Riesenzellarteriitis: Fehlgeleitete Diagnose

15.12.2010 | Medizin

Wegen der breit gefächerten Symptomatik und der Tatsache, dass die Riesenzellarteriitis auch ohne auffälligen Lokalbefund ablaufen kann, schätzen Experten die Fehldiagnosen bei dieser Erkrankung auf bis zu 20 Prozent.
Von Irene Mlekusch

Mit einer Inzidenz von 20 bis 50 Betroffenen pro 100.000 Personen ist die Riesenzellarteriitis in unseren Breiten die häufigste aller Vaskulitisformen im höheren Alter. Die Ursache für diese fokal granulomatöse, nekrotisierende Panarteriitis mit mononukleären Infiltraten und Riesenzellen ist noch nicht ganz geklärt. Als Trigger werden immer wieder Infektionen diskutiert. Univ. Prof. Marianne Brodmann von der Klinischen Abteilung für Angiologie an der Medizinischen Universität Graz hält diese Theorie aufgrund der saisonalen Häufung der Entzündung im Frühjahr und Herbst für wahrscheinlich. Auch über eine Assoziation zum HLA DR4 Haplotyp wird diskutiert. Brodmann dazu: „Die Assoziation ist zwar möglich, aber man darf nicht davon ausgehen, dass jeder HLA-positive Patient auch wirklich eine Arteriitis bekommt.“ In etwa der Hälfte aller Fälle ist die Riesenzellarteriitis mit dem klinischen Syndrom einer Polymyalgia rheumatica vergesellschaftet. Umgekehrt zeigen bis zu 20 Prozent der Patienten mit Symptomen der Polymyalgia rheumatica eine stille Arteriitis temporalis, die sich mittels Biopsie bestätigen lässt. „Klinisch ist es wichtig, die Polymyalgia rheumatica von Riesenzellarteriitis zu trennen, da hier verschiedene therapeutische Konsequenzen und Dosierungen wie etwa von Cortison ins Auge gefasst werden müssen“, gibt Univ. Prof. Heinrich Resch, Vorstand der II. Medizinischen Abteilung mit Gastroenterologie und Rheumatologie am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Wien, zu bedenken.

Resch beschreibt die Kardinalsymptome als pochenden Kopfschmerz, umschriebenen Schläfendruck, plötzliches Fieber oder Fieberschübe und plötzliche Visusverschlechterung. Aber auch Kiefer-Claudicatio und Hyperästhesie der Kopfhaut können auftreten. Seltener – und je nach Lokalisation der entzündeten Gefäße – berichten die Betroffenen über Schluck- und Halsschmerzen, Husten, Dysphagie, Zungenschmerzen mit Geschmacksstörungen oder Arm-Claudicatio, Thoraxschmerzen, Parästhesien und Lähmungen sowie Mono- und Polyneuropathien. Die Kopfschmerzen sind nicht ausschließlich temporal lokalisiert, sondern treten entsprechend dem Befall auch frontal, okzipital oder über den gesamten Kopf ausstrahlend auf. Brodmann betont den oft akuten Krankheitsbeginn mit allgemeinen Krankheitszeichen und Müdigkeit. Aufgrund dieser breit gefächerten Symptomatik und der Tatsache, dass die Riesenzellarteriitis auch ohne auffälligen Lokalbefund ablaufen kann, schätzt die Expertin aus Graz die Fehldiagnosen auf zehn bis 20 Prozent. Vor allem Hinterkopf- oder Nackenschmerzen durch Entzündungen der A. occipitalis werden immer wieder irrtümlich als HWS-Syndrom diagnostiziert.

Etwa ein Viertel der Patienten mit Riesenzellarteriitis sucht wegen einem plötzlichen Visusverlust den Arzt auf. Bei etwa zehn bis 15 Prozent der Betroffenen ist der Visusverlust irreversibel. Eine Amaurosis fugax, eine plötzlich auftretende Diplopie und ein Strabismus in Folge einer Augenmuskellähmung sollten vor allem bei Personen über 50 Jahren als Alarmsignal erkannt werden. Die anteriore ischämische Optikusneuropathie zeigt sich im Zusammenhang mit der Riesenzellarteriitis als vorrangig. Seltener finden sich eine bitemporale oder homonyme Hemianopsie, visuelle Halluzinationen, ein Zentralarterienverschluss, Arterienastverschluss oder Cottonwool-Flecke. Brodmann rät bei derartigen Symptomen – vor allem bei älteren Personen, Patienten mit neoplastischen Veränderungen und Frauen – an eine Riesenzellarteriitis zu denken.

„Eine erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit stellt einen wichtigen Indikator dar“, so Brodmann. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit zeigt meist Werte über 50 mm/h, andererseits schließt ein Normalbefund eine Riesenzellarteriitis nicht immer aus. Als zusätzlicher Laborparameter kann das CRP herangezogen werden, da häufig beide Werte mit einer Spezifität von 97 Prozent erhöht sind. Eine leichte normochrome, normozytäre Anämie, eine Thrombo-, sowie Leukozytose kommen ebenfalls vor.

Diagnose ohne Biopsie

Die Sicherung der Diagnose mittels Biopsie wurde lange Zeit als Goldstandard gehandelt. Resch dazu: „Durch die Entwicklung der nicht-invasiven Gefäßdiagnostik ist eine Biopsie nur noch fakultativ zur Diagnosesicherung notwendig.“ Da die Spezifität in der Farbduplexsonographie bei bilateraler Darstellung der Halos in den Temporalarterien bis zu 100 Prozent beträgt und diese Untersuchung auch noch nach Beginn der Kortikosteroidtherapie veranlasst werden kann, hält auch Brodmann eine Biopsie nicht unbedingt für notwendig zur Diagnosestellung. „Der Nachweis entzündlicher Infiltrate ist trotz Biopsie nicht immer möglich und die Komplikationen dieses Eingriffs sind nicht zu unterschätzen“, betont die Expertin.

„Bei Verdacht auf Riesenzellarteriitis sollte der Patient so schnell wie möglich an eine Spezialambulanz oder eine Einrichtung mit der Möglichkeit zur Duplexsonographie überwiesen werden“, so Brodmann weiter. Bestätigt sich der Verdacht, muss unverzüglich mit der Therapie begonnen werden. Als Spätfolgen können – abgesehen von einer Erblindung – Aortenaneurysmen mit Dissektionen, Schädigungen der Aortenklappe, ventrikuläre Dysfunktion, eine sekundäre Arteriosklerose oder auch ein zerebrovaskulärer Insult bei Verschluss der A. carotis oder der A. vertebralis auftreten. Als Standardtherapie gelten Glukokortikoide, die insgesamt ein bis zwei Jahre lang verabreicht werden sollten. Die Patienten sprechen meist gut auf die Therapie an. Resch macht auf die regelmäßigen Blutzuckerkontrollen, die eine langfristige Kortisontherapie notwendig macht, aufmerksam. „Auch die Evaluierung des Knochenstoffwechsels ist essentiell, um möglichst früh – natürlich in Abhängigkeit der Dauer und der Höhe der Steroidmedikation – mit einer entsprechenden Osteoporoseprophylaxe beginnen zu können“, erklärt der Experte. Die Therapiekontrolle kann seiner Erfahrung nach auch rein klinisch und duplexsonographisch erfolgen, Kontrollen der Blutsenkung sind nur in größeren Abständen notwendig.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2010