Interview – Dr. Erwin Rasinger: Amerikanisierung verhindert

10.09.2010 | Politik

VP-Gesundheitssprecher Erwin Rasinger über Ärztegesellschaften und die neue ärztliche Haftpflichtversicherung, die Freiberuflichkeit und die Rolle des Hausarztes im ÖÄZ-Exklusivgespräch mit Martin Stickler.


ÖÄZ: Nun sind die neuen Ärztegesellschaften endlich Wirklichkeit.

Rasinger: Ja. Dabei gab es zuletzt noch gewaltige Hürden zu überspringen. Im Zuge der Beschlussfassung wollte der Gesundheitsminister eine unlimitierte Haftpflichtversicherung für alle niedergelassenen Ärzte von drei Millionen Euro im Einzelfall ohne Jahresobergrenze einführen. Selbst die Versicherungswirtschaft hat von zusätzlichen Gesamtkosten für die Ärzteschaft von 50 Millionen gesprochen. Der durchschnittliche niedergelassene Arzt hätte fünf Mal mehr Prämien zahlen müssen. Im letzten Augenblick ist es mir geglückt, das zu verhindern. Mit kräftiger Unterstützung der Ärztekammer konnte die Summe pro Schadensfall auf zwei Millionen reduziert werden. Für Einzelpraxen gilt ein Limit von drei, für Gruppenpraxen von fünf Fällen pro Jahr.

Fachleute bestätigen, dass überhöhte Deckungssummen eine Spirale nach oben und eine Amerikanisierung bedeuten – mit all ihren Nachteilen. Ich bin froh, dass es nicht dazu gekommen ist.
Zusätzlich wurde eine langjährige Forderung der Ärztekammer verwirklicht: Der Patient kann jetzt die Versicherung direkt klagen. Das ist für den Arzt eine Erleichterung. Und die Ärztekammer kann eine Art Gruppenversicherung verhandeln und dadurch wahrscheinlich auch bessere Tarife herausschlagen.

Welche Fallstricke gab es im ursprünglichen Entwurf noch?
Ursprünglich war vorgesehen, dass der Minister den Ärzten per Verordnung vorschreibt, wie die Qualitätssicherung gehen soll. Sie verbleibt nun in den Händen der Ärzte. Und das ist gut so. Es würde ja auch keinem Arzt einfallen, Kriterien für den Brückenbau zu entwickeln. In der Gesundheitspolitik glauben viele, dass schon eine einfache Grippeerkrankung reicht, um die Kompetenz zu erlangen, den Ärzten zu sagen, was die richtige Qualität ist. Die Qualitätssicherung muss in der Hand von ärztlich Ausgebildeten bleiben.

Waren diese Ergebnisse mit Junktimierungen verbunden?
Nein, auch der entschlossene Druck Präsident Dorners und der Ärztekammer hat das Einlenken des Ministers bewirkt. Das ist ein toller Erfolg. Es ist auch Minister Stöger zu danken, dass er das Thema dynamisch vorangetrieben hat.

Wie werden sich die Ärztegesellschaften auswirken?
Sie waren dringend notwendig, damit wir vom Ruf wegkommen, Weltmeister im Spitalliegen zu sein. Jetzt haben wir die Chance für verbesserte Bedingungen im ambulanten Bereich. Das wird aber nur dann aufgehen, wenn die Krankenkassen die Rahmenbedingungen nicht nutzlos erschweren. Sonst werden die Gruppenpraxen eine Totgeburt. Denn man kann nicht erwarten, dass wesentliche Leistungen aus dem Spital verlagert werden, aber keinerlei Geld in den niedergelassenen Kassenbereich fließt.

Das heißt, jetzt muss man erst einmal investieren.
Der entscheidende Punkt ist, man kann nicht mehr Patienten in den ambulanten Bereich hineindrängen und sagen, was im Spitalsbereich passiert, interessiert mich nicht. Hier muss ein transparentes Finanzierungssystem – etwa die Finanzierung aus einer Hand – dafür sorgen, dass die Verschiebungen leichter nachzuvollziehen sind. In Österreich ist jetzt einmal ein erster, wichtiger Schritt gesetzt. Wäre das nicht geschehen, hätten wir das Problem, dass an den Grenzen Österreichs nach dem EU-Recht bereits hunderte Investoren lauern, die Gesellschaften gründen wollen, in welchen der Arzt nur mehr angestellt ist.

Ambulatorien zu gründen, ist jetzt aber auch nicht ausgeschlossen.
Ja, doch ihre Gründung unterliegt einem strengen Zulassungsverfahren. Das stört viele in der Wirtschaftskammer. Dagegen können Ärzte, die bereits eine Kassenpraxis haben, erleichtert eine Gruppenpraxis gründen. Es müssen aktive Ärzte sein, das ist der wesentliche Punkt. Die Gründung von Versorgungsketten durch Drittinvestoren, das gezielte Aufkaufen von Arztpraxen durch börsennotierte Gesellschaften wie in Deutschland gehen hier nicht. Damit würde ja auch die Freiberuflichkeit praktisch aussterben. Das hat massive Konsequenzen, weil der Arzt danach beurteilt wird, ob er ökonomisch im Interesse des Konzerns und nicht, ob er im Sinne seiner Patienten verfährt. Das haben wir verhindert und darauf bin ich stolz.

Viele Ärztinnen und Ärzte klagen über die abnehmende Attraktivität des Berufes. Ist dieser Trend mit den neuen Modellen aufzuhalten?
Viele sagen vielleicht, sie könnten den Stress einer Vollordination nicht mehr aushalten. Wir haben schon sehr hohe Burn-out-Raten. Das hat mit der beruflichen Überlastung zu tun, mit dem Einzelkämpfertum. Wir müssen auch berücksichtigen, dass bereits über 50 Prozent der Ärzte Frauen sind, die großteils nicht mehr rund um die Uhr zur Verfügung stehen wollen und können. Die Ärztegesellschaften können ein durchaus attraktives Modell sein, die Freiberuflichkeit weiter zu fördern.

Die kostenorientierte Debatte lässt für die Freiberuflichkeit nur wenig Platz.
Es muss den Ärzten ermöglicht werden, Ärzte zu sein. Sie sind keine Sparkommissare oder Lohnabhängige, die für irgendwelche Konzerne arbeiten. Die Politik gibt leider sehr oft unrealistische Sparziele vor. Die OECD hat erhoben, dass Österreich niedrige Gesundheitskosten hat. Gleichzeitig ist die Performance des Gesundheitswesens unter den drei besten weltweit. Wieso jonglieren Politiker aus dem BZÖ oder der FPÖ einfach mit irrwitzigen Sparmilliarden herum, die ohne Glaubwürdigkeitsprüfung von Ökonomen, die noch nie in Spital oder Ordi tätig waren, übernommen werden? Auch der bayrische Ministerpräsident Seehofer sagt, es ist ein Irrglaube zu meinen, dass das Gesundheitssystem billiger wird.

Ist es nicht schon zur politischen Mode geworden, unreflektiert über angebliche Ineffizienzen im Gesundheitssystem zu jammern?
Ich jammere nicht. Ich glaube, wir sollten stolz sein, dass wir so ein gutes System haben. Barack Obama wurde bei seiner Gesundheitsreform ständig auf Österreich hingewiesen. Österreich neigt dazu, sich selber klein zu machen. Wir sind in vielen Bereichen Weltspitze – beim Notarztsystem, bei der Transplantationszahl. Die Hausärzte vor Ort sind exzellent. Das ist ein Qualitätszeichen für eine Gesellschaft. Man muss den Verantwortlichen deutlich sagen, dass mit dem investierten Geld sehr gute Medizin erbracht wird.

Stichwort Hausärzte. Die Neudefinition ihrer Rolle steht seit Jahrzehnten in den Regierungsprogrammen…
Wir brauchen sicher jemanden im Gesundheitswesen, der alle Befunde verwaltet und erste Anlaufstelle ist; der für die chronisch kranken, meist älteren Patienten die Langzeitbetreuung macht – auch in Hinblick auf Pflegedienste, Sozialdienste. Der die Prävention koordiniert und den Faktor Psyche berücksichtigt. Der Hausarzt gehört aufgewertet, vor allem im städtischen Bereich. Bei deutlich niedrigeren Fallwerten muss er viele Leistungen erbringen. Wenn es einmal so weit kommt, dass für eine alte Frau der Hausarztbesuch nur halb so viel wert ist wie der Tierarztbesuch für den gleich alten Pudel, dann kann etwas nicht stimmen. Wir dürfen Jungärzte nicht abschrecken, Hausärzte zu werden. Ohne Begleitmaßnahmen wird der Beruf durch die alleinige Verlängerung der Ausbildung zur Allgemeinmedizin nicht attraktiver.

Viele Turnusärzte beklagen sich über die praktische Ausbildung.
Im Prinzip ist der Turnus schwer okay, nur er wird in vielen Spitälern nicht gelebt. Seit 25 Jahren gibt es Beschwerden, dass zu wenig Energie in die Ausbildung gesteckt wird, dass Turnusärzte als Schreibkräfte missbraucht werden. Reinste Systemerhalter. Aber sie sollen in drei Jahren das System selbst verantwortlich führen. Das hat dieselbe Unlogik, wie angehende Bankmanager drei Jahre Erlagscheine stempeln und dann eine Bank führen zu lassen. Das wird nicht funktionieren. Doch nicht die Länge der Ausbildung ist entscheidend, sondern der Inhalt. Da müssen alle daran arbeiten. Es kann nicht sein, dass Menschen begeistert den Arztberuf ergreifen und dann ernüchtert feststellen, dass es der Gesellschaft völlig gleichgültig ist, ob sie gut ausgebildet sind oder nicht. Wenn ein Arzt seinen Patienten Wertschätzung und Mitgefühl geben soll, muss man auch mit dem Beruf des Arztes anders umgehen. Er ist ganz wichtig, weil er mit Höhen und Tiefen, mit Anfang und Ende des Lebens zu tun hat.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2010