Psychische Erkrankungen: Die Depressions-Epidemie

10.10.2010 | Medizin


Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen in Österreich tatsächlich psychisch krank sind, gibt es nicht. Fakt ist jedoch, dass besonders im Hinblick auf die steigenden Kosten für die Volkswirtschaft viel mehr Zeit und Energie in die Prävention sowie in die Ärzte-Ausbildung gesteckt werden müssen.

Von Agnes M. Mühlgassner

Im Gegensatz zum Alkoholmissbrauch, bei dem man genau weiß, wie viel Alkohol in welchem Alter getrunken wird, gibt es kaum genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen in Österreich psychisch krank sind. „Depression und Angst sind die häufigsten und gefährlichsten psychischen Erkrankungen“, erklärte der Leiter des Anton-Proksch-Instituts in Wien, Univ. Prof. Michael Musalek, bei einem Symposium über die Versorgung von psychisch Kranken in Österreich im Spannungsfeld von Medizin und Ökonomie beim Europäischen Forum in Alpbach Ende August.

Alkoholabhängig sind in Österreich etwa 330.000 Menschen, von harten Drogen 20.000, von Arzneimitteln 120.000 und von Nikotin etwa 1,3 Millionen Personen.

In verschiedensten Studien wird immer wieder versucht, Zahlen hinsichtlich der psychisch Erkrankten zu ermitteln. So ergab etwa eine Untersuchung von Johannes Wancata von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Wien, dass rund ein Drittel der Patienten in einem Allgemein-Krankenhaus an einer psychiatrischen Erkrankung leidet. Besonders hoch ist der Anteil der Patienten in der Rehabiliation: Hier ist nahezu jeder zweite (46 Prozent) davon betroffen.

Vier Fünftel unerkannt

Eine andere Studie, die an der Hautklinik der Universität an 600 Personen mit Hauterkrankungen durchgeführt wurde, ergab, dass rund ein Drittel der Betroffenen auch an einer psychischen Erkrankung leidet; die meisten von ihnen an Angst oder einer Depression. „Aber nur 20 Prozent der Depressiven wurden vorher als depressiv erkannt. Das heißt: Vier Fünftel der Depressiven blieben unerkannt“, erläuterte Musalek. Er geht davon aus, dass in der Bevölkerung insgesamt nur ein Fünftel der Depressiven diagnostiziert ist. Nicht nur negativ sieht der Experte den rasanten Anstieg der Betroffenen: „Das stellt letztlich eine Verbesserung dar, einfach weil mehr Depressionen erkannt werden.“

Der enge Zusammenhang zwischen Depression und Suizid ist bekannt; weniger bekannt dürfte jedoch die Tatsache sein, dass es heute mehr Tote durch Suizide als durch Verkehrsunfälle gibt. Bereits im Jahr 2007 gab es doppelt so viele Suizide wie Verkehrstote. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits seit den 1980er Jahren ab; seither liegt die Zahl der Verkehrstoten konstant unter jener Zahl der Toten durch Suizid. Und das, obwohl es insgesamt seit 1987 zu einem deutlichen Absinken der Suizidrate gekommen ist: 2009 wurde mit 1.273 Suiziden ein Tiefstand erreicht. Fazit von Musalek: „Es muss noch mehr in die Suizidprävention investiert werden und wir bräuchten eine wesentlich bessere Behandlung: Medikamente und auch auf der psychotherapeutischen Ebene.“

Dass hier offensichtlich ein Manko herrscht in Österreich, veranschaulichen folgende Zahlen: In Österreich gibt es 1.169 Psychiater, was durchschnittlich 14 Psychiater auf 100.000 Menschen bedeuten würde. Die Realität sieht anders aus: Während in Wien auf 100.000 Einwohner 25 Psychiater kommen, sind es in anderen Bundesländern gerade einmal sieben Psychiater. „Extrem schlecht versorgt sind das Burgenland, Kärnten und Oberösterreich“, so Musalek.

In der depressiven Phase werden 100 Prozent der Betroffenen durch Allgemeinmediziner betreut; 30 Prozent werden darüber hinaus vom Psychiater betreut. Interessantes Detail dabei: Fachärzte für Psychiatrie führen bei 95 Prozent ihrer Patienten eine Psychotherapie durch; Patienten, die von Allgemeinmedizinern kommen, erhalten in zehn Prozent eine Psychotherapie. 33 Prozent der Patienten von Fachärzten werden stationär aufgenommen. In der Remission werden 40 bis 50 Prozent von Fachärzten betreut.

Die Kosten für die Behandlung (Zahlen für 2007) setzen sich wie folgt zusammen: etwa 150 Millionen Euro werden für Psychopharmaka ausgegeben; allein für SSRIs sind es pro Jahr 60 Millionen Euro. Die Psychotherapie schlägt sich mit 58 Millionen Euro jährlich zu Buche. Was sonst noch zu tun ist? Die Forderungen von Musalek: Verbesserung müsste es geben bei der Verfügbarkeit der Behandlung, bei der psychiatrischen Ausbildung der Mediziner, bei der Versorgung durch Psychiater; weiters forderte er eine Schwellensenkung zur Behandlung, aber auch ein Risikobewusstsein der „Ökonomen“.

Direkte und indirekte Kosten

Abhängig vom Schweregrad der Depression sind als direkte Kosten für die Behandlung zwischen 2.000 und 14.500 Euro pro Patient zu veranschlagen. An Krankenstandskosten ist mit rund 4.200 bis 4.900 Euro pro Patient und Jahr zu rechnen. Und aus den USA belegen Zahlen für das Jahr 2000, dass Gesamtkosten von 83,1 Milliarden US-Dollar zu verzeichnen waren. Diese Zahlen präsentierte Univ. Prof. Bernhard Schwarz vom Institut für Sozialmedizin/Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien, der sich mit den volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Depression befasste und anmerkte: „Die ökonomische Evidenz ist bemerkenswert schlecht.“ Zu den Kosten, die unmittelbar durch die Therapie entstehen, gesellen sich darüber hinaus auch noch jene, die durch Produktivitätsverluste – Arbeitsunfähigkeit, Frühpensionierung und Präsentismus – entstehen. Präsentismus bedeutet, zur Arbeit zu gehen trotz Krankheit. Schwarz dazu: „Der Begriff ist noch nicht so sehr bekannt, spielt aber eine sehr große Rolle und ist ein gigantisches Phänomen aus volkswirtschaftlicher Sicht.“ In den Psychiatric News der American Psychiatric Association wurden 2003 dazu Zahlen veröffentlicht: Von den 44 Billionen US-Dollar, die die Depression an Kosten verursacht, werden 20 Prozent der Abwesenheit am Arbeitsplatz zugeschrieben; hingegen werden 80 Prozent der Kosten durch Präsentismus verursacht.

Psychische Erkrankungen haben auch Auswirkungen auf das Pensionssystem: In Österreich gab es 2010 (Stand: September) rund 460.000 Frühpensionierungen durchschnittlich im Alter von 52 Jahren. Rund 8.350 wurden wegen einer psychischen Erkrankung frühpensioniert; rund 3.100 davon waren zwischen 45 und 54 Jahren (Zahlen aus 2008).

Den Stellenwert von Lebensereignissen bei der Genese einer Depression stellte Univ. Prof. Siegfried Kasper, Vorstand der Abteilung für Allgemeine Psychiatrie am AKH Wien, klar: „Wenn die Erkrankung neu ist, spielen Lebensereignisse eine größere Rolle als wenn die Depression chronisch ist.“ Des Weiteren berichtete er darüber, dass man sich am Wiener AKH sehr viel mit bildgebenden Verfahren bei der Depression beschäftige, „um damit auch zur Ent-Stigmatisierung beizutragen.“

Artur Wechselberger, erster Vizepräsident der ÖÄK, warnte in seinem Statement davor, sich angesichts der steigenden Zahlen an psychisch Kranken nur einfach zurückzulehnen. Nötig sei vielmehr Zeit und auch Menschen, die gelernt hätten, psychisch Kranke zu behandeln, Prävention zu betreiben und nötig sei auch Zeit in der Ausbildung zum Facharzt. „Es ist eine Unverfrorenheit, wenn sich die Sozialversicherungen zurückziehen und sagen: Wir schränken ein, nur noch das Billigste – und es ist eine Unverfrorenheit von Seiten der Politik, die das fordert, anstatt dass sie sich um die Ursachen kümmert, das Arbeitsumfeld beispielsweise.“ Wechselberger ortet insgesamt eine Sinnkrise: Die Menschen wüssten nicht mehr, warum sie leben.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2010