Arzneimittelfälschungen: Alarmstufe Rot für die Gesundheit!

25.06.2010 | Politik


2009 wurden die heimischen Zollbehörden insgesamt 2.516 Mal in Sachen Produktpiraterie aktiv. Etwa sieben Mal pro Tag erfolgten „Aufgriffe“ von gefälschten Produkten – vom Kleidungsstück bis zum Handy. Arzneimittel stehen an der Spitze der Statistik.
Von Ruth Mayrhofer

„Die Zahl der gefälschten Arzneimittel in Europa, die beim Patienten landen, steigt immer mehr“, beklagte der ehemalige EU-Industrie-Kommissar und Kommissions-Vizepräsident Günter Verheugen Anfang Dezember vergangenen Jahres in einem Interview mit WELT Online. Und fügte hinzu: „Die Kommission ist äußerst besorgt“.

Kein Wunder – hatte man doch innerhalb der EU bei gezielten Zollkontrollen in allen Mitgliedsländern innerhalb von nur zwei Monaten allein 34 Millionen gefälschte Tabletten sichergestellt. Diese Zahl hätte, so Verheugen, „alle Befürchtungen übertroffen“. Verheugen bezeichnete in diesem Zusammenhang Medikamentenfälschungen als „Kapitalverbrechen“, das mit aller Härte bestraft werden müsse. „Jede Fälschung von Arzneimitteln ist ein versuchter Massenmord. Selbst wenn ein Medikament ‚nur‘ unwirksame Stoffe enthält, kann es dazu führen, dass Menschen daran sterben, weil sie glauben, ihre Krankheit mit einem wirksamen Medikament zu behandeln“. Dass Verheugen mit seiner eindringlichen Warnung nicht übertrieb, lässt sich schon daraus ablesen, dass auch in Österreich gar nicht selten nicht nur wirkungslose gefälschte Arzneimittel beziehungsweise solche mit einem „Zuviel“ an Wirkstoffen, sondern auch solche mit Beimengungen von etwa Wand-Dispersionsfarbe, Straßen-Markierungsfarbe, bleihaltigen Farben oder Rattengift abgefangen werden.

Medikamente führen Fälschungs-„Hitliste“ an Daher zeigt man sich auch hierzulande über die Situation in Sachen Medikamentenfälschungen sehr betroffen. Im aktuellen Produktpirateriebericht, der erst vor wenigen Wochen dem Nationalrat vorgelegt wurde, heißt es dazu, dass „die negativen Auswirkungen des Phänomens Produktpiraterie nach wie vor den größten Anlass zur Sorge geben“. Weiter heißt es: „In diesem Bereich ist einerseits noch immer eine Steigerung der Aufgriffszahlen zu verzeichnen und andererseits stellt dies eine der gefährlichsten Formen der Fälschungen dar“. Die österreichische Zollbehörde ist in puncto Aufgriff von Medikamentenfälschungen jedenfalls höchst aktiv: Im Jahr 2009 sind die Fälle von Medikamentenfälschungen, in denen die Zollbehörden tätig geworden sind, gegenüber 2008 zwar leicht zurückgegangen, dennoch sind Medikamenten-Plagiate nach wie vor die größte Produktgruppe bei den Fälschungen: 593 Sendungen mit 27.095 Stück (siehe Tab. 1 und 2).

„Dieser Rückgang ist aber leider nur vermeintlich; tatsächlich ist es jedoch so, dass die Arbeit der Zollbehörden Wirkung zeigt“, erklärt Julian Jandl vom Finanzministerium. „Die Fälscher reagieren nämlich bei der Verteilung der Medikamente auf die Zollkontrollen und suchen immer neue Wege, die „Hürde Zoll“ zu vermeiden“. Das hat etwa die Finanzstrafbehörde des Zollamtes Feldkirch-Wolfurt in einem aktuellen Fall festgestellt (siehe Kasten 1).

Was und wo gefälscht wird

Die „Hitliste“ der vom Zoll nach der EG-Produktpiraterie-Verordnung 2004 beschlagnahmten gefälschten Arzneimittel wird von Lifestyle-Präparaten, vorrangig Potenzmitteln, Diätpillen und Haarwuchspräparaten, angeführt. Allerdings sind es daneben auch zum Beispiel Schmerzmittel, Cholesterinsenker und sogar Onkologika, die nachgefragt beziehungsweise erworben werden (siehe Kasten 2). Das erhob die Nunwood-Datenbefragung 2010, die im Auftrag von Pfizer im November 2009 durchgeführt wurde; sie basiert auf einer Befragung von 14.000 Personen in 14 EU-Staaten. Diese gefälschten Medikamente werden fast ausschließlich über das Internet vertrieben und in Klein- oder Kleinstsendungen verschickt. Dass Arzneimittel gerade aus dem Internet nachgefragt werden, erscheint Claudia Handl von Pfizer, deren Produkt Viagra als besonders fälschungsanfällig gilt, „logisch“: Die Möglichkeiten des Internets, nämlich Waren oder andere Dienstleistungen (wie etwa Online-Banking) einfach, zeitunabhängig, weltweit und oft auch anonym zu beziehen, tragen ganz wesentlich zu diesem Phänomen bei. Diese „Bequemlichkeit“ ist laut Nunwood-Umfrage der Grund Nummer Eins, warum es auch bei Arzneimitteln zu Käufen aus dem Internet kommt.

Gefälschte Arzneimittel, die in Österreich abgefangen werden, kommen hauptsächlich aus China und Indien. Produktionsstätten in Europa sind – zumindest den für diesen Beitrag Befragten – nicht bekannt. Innerhalb der legalen österreichischen Verteilerkette – so Pharmig-Generalsekretär Jan-Oliver Huber in einem Vortrag – seien Arzneimittelfälschungen jedoch noch nie aufgetaucht. Die vernunftmäßige Schlussfolgerung: Wer auf Nummer Sicher gehen will, sollte seine Medikamente generell ausschließlich in den heimischen Apotheken erwerben.

Das Verhalten der Österreicher

In Österreich beziehen der Nunwood-Umfrage zufolge immerhin 17 Prozent der Bevölkerung rezeptpflichtige Arzneimittel aus dem Internet: von „echten“ Online-Apotheken genauso wie aus höchst zweifelhaften Quellen. Dabei ist das Risikobewusstsein der Österreicher zumindest in der Theorie hoch: Den Risikoquotienten einer Einnahme von rezeptpflichtigen Medikamenten ohne Verordnung bewerten sie immerhin mit 80 Prozent. „Das heißt, es ist in der Bevölkerung ein gewisses Wissen um das Gefahrenpotenzial vorhanden, welches jedoch bei jenen, die solche Arzneimittel bestellen, nicht wirklich durchschlägt“, interpretiert Claudia Handl. Das unterstreicht eine weitere Erkenntnis aus der Nunwood-Studie: Einer von fünf Österreichern, Deutschen, Italienern oder Niederländern sagt, dass es keinen Einfluss auf das Arznei-Kaufverhalten hätte, wenn sie wüssten, dass das Produkt gefälscht sei. Das heißt: Sie würden es trotzdem kaufen.

Breite Bewusstseinsbildung scheint also das Gebot der Stunde. Einzelaktionen – wie etwa der Publikumstag der AGES zum Thema vor wenigen Wochen – sind eine begrüßenswerte Initiative, aber nicht durchschlagskräftig genug, meint Claudia Handl. Wünschenswert wäre daher eine Gemeinschaftsaktion aller davon Betroffenen, um auch eine finanziell abgesicherte Aufklärungsarbeit in größerem Stil als bisher betreiben zu können.

„Echt“ oder gefälscht?

Für den einzelnen Bezieher von Waren aus dem Internet oder anlässlich eines Kaufs beispielsweise im Ausland wegen eines niedrigeren Preises ist es außerordentlich schwierig, selbst festzustellen, ob ein Arzneimittel „echt“ ist oder „gefälscht“. Zum einen lassen sich die Inhaltsstoffe ausschließlich durch chemische Analysen genau identifizieren. Zum anderen werden die Produzenten von Arznei-Plagiaten, was das Aussehen der Produkte inklusive der Verpackungseinheiten betrifft, immer perfekter. Deswegen arbeiten viele Unternehmen der Pharmaindustrie mit erklecklichem Mittelaufwand daran, ihre Produkte fälschungssicher zu machen: Spezielle, produktionstechnisch aufwändige Kennzeichen wie zum Beispiel Farbverläufe auf Packungen, Hologramme oder spezielle Aufdrucke auf Blistern sollen beitragen, „echte“ Produkte zu identifizieren. Pfizer ist mit diesen Anstrengungen nicht allein; moderne Rückverfolgungstechnologien sind bei diversen Pharmaunternehmen in Testung. Claudia Handl sieht diese Maßnahmen als Service für den Patienten, zugleich jedoch als Image-Selbstschutz für die Industrie: „Schließlich geht es bei Zwischenfällen auch um die Reputation der einzelnen Pharmafirmen, denn im ersten medialen Schritt wird es immer heißen, ein Zwischenfall hätte sich mit dem Originalpräparat ereignet“!

EU rüstet auf

Auch in der EU tut sich einiges, um Arzneimittel fälschungssicher zu gestalten. Mit Sicherheitsmerkmalen und Qualitätssiegeln für Internet-Apotheken will sie Medikamentenfälschern das Handwerk legen. Der Gesundheitsausschuss der EU beschloss daher erst Ende April 2010, dass zum Beispiel jede verschreibungspflichtige Arzneimittelpackung künftig mit EU-weit einheitlichen Sicherheitsmerkmalen gekennzeichnet sein muss. Die Packungen werden beim Verkauf gescannt, um sicherzustellen, dass es sich um das Originalprodukt handelt. Dies soll eine lückenlose Rückverfolgung der Produkte vom Ladentisch bis zum Hersteller ermöglichen. Für Internet-Apotheken wird ein Qualitätssiegel in Form eines Logos eingeführt. Dieses Logo, das auf den Homepages aufscheinen wird, muss von den nationalen Aufsichtsbehörden autorisiert werden. Spezielle Verlinkungen zu öffentlichen Listen sollen dafür Sorge tragen, dass sich niemand illegal damit schmückt. Der sogenannte Parallelhandel, bei dem Händler Medikamente in einem Mitgliedsstaat billig einkaufen und in einem anderen teurer verkaufen, soll hingegen zugelassen bleiben. Allerdings wird das Zerschneiden oder Öffnen von Tablettenblistern oder Flaschen untersagt. Die für Juni 2010 geplante Verabschiedung dieser Regeln im EU-Parlament gilt lediglich als „Formsache“.

 

 

Arzneimittelfälschungen auf der Spur (Kasten 1)

Leider nicht „Tatort“ im Fernsehen, sondern Realität: Dem Zollamt Feldkirch-Wolfurt ist 2009 dank eines Hinweises der Post und der Kriminalabteilung Bregenz ein großer Wurf gelungen. Es deckte einen Schmuggelfall mit gefälschten Potenzmitteln auf. Konkret hatte der Zoll mehr als 3.000 Briefsendungen mit 32.000 gefälschten Tabletten im Gesamtwert von 265.400 Euro beschlagnahmt – offenbar nur die Spitze eines Eisberges. Die Ermittlungen laufen bei der Kriminalabteilung Bregenz und den deutschen Zollfahndungsämtern auf Hochtouren. Bei den Hauptverdächtigen in Deutschland wurden  Hausdurchsuchungen durchgeführt, in Vorarlberg vom Zoll bisher zwei Konten geöffnet. Dabei zeigte sich, dass auf diese Konten in einem kurzen Zeitraum rund 250.000 Euro für Tablettenlieferungen einbezahlt wurden. Weitere Kontoöffnungen stehen bevor.

Die Medikamente wurden in China oder Indien produziert und in die EU geschmuggelt. Über ein Verteilerzentrum in Tschechien, das von einigen wenigen, gut organisierten Drahtziehern betrieben wird und über ein ausgeklügeltes Netzwerk verfügt, sollten die Tabletten von Österreich aus per Post verschickt werden. Der Großteil der Pillen sollte nach Österreich gehen, ein weiterer Teil in die Schweiz, nach Deutschland, Frankreich, Spanien und Tschechien verschickt werden.

Untersuchungen durch das Bundesamt für Sicherheit und Gesundheitswesen haben in diesem Fall bestätigt, dass es sich bei den Arzneien tatsächlich um Fälschungen handelt. Dabei hat die AGES PharmMed festgestellt, dass die Qualität der Medikamente grob mangelhaft ist, weil der Wirkstoffgehalt schwankt und deutlich – bis teilweise unter 50 Prozent – unter dem deklarierten Wert liegt oder überhaupt ein ganz anderer Wirkstoff enthalten ist als angegeben. Außerdem handelte es sich bei etlichen Arzneimitteln um solche, die in Österreich gar nicht zugelassen sind.

Quelle: Österreichischer Produktpirateriebericht 2009

 

 

„Hitliste“ der Arzneimittel, nach denen im Internet gesucht wird (Kasten 2)

1) Mittel zur Gewichtsreduktion
2) Grippemedikamente
3) Antidepressiva
4) Rauchentwöhnung
5) Medikamente gegen chronische Schmerzen
6) Cholesterinsenker
7) Potenzmittel
8) Krebsmedikamente

Quelle: Nunwood-Datenbefragung 2010, durchgeführt im Auftrag von Pfizer im November 2009; Befragung von 14.000 Personen in 14 EU-Staaten

 

 

Produktpiraterie 2009*

(Tab. 1)

Produkt

Anzahl Fälle

Anzahl
gefälschte Artikel

Geschätzer Wert der Originalwaren in € **

Schuhe (ohne Sportschuhe)

380

256.050

8.021.229,-

Uhren

335

1.779

3.050.005,-

Kleidung

298

39.296

2.443.038,-

Arzneimittel

593

27.095

541.120,-

Mobiltelefone

243

4.271

504.690,-

*) Quelle: Auszug aus dem Produktpirateriebericht 2009 des Bundesministeriums für Finanzen, präsentiert im Mai 2010. Der vollständige Bericht ist im Internet abrufbar unter https://www.bmf.gv.at/Zoll/Produktpiraterie/2009.pdf
**) Die Schätzung des Warenwertes erfolgte im Einvernehmen mit den Rechtsinhabern der Originalwaren.

Entwicklungen der Medikamentenfälschungen in Österreich * (Tab. 2)

Jahr

Fälle

Anzahl der Fälschungen (Stück)

2004

0

0

2005

1

55

2006

127

12.271

2007

958

42.386

2008

783

40.078

2009

593

27.095

* Quelle: Produktpirateriebericht Österreich, 2009, Seite 9  

 

 

„Echt“ oder Fälschung?

Die Fälscher geben sich, was das Aussehen der Produkte und ihrer Packungen betrifft, alle Mühe, authentisch zu arbeiten. Hier dennoch einige Merkmale für einen allerersten Check, die dem Fachpublikum auffallen sollten, eine chemische Analyse aber nicht ersetzen können:

Achten Sie auf:

  • Korrekt geschriebener Herstellername
  • Packungsgrößen, die sich von jenen im Handel unterscheiden
  • Qualitativ schlecht bedruckte Packungen
  • Gebrauchs-/Fachinformation: Inhaltlich eher spärlich, schlecht oder schief gedruckt, fehlerhafte Orthografie


Quelle: Roche Austria, Mai 2010

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2010