und fach­über­grei­fen­den sowie inter­dis­zi­pli­nä­ren Ver­ständ­nis – in der Beur­tei­lung und Bewer­tung des Zusam­men­hangs zwi­schen Erkran­kung und beruf­li­chen Belas­tun­gen und Bean­spru­chun­gen – ein wesent­li­cher Bestand­teil der Medi­zin und ein nicht mehr weg­zu­den­ken­der Teil­aspekt in der ärzt­li­chen Pra­xis. Durch die Kon­zen­tra­tion im nicht-kli­ni­schen Bereich gestal­tet sich die Zusam­men­ar­beit daher oft auch auf direk­tem Weg zwi­schen nie­der­ge­las­se­nem Arzt, Kran­ken­an­stalt und Arbeits­me­di­zi­ner vor Ort.

Gibt es Zah­len, die den Wert der Arbeits­me­di­zin für die Mitarbeiter/​Unternehmen unter­mau­ern?
Natür­lich gibt es sol­che Zah­len, die bele­gen, dass die Sen­kung von Arbeits­un­fäl­len und Aus­falls­ta­gen eine enorme volks­wirt­schaft­li­che Bedeu­tung haben. Die Frage ist jedoch, ob man Medi­zin – in die­sem Fall die Arbeits­me­di­zin – betriebs­wirt­schaft­lich in Zah­len und Mess­wer­ten beur­tei­len sollte. Denn die Ver­bes­se­rung eines Arbeits­plat­zes oder von Arbeits­be­din­gun­gen ist in der betrieb­li­chen Pra­xis immer ein gemein­sa­mes Pro­dukt meh­re­rer bemüh­ter Part­ner – dem Fak­tor Arbeits­me­di­zin jetzt einen spe­zi­fi­schen Zah­len­wert zuzu­ord­nen emp­finde ich schwie­rig. Viel­leicht sind der stän­dige Anstoß zu einer Ver­än­de­rung und das Beschrei­ben von Ver­bes­se­rungs­po­ten­zia­len die Werte, die eine Firma oder die Arbeit­neh­mer als beson­dere Bera­tungs­tä­tig­keit schätzen.

Wel­che fach­li­chen und per­sön­li­chen Vor­aus­set­zun­gen soll­ten Ärzte mit­brin­gen, um sich erfolg­reich im Feld der Arbeits­me­di­zin behaup­ten zu kön­nen?
Eine der Haupt­ent­schei­dun­gen liegt sicher­lich in der Ent­schei­dung: Will ich haupt­säch­lich kura­tiv oder haupt­säch­lich prä­ven­tiv tätig sein? Als Arbeits­me­di­zi­ner stellt man in wei­te­rer Folge oft eine bera­tende Schnitt­stelle oder koor­di­nie­rende Anlauf­stelle dar: sei dies zum Bei­spiel im Bereich einer inner­be­trieb­li­chen ärzt­li­chen Fra­ge­stel­lung bei der Pla­nung einer Betriebs­stätte oder bei der Bewer­tung eines neuen Arbeits­stof­fes oder aber auch im Bereich des Wie­der­ein­glie­de­rungs­pro­zes­ses nach lan­ger oder schwe­rer Krank­heit. Es sind auf­fal­lend mehr Manage­ment­fra­gen zu meis­tern, als man bei Berufs­ein­stieg erwar­tet; und es ist bei wei­tem mehr Inter­esse an tech­ni­schem und juris­ti­schem Sach­ver­hal­ten gefragt, als es für Ärzte nach Been­di­gung des Stu­di­ums not­wen­dig erscheint. Das Inter­esse an die­sen nicht medi­zi­ni­schen Inhal­ten, die Fähig­keit auf Men­schen am Arbeits­platz zuzu­ge­hen und gewisse Manage­ment­auf­ga­ben oder orga­ni­sa­to­ri­sche Auf­ga­ben anzu­neh­men sind Grund­vor­aus­set­zung und oft auch eine gewisse Garan­tie für erfolg­rei­ches Han­deln im Kon­text des Arbeit­neh­mer­schut­zes.

Was wer­den die spe­zi­fi­schen Her­aus­for­de­run­gen der Arbeits­me­di­zin der Zukunft sein?
Lei­der haben auf euro­päi­scher und auch öster­rei­chi­scher Ebene die Belas­tun­gen der Arbeits­welt trotz Auto­ma­ti­sie­rung und Zunahme oder Ver­la­ge­rung der Tätig­kei­ten in Rich­tung des Dienst­leis­tungs­sek­tors nicht abge­nom­men. Schwere kör­per­li­che Arbeit, Arbeit mit gefähr­li­chen Stof­fen und erzwun­gene Kör­per­hal­tung als Aus­lö­ser von Kran­ken­stand und dau­er­haf­ter Erwerbs­un­fä­hig­keit sind nach wie vor in unse­rer „Wis­sens­ge­sell­schaft“ deut­lich prä­sent; grob geschätzte 23 Pro­zent aller Kran­ken­stände las­sen sich auf diese Belas­tun­gen im Bereich der Arbeit zurück­füh­ren. Das bedeu­tet ein Weg von den klas­si­schen Berufs­krank­hei­ten, ver­mehrt hin zu den berufs­be­ding­ten Erkran­kun­gen und deren Prä­ven­tion. Ein Ansatz­punkt wird hier sicher­lich die Betrieb­li­che Gesund­heits­för­de­rung sein. Als wei­tere Her­aus­for­de­run­gen seien, neben der Bewäl­ti­gung der gerade ange­spro­che­nen Ent­wick­lun­gen, die immer deut­li­cher wer­den­den psy­chi­schen Belas­tun­gen durch Stress und Arbeits­druck, und die einer immer älter wer­den­den arbei­ten­den Bevöl­ke­rung inhä­ren­ten Fra­ge­stel­lun­gen genannt. Ein deut­li­ches Mit-Ein­ge­bun­den-Sein in der Bewer­tung von sozi­al­po­li­tisch rele­van­ten Fra­ge­stel­lun­gen erfolgte in den letz­ten Jah­ren und könnte in Folge ein wei­te­res Zukunfts­thema dar­stel­len.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 18 /​25.09.2010