Reizdarm: Mut zur Diagnose

10.06.2010 | Medizin

Die Diagnose „Reizdarm“ wird oft nicht gestellt – weil eine gewisse Skepsis besteht, eine solche Diagnose zu stellen, und es Mut und Kompetenz verlangt. Beim Verdacht auf eine solche Erkrankung benötigen die Betroffenen oft keine Endoskopie, sondern ein Gespräch, Verständnis und eine Diagnose.
Von Corina Petschacher

Der chronische Bauchschmerz ist das dominante klinische Symptom von funktionellen gastrointestinalen Störungen, erklärt Univ. Prof. Herbert Tilg, Leiter der internen Abteilung des Krankenhaus Hall in Tirol. Die Schmerzen spielen sich beim Reizdarm im gesamten Unterbauch ab, sind häufig krampfartig und schlecht lokalisierbar. Doch der Schmerz ist selten das einzige Symptom. Es besteht meist ein Symptomenkomplex, der auch in den so genannten ROME-Kriterien definiert wird.

Symptome, die typischerweise beim Reizdarmsyndrom, kurz RDS, auftreten, sind wechselnde Stühle, wobei ein Wechsel von Verstopfung mit Durchfall am häufigsten ist. Weiters gibt es das Diarrhö-dominante und das Obstipations-dominante Reizdarmsyndrom, bei dem die eine oder andere Symptomatik überwiegt. Steht allein der Schmerz im Vordergrund, spricht man vom schmerzdominanten RDS. Meistens tritt auch eine Blähsucht auf. Die Patienten beschreiben ihren Bauch wie einen aufgeblasenen Luftballon. Andere Symptome, die an ein Reizdarmsyndrom denken lassen, sind zum Beispiel eine Besserung der Schmerzen nach dem Stuhlgang oder Schleimbeimengungen.

Bei einem Viertel der Patienten spielen Infektionen in der Anamnese eine Rolle. Dem Reizdarm geht oft eine Durchfallserkrankung mit Fieber und blutigen Stühlen voraus. Nach einigen beschwerdefreien Wochen oder Monaten tritt dann plötzlich ein Bauchschmerz mit den typischen Beschwerden eines Reizdarms auf. Es entsteht das sogenannte postinflammatorische RDS. Als weitere Ursache für ein RDS kommt auch eine Überempfindlichkeit auf bestimmte Lebensmittel in Frage wie zum Beispiel Laktose- und Fruktoseintoleranz sowie Zöliakie. Stress ist ebenfalls ein wichtiger Faktor, der sowohl Auslöser von Schmerzepisoden sein kann als auch bei schon bestehender Erkrankung die Symptome verschlechtern kann.

Beim Reizdarm handelt es sich einerseits um eine Motilitätserkrankung: Die Patienten haben eine Beweglichkeitsstörung mit gesteigerter oder verminderter Motilität. Auf der anderen Seite ist die Schmerzwahrnehmung verändert, das heißt schon der physiologische Dehnungsreiz im Verdauungstrakt führt bei diesen Patienten zum Schmerz, die Schmerzschwelle ist vermindert, beschreibt der Experte die möglichen Mechanismen, die hinter der Erkrankung stecken.

Gemeinsam: Überempfindlichkeit

„Das gemeinsame aller funktionellen gastrointestinalen Störungen ist die viszerale Hypersensitivität. Eine Überempfindlichkeit des Magen-Darm-Traktes getriggert durch Infektionen, Intoleranzen, Traumatisierungen psychischer Art sowie durch Stress“ erklärt auch Univ. Prof. Gabriele Moser von der Universitätsklinik für Innere Medizin III am AKH Wien. Im Zusammenhang mit dem Thema Stress verweist die Gastroenterologin und Psychotherapeutin auf die sogenannte Brain Gut-Achse, die Interaktion zwischen Gehirn, Rückenmark sowie den sympathischen, parasympathischen und enterischen Anteilen der autonomen Innervation des Verdauungstraktes. Stress kann über dieses System Einfluss auf Funktionen des Verdauungstraktes ausüben. Hormone wie der Cortico Releasing Factor haben Rezeptoren an den Mastzellen, die degranulieren und proinflammatorische Zytokine freisetzen und somit die intestinale Permeabilität steigern können.

Auf die Frage, wie viele Patienten mit der beschriebenen Symptomatik überhaupt den Arzt aufsuchen, antwortet Tilg: „In den Spezialambulanzen oder Kliniken sehen wir vor allem die Spitze des Eisbergs. Viele Patienten werden den Arzt nicht aufsuchen, weil die Beschwerden leicht sind. Andere suchen den Arzt auf und bekommen keine wirkliche Diagnose, weil immer noch eine gewisse Skepsis besteht, eine solche Diagnose zu stellen. Es verlangt natürlich auch ein gewisses commitment oder Mut und viel Kompetenz zu sagen, der Patient hat ein Reizdarmsyndrom und nichts anderes, weil natürlich auch organische Ursachen vorliegen können, die sich hinter den Symptomen eines RD verbergen. Reizdarm ist letztlich eine rein klinische Diagnose, das heißt es gibt weder einen typischen Laborwert noch eine typische Endoskopie noch eine typische Bildgebung, es gibt eine typische Klinik.“

Eine gute Anamnese steht am Beginn jeder guten Arzt-Patienten Beziehung und ist von essentieller Bedeutung bei der Diagnose des Reizdarmsyndroms. Um eine organische Ursache ausschließen zu können, müssen sogenannte Alarmsymptome definiert werden. Dazu gehören: Blut im Stuhl, Anämie, nächtliche Symptomatik, ungewollter Gewichtsverlust, Fieber, monotones, aber progredientes Beschwerdebild, Beginn der Symptome in einem Alter von über 50 Jahren und Störungen der Nachtruhe durch die Diarrhoe. Bei einem jungen Patienten ohne Alarmsymptome empfiehlt der Experte folgende Vorgangsweise: einfaches Labor, Blutbild, Entzündungszeichen, Ausschluss einer Zöliakie, Atemtest auf Laktose, keine Endoskopie notwendig. Der Reizdarm-Patient hat ein normales Labor, keine Anämie, keine Entzündungszeichen und hat auch in der Endoskopie völlig unauffällige Verhältnisse. Laktoseintoleranz (mittels H2-Atemtest) und Zöliakie müssen bei allen Patienten ausgeschlossen werden: Das Vorliegen einer Zöliakie muss zumindest serologisch abgeklärt (Gliadin-Antikörper, endomysiale Antikörper) und in einigen Fällen auch mittels einer Gastroskopie und gleichzeitiger Duodenalbiopsie ausgeschlossen werden.

Bei der Differentialdiagnose zu chronisch entzündlichen Darmerkrankungen reichen Klinik und einfaches Labor meist schon aus, um diese Krankheiten von einander zu unterscheiden, spätestens jedoch die Endoskopie gibt genauen Aufschluss. Bei M. Crohn oder Colitis ulcerosa bestehen meist Alarmsymptome und veränderte Laborwerte, was beim RDS nicht der Fall ist. Die Ausnahme stellen lange bestehende chronisch entzündliche Darmerkrankungen in Remission dar. Die Patienten zeigen sich in der Spätphase, in der die Entzündung vorbei ist, wie ein RDS.

Eine Schwierigkeit sieht der Gastroenterologe Tilg in der nach wie vor herrschenden breiten Unwissenheit unter Ärzten zum Thema Reizdarm. „Ein unverändertes Problem stellt die Stigmatisierung der Beschwerden der Patienten als reine Befindlichkeit dar. Schmerzen im Darm werden häufig als psychisch bedingt angesehen. Die Patienten haben oft einen langen Leidensweg, das Gespräch findet nicht oder nur unausreichend statt. Es kommt immer nur der Reflex zur Endoskopie und Reizdarm-Patienten haben auch ein hohes Risiko, überflüssig operiert zu werden.“ Den meisten Patienten geht es schon besser, wenn sie eine Diagnose bekommen – Verständnis und eine Erklärung, was hinter ihren Symptomen steckt.

Patienten-Odyssee

Patienten mit funktionellen gastrointestinalen Störungen haben oftmals eine Odyssee von verschiedenen Durchuntersuchungen hinter sich, die nicht selten mit den Worten endet: „Es ist alles in Ordnung, wir haben nichts Krankhaftes gefunden“, „Sie müssen damit leben lernen“ oder „Wir können Ihnen nicht mehr weiterhelfen, vielleicht suchen Sie doch besser psychische Hilfe…“. Betroffene erleben so oft eine Hilfs- und Hoffnungslosigkeit, die die Situation eher verschlechtert, weiß auch Gabriele Moser.

Die medikamentöse Behandlung besteht hauptsächlich in der Stuhlregulierung und der Schmerzlinderung; Spasmolytika und Probiotika – um die Fremdbesiedlung der Flora zu vermeiden – werden genauso eingesetzt wie viele pflanzliche Stoffe wie etwa Iberogast, Pfefferminz und Kümmelextrakt, die gut wirksam sind.

Bei der Schmerzbekämpfung können auch Antidepressiva zum Einsatz kommen. Trizyklische Antidepressiva und SSRIs spielen in der Schmerztherapie eine große Rolle, aber selbst diese Medikamente sind nicht immer wirksam. „Es gibt Patienten, deren Symptome durch die medikamentöse Therapie vermindert werden, aber bei kritischer Betrachtung aller Studien gibt es keine volle Therapie“, erklärt Tilg. Bei schweren Fällen und gleichzeitigem Auftreten von chronischen psychischen Belastungen hat sich auch der Einsatz von psychosomatischer und psychotherapeutischer Behandlung als weitere mögliche Therapieoption erwiesen.

Um eine Verbesserung der Lebensqualität zu erlangen, können die Patienten selbst auf einige Dinge zurückgreifen. Sehr gut sind Entspannungsmethoden wie das autogene Training, Diätberatung und das Führen eines Symptomtagebuchs. Dieser Meinung ist auch Moser. „Beobachtung und das Herausfinden von ‚Auslösern’ durch das Führen eines Symptom-Tagebuchs können hilfreich sein“. Diese Aufzeichnungen sollen über rund zwei Wochen, bei Frauen zur Erfassung hormoneller Einflüsse über vier Wochen (einen Zyklus lang) geführt werden. So können Betroffene selbst Zusammenhänge beobachten, diese bei der nächsten Arztvisite besprechen beziehungsweise selbst Änderungen (Nahrung, Stressreduktion usw.) versuchen. „Dies ist meist der erste Schritt, selbst Kontrolle über die Beschwerden zu erlangen“ so Moser.

‚gut-directed’-Hypnose

„Speziell auf den Bauch gerichtete Hypnose als Therapie wird viel zu selten angewendet.“ Tilg rät seinen Patienten aber oft dazu. „Es gibt Studien aus England, die beweisen, dass es bei funktionellen gastrointestinalen Störungen ein Therapieverfahren ist, das sehr vielen Patienten hilft, zwar keine Garantie verspricht, aber vor allem bei schwereren Fällen gute Erfolge zeigt.“ Die so genannte ‚gut-directed’-Hypnose zur Behandlung von Reizdarmsyndrom
oder funktionellen Oberbauchbeschwerden wird auch von Gabriele Moser, die die Ambulanz für gastroenterologische Psychosomatik am AKH Wien leitet, angewandt. „Wir haben eine sehr große Erfolgsquote. 70 Prozent der Patienten profitieren von einer Hypnosetherapie. Auch die Durchführung der Hypnosetherapie in Gruppen von sechs bis acht Patienten hat sich als erfolgreich gezeigt“, berichtet die Expertin.

Allgemeinmedizinern, die sehr häufig mit der Symptomatik des Reizdarms konfrontiert werden, rät Tilg, sich Wissen über die Krankheit Reizdarm anzueignen, auf das Vorliegen von Alarmsymptomen zu achten und vor allem dann auf eine weitere Abklärung zu drängen, wenn Alarmsymptome vorhanden sind. Wenn keine Alarmsymptome auftreten und die Diagnose Reizdarm gestellt wird, Zöliakie und Laktoseintoleranz ausgeschlossen sind, ist es für den Patienten ganz wichtig, dass ihm die Diagnose genau erklärt wird, dass darüber aufgeklärt wird. Auch muss der Betroffene wissen, dass es eine Krankheit ist, die sehr belastend sein kann, aber harmloser Natur ist, die sich mit der Zeit bei 50 Prozent der Patienten bessert. Es gibt keine etablierte Therapie, aber es kann mit einigen Dingen geholfen werden. Mit dem intensiven Gespräch und der guten Aufklärung hilft man vielen Patienten, die „schweren Fälle“ sollen zum Gastroenterologen überwiesen werden. Das Hinzuziehen eines Psychiaters oder Psychologen kann auch sinnvoll sein. „Man muss sensibel sein und ein Ohr dafür haben, was einem die Patienten erzählen, dann sieht man genug RDS-Patienten. Wichtig ist auch, dass nicht der einzige Reflex immer die Überweisung zur Endoskopie ist, die Patienten brauchen mehr. Sie brauchen oft keine Endoskopie, die brauchen ein Gespräch, Verständnis und eine Diagnose“, schließt Tilg.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2010