Hausarzt: Fünf vor zwölf!

25.10.2010 | Politik

Um Zustände wie in den USA, wo es de facto keine Hausärzte mehr gibt, zu verhindern, müssen in Österreich dringend Maßnahmen ergriffen werden, erklärten Experten beim Tag der Allgemeinmedizin Ende September in Wien.
Von Birgit Oswald

„Wir haben in Österreich ein solidarisches Gesundheitssystem, das zu den besten in Europa gehört“, betonte Wolfgang Routil, Präsident der Ärztekammer Steiermark, eingangs in seinem Statement beim Tag der Allgemeinmedizin Ende September in Wien. Von der viel zitierten Kostenexplosion könne nicht gesprochen werden, die Statistik sei konstant, so Routil. 10,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kommen demnach derzeit dem Gesundheitswesen zu Gute Dennoch gebe es die Möglichkeit , Ressourcen zu schonen, vor allem deshalb, weil die E-Card einen „ungehemmten und ungesteuerten“ Zugang zu ärztlicher Versorgung möglich gemacht hätte. „Es besteht eine quantitativ ausreichende Versorgung. Wir finden aber qualitativ Über- und Unterversorgung“, analysierte Routil. Dem könnte etwa durch die Stärkung der hausärztlichen Position und durch die Koordinierung der Patientenströme entgegengewirkt werden.

Das gelänge wiederum mit der Umsetzung des Hausarztmodells, das Jörg Pruckner, Obmann der Sektion Allgemeinmedizin in der ÖÄK, schließlich im Detail vorstellte. Dabei nimmt der Hausarzt eine neue Rolle – nämlich als Arzt des Vertrauens – ein. Diese besteht darin, als Koordinator im System zu fungieren und Patienten lebenslang zu betreuen. Dabei bleibt dem Patienten überlassen, ob er einen Allgemeinmediziner oder einen Facharzt als Hausarzt wählt. In ländlichen Gegenden wird wahrscheinlich der Allgemeinmediziner diese Funktion übernehmen, wie Pruckner betont: „Schon jetzt versuchen die Landärzte, die Funktion des Generations-überschreitenden, patientennahen Gesundheitsmanagers auszufüllen“. Der Hausarzt sammelt demnach alle Befunde und überweist gegebenenfalls an jeweilige Fachärzte. Durch das Modell sei eine Aufwertung des Berufs Hausarzt möglich, was den Engpässen in der ländlichen Gesundheitsbetreuung und der geringen Zahl an Jungmedizinern, die Hausarzt werden wollen, entgegenwirken könnte. Außerdem profitiere der Patient, der durch die lebenslange Betreuung und den niederschwelligen und flächendeckenden Zugang zum Gesundheitssystem die bestmögliche Versorgung erhält.

In der anschließenden Expertendiskussion stand vor allem der politische Stillstand bezüglich der Hausarztdebatte im Vordergrund. Univ. Prof. Kurt Grünewald, Abgeordneter zum Nationalrat, kritisierte die statische Situation der letzten Jahre: „Ich habe ein gutes Gefühl, was das Engagement der Hausärzte betrifft. Bedenklich finde ich, dass seit mindestens 15 Jahren über die gleichen Probleme diskutiert wird ohne wesentliche Veränderung.“ Bisher wäre nicht erkannt worden, dass der niedergelassene Bereich ein Ort der Investitionen sein müsse, vor allem dann, wenn Spitäler entlastet werden sollen. „Die Qualitätssicherung im niedergelassenen Bereich ist machbar, man muss nur investieren“, so Grünewald.

Hausarzt unerlässlich

Erwin Rasinger, Gesundheitssprecher der ÖVP, stimmte Grünewald im Bezug auf die langsame Vorgehensweise der Politik zu und warnte davor, dass der Hausarzt als Beruf verloren gehen könnte: „Es ist fünf vor zwölf. In Amerika gibt es de facto keine Hausärzte mehr. Dort legen Universitäten geförderte Stipendien-Programme auf, um den Beruf attraktiver zu machen. Hier wurde das System irreparabel geschädigt.“ Der Hausarzt sei aber unerlässlich, da nur dieser die familiäre Situation und lange Krankengeschichte des Patienten kenne. Deshalb müsse die hausärztliche Rolle – auch finanziell – gestärkt werden: „Es darf nicht sein, dass der Arzt zwischen ökonomischem Zwang und State of the Art zerrissen wird“, so Rasinger.

Als mühsam und emotionell beschrieb schließlich Gert Wiegele, Obmann der Kurie Niedergelassene Ärzte der Ärztekammer für Kärnten und stellvertretender Obmann der Bundeskurie Niedergelassene Ärzte, die Entwicklung des Hausarztpapiers. Wiegele betonte in diesem Zusammenhang vor allem die Zusammenarbeit zwischen Allgemeinmedizinern und Fachärzten: „Der Entwurf des Hausarztmodells ist der gelungene Versuch, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, Unstimmigkeiten zu beseitigen, Unvereinbarkeiten in den Hintergrund zu schieben und Widerstände abzubauen. Nur gemeinsam kann es gelingen, so ein System zu integrieren“, appellierte Wiegele. Wichtig sei vor allem, dass die Ärzteschaft gemeinsam auftrete.

In diesem Punkt stimmte Grünewald überein und plädierte dafür, das Modell Schritt für Schritt umzusetzen, um der Politik Fakten darlegen zu können. Auch Routil zeigte sich von der Dringlichkeit der Umsetzung überzeugt und forderte eine kämpferische hausärztliche Vertretung; ebenso auch eine evidenzbasierte Politik, um politische Entscheidungsträger überzeugen zu können.

Optimistisch zeigte sich die Vorsitzende der JAMÖ (Junge Allgemeinmediziner Österreichs), Julia Baumgartner, die zumindest eine kleine Bewegung im System zu erkennen meinte: „Es wird seit 20 Jahren diskutiert. Ich denke positiv, es bewegt sich etwas“. Entscheidend seien ihrer Ansicht nach vor allem die Motivation und ein positives Bild des Hausarztes, um das Modell umzusetzen.

Dass Dringlichkeit in der Umsetzung angesagt ist, betonte auch Pruckner: „Der Verlust des Hausarztes ist sicherlich ein Nicht-Ziel. Man möchte den Hausarzt erhalten, ohne etwas dafür zu tun. Dabei wäre es dringend notwendig, erste Schritte zu tätigen.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2010