Originalarbeit: Handtransplantation

25.11.2010 | Medizin

Mit der Entwicklung von potenten immunsuppressiven Substanzen in den 1980er und 1990er Jahren wurde die Möglichkeit der Transplantation von vaskularisiertem Gewebe möglich. Trotz überzeugender funktioneller Ergebnisse ist jedoch aufgrund der nebenwirkungsreichen immunsuppressiven Therapie der Nutzen sorgfältig gegen das Risiko abzuwägen.
Von Stefan Schneeberger et al.*

Gewebsdefekte können in vielen Fällen mittels Schwenklappen oder freier Lappenplastik versorgt werden – außer bei sehr komplexen Gewebsdefekten wie der Amputation einer Hand oder einer ausgedehnten Verletzung im Mittelgesichtsbereich. Bis vor kurzem blieb den Patienten nur der Ersatz mittels Prothese (Hand) oder ein Leben in Isolation. Die schwere psychische Belastung resultierte nicht selten im Suizid, auch weil es keine Aussicht auf Heilung gab.

Den ersten Versuch, eine Hand zu transplantieren, gab es bereits 1964. Zwei Wochen nach dem Eingriff musste das Transplantat aufgrund einer progredienten Abstoßung wieder abgenommen werden. Das Dogma, dass Haut und häutig gedecktes Gewebe nicht transplantiert werden kann, hält bis 1998; in diesem Jahr wird am 18. September in Lyon (Frankreich) die erste Handtransplantation in der Ära der modernen Immunsuppression durchgeführt. Das Transplantat überlebt, das Dogma fällt.

In den folgenden Jahren werden 56 Handtransplantationen und zwölf partielle Gesichtstransplantationen durchgeführt. Das Transplantat-Überleben ist bei Patienten mit adäquater Therapie an die 100 Prozent; Episoden von Hautabstoßung können mittels lokaler Therapie (Cremen) und/oder intensivierter systemischer Immunsuppression behoben werden. Das funktionelle und kosmetische Ergebnis ist in den meisten Fällen sehr gut, in manchen Fällen ausgezeichnet. Das Einwachsen peripherer Nerven und die kortikale Reintegration der Hand/des Gesichts resultieren in einer Funktion, die bis zu 75 Prozent der einer normalen Hand/eines normalen Gesichts entspricht. Die Zufriedenheit der Patienten mit dem Ergebnis ist besonders hoch. Anders als Patienten, bei denen eine Hand nach einer Amputation replantiert wurde oder Patienten, bei denen eine ausgedehnte Verletzung im Mittelgesicht durch konventionelle Rekonstruktion versorgt werden kann, lebt der Kandidat für eine Transplantation oft viele Jahre mit dem Defekt und befindet sich deshalb in einer anderen Ausgangssituation. Bei diesen Patienten ist der Alltag oft durch den Gewebsdefekt bestimmt; die tägliche Belastung oder die Unzufriedenheit mit mechanischem Ersatz (Prothese) lässt diese Patienten nach möglichen Alternativen suchen. Der Therapiewunsch ist oft sehr stark. Wichtig bleibt dennoch, vorerst andere Therapieoptionen (Anpassen verschiedener Prothesen, Diskussion über Rekonstruktionen mit autologem Gewebsmaterial) auszuschöpfen oder zumindest mit dem Patienten zu besprechen. Auch bei einem guten funktionellen und kosmetischen Ergebnis bleibt die Gefahr, die die Einnahme von Immunsuppressiva mit sich bringt.

An der Medizinischen Universität Innsbruck wurden in den letzten zehn Jahren sieben Hand-/Unterarmtransplantationen an vier Patienten durchgeführt. Das funktionelle Ergebnis ist nach intensiver Physio- und Ergotherpie bei allen Patienten sehr zufriedenstellend. Die anfänglich intensive immunsuppressive Therapie konnte im Lauf der Jahre sehr deutlich und letztlich auf ein sehr geringes Niveau reduziert werden. Bei keinem der Patienten ist ein Tumor aufgetreten; allerdings war eine Therapie von opportunistischen Infektionen bei den ersten drei Patienten notwendig. Entscheidend ist in allen Aspekten der Hand- oder Gesichtstransplantation der interdisziplinäre Zugang und der anhaltende Informationsaustausch zwischen den Mitgliedern eines Teams, bestehend aus Transplantationschirurgen, Plastischen Chirurgen, Unfallchirurgen, Neurologen, Psychologen und Fachärzten für Physikalische Medizin. Nur die gemeinsame Erstellung und Umsetzung eines Therapieplans macht Sinn. Zu diesem Zweck wurde in Innsbruck die Arbeitsgruppe „Reconstructive Transplantation Innsbruck“ ins Leben gerufen. In regelmäßigen interdisziplinären Sitzungen werden hier Patienten besprochen, Befunde und Erfahrungen ausgetauscht und Therapiekonzepte erstellt oder angepasst.

Der Preis für eine Hand/ein Gesicht

Die Entwicklung von potenten immunsuppressiven Substanzen in den 1980er und 1990er Jahren macht die Organtransplantation zur Therapie der Wahl bei terminalem Organversagen und öffnet die Türen für die Transplantation von vaskularisiertem Gewebe. Gleichzeitig entsteht eine Generation von Patienten, die durch die vielfältigen und zum Teil schweren Nebenwirkungen der immunsuppressiven Therapie beeinträchtigt und gefährdet ist. Nephrotoxizität, Hypertonie, Hyperlipidämie, Diabetes, Neurotoxizität, opportunistische Infektion und Tumoren zählen zu den häufigsten und bekanntesten Nebenwirkungen und nicht unerwartet sind die selben Nebenwirkungen auch bei Patienten nach Hand oder Gesichtstransplantation aufgetreten. Es liegt also die Frage auf der Hand, ob der Nutzen bei einer Hand- oder Gesichtstransplantation das Risiko rechtfertigt. Es bleibt nicht nur Aufgabe des Arztes, ethisch richtig und im Sinn des Patienten zu handeln, sondern auch innerhalb eines dadurch gesetzten Rahmens den Wunsch des Patienten in eine Therapieentscheidung einzubeziehen. Bei dieser Entscheidung bleibt auch die Diskussion einer Alternative und das Vorgehen bei Versagen oder Verlust eines Transplantates zu klären. Von besonderer Bedeutung ist die Aufklärung des Patienten über mögliche Nebenwirkungen und Gefahren, welchen die immunsuppressive Therapie mit sich bringt. Hilfreich scheint auch ein Gespräch mit einem Betroffenen zu sein, der bereits transplantiert wurde, um so eine Schilderung der Ereignisse aus der Sicht eines Patienten zu erfahren.

Chirurgie

Bei der Spenderselektion für eine Handtransplantation wird auf Übereinstimmung in Geschlecht, Alter, Körpergröße und Dimension der oberen Extremität und Haut- und Behaarungstyp geachtet. Bei der Spenderselektion ist weiters auch auf das Fehlen degenerativer Veränderungen und stattgehabter knöcherner Verletzungen sowie neurologischer und vaskulärer Erkrankungen zu achten. An vorderster Stelle steht die sorgfältige Aufklärung und schriftliche Einwilligung durch die Angehörigen des Spenders. Trotz der Wiederspruchsregelung in Österreich erfolgt eine Transplantation einer Hand nur nach Zustimmung der Verwandten eines hirntoten Organspenders.

Technisch erfolgt die Transplantation der Hand nach einem geordneten handchirurgischen Schema, welches eng mit der Replantation einer abgetrennten Hand oder eines Unterarmes verwandt ist. Grundsätzlich erfolgt als erster Operationsschritt nach der knöchernen Stabilisierung die Revaskularisierung der präparierten Spenderhand, um die kalte Ischämiezeit und um irreversible Ischämie-vermittelte Schäden der Muskulatur so kurz wie möglich zu halten. Anschließend erfolgen die Koaptation der Muskulatur/Sehnen und Nerven und abschließend die Naht der Haut.

Das zu erwartende rekonstruktive Ergebnis hängt besonders von der Höhe der Amputation und Höhe der Transplantation ab. Je weiter distal operiert wird, desto weniger komplex gestaltet sich die muskuläre Rekonstruktion. Beim idealen Patienten sind die extrinsischen Muskeln für die Beuge- und Streckfunktion sowie die Umwendbewegung der oberen Extremität intakt. Je kürzer die Strecke der Spendernerven, desto früher kann eine sensomotorische Reinnervation der Hand erwartet werden.

Immunsuppression

Eine Kombination von immunsuppressiven Medikamenten verhindert den Verlust der Transplantate, wenngleich Episoden von Hautabstoßung bei den meisten Patienten beobachtet und therapiert werden. Nach einer „Induktionstherapie“ zur Reduktion der Anzahl von immunkompetenten T- und B-Zellen folgt in den meisten Therapieschemata eine Kombinationstherapie mit Tacrolimus, Mycophenolatmophetil und Aprednisolon. Zuletzt ist es gelungen, Kortison aus dem Schema zu entfernen und damit die Anzahl der Medikamente auf zwei zu reduzieren. Langfristig ist bei allen Patienten eine deutliche Reduktion der Dosis und Anzahl der Medikamente möglich, sodass zehn Jahre nach einer Handtransplantation nur wenig Immunsuppression zum Erhalt des Transplantatüberlebens notwendig scheint. Ein enges immunologisches Monitoring ist besonders in der Frühphase nach einer Transplantation unerlässlich. Neben der täglichen Inspektion der Haut als einfachstes und wichtigstes Instrument werden regelmäßig Hautstanzbiopsien histomorphologisch aufgearbeitet, um besonders die Existenz und Phänotypisierung von infiltrierenden Lymphozyten als Zeichen einer Hautabstoßung zu Untersuchen. Weiters werden die Patienten regelmäßig nach Hinweisen für eine Organfunktionsstörung und Infekten untersucht, um früh und zielgerichtet reagieren zu können. Eine Prophylaxe gegen bakterielle und virale Infektionen wird entsprechend den Standards aus der Organtransplantation angewendet. Besonderes Augenmerk wird auf die frühe Mobilisation und Atemtherapie zur Infektvermeidung gelegt.

Rehabilitation

Die Physikalische Therapie bei Handtransplantationen beginnt präoperativ in Form von Untersuchungen im Rahmen der interdisziplinären Abklärung. Dabei wird nach den Prinzipien des Rehab-Cycles vorgegangen (Assessment, Assignment, Intervention und Evaluation). Für jeden Patienten wird dabei ein Rehabilitationsteam (rehabilitation core team) bestehend aus Fachärzten für Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten zusammengestellt. Die funktionellen Komponenten einer Hand (Muskuloskeletalsystem, Gefäßsystem, Nervensystem und Haut) unterliegen unterschiedlichen Heilungsmechanismen und damit auch zeitlich unterschiedlicher Regeneration/Reinnervation.

Darauf Rücksicht nehmend erfolgt die Erstellung des Rehabilitationsprotokolls, welches darauf abzielt, die Regeneration der Motorik ebenso wie die Sensibilität zu optimieren. Weiters wird die Verwendung der transplantierten Hand im Alltag geschult, um letztlich eine tatsächliche Verbesserung der Lebensqualität gewährleisten zu können. Dieses Ziel wird während des Rehabilitationsprozesses auf alle Ebenen des ICF (International Classification of Function, Disability and Health) Modells übertragen. Aus dieser Zielsetzung leiten sich Aufgaben wie Ödemkontrolle, Schmerzkontrolle, Kontrakturprophylaxe, motorische Reedukation, Sensibilitätsschulung, Sehnengleitfähigkeit, Wiedererlangen der Feinmotorik und Kraft, möglichst volle Selbstständigkeit sowie das Wiedererlangen der beruflichen und Freizeitaktivitäten ab. Bei der Auswahl der entsprechend anzuwendenden physikalisch-therapeutischen Maßnahmen wird besonders die Stimulation der kortikalen Reintegration durch periphere Reize geachtet. Standardisierte Tests und Fragebögen werden verwendet, um die Ergebnisse zu objektivieren und die Fähigkeit der Patienten, ihre transplantierte Hand beziehungsweise ihre transplantierten Hände tatsächlich zu benutzen, zu kontrollieren.

Eine intensive, früh begonnene und lang andauernde Rehabilitation, basierend auf einem den Patientenbedürfnissen individuell angepassten Rehabilitationsprogramm wird als Vorraussetzung gesehen, eine optimale Funktion der transplantierten Hand zu erreichen.

Psychologie

Die grundlegende Bedeutung einer klinisch-psychologischen Diagnostik im Rahmen der Abklärung von Transplantations-Kandidaten gilt weithin als akzeptiert. Dabei kann ein umfassendes Screening am besten im Rahmen von interdisziplinären Transplantationsprogrammen umgesetzt werden, um sicherzustellen, dass die Patienten und deren Angehörige ein umfassendes Verständnis hinsichtlich des Eingriffs und der postoperativen Therapie entwickeln können und um eine kontinuierliche, disziplinenübergreifende Versorgung gewährleisten zu können.

Eine klinisch-psychologische Konsultation vor der Transplantation gewährleistet somit einerseits die Erstellung eines psychologischen Profils der Transplantationskandidaten und die Evaluation potentieller Risikofaktoren. Andererseits können dadurch weitere prädikative Aspekte hinsichtlich des weiteren Transplantationsverlaufs erfasst werden, sodass gezielte primärpräventive psychosoziale Interventionen bereits vor der Transplantation indiziert werden können.

Im Rahmen der klinisch-psychologischen Abklärung von Kandidaten für bilaterale Arm-/unilaterale Handtransplantationen empfehlen wir daher die Durchführung eines strukturierten klinisch-psychologischen Interviews vor der Transplantation, das folgende Inhalte umfassen sollte: (a) Evaluation der individuellen Anpassungsleistungen hinsichtlich des modifizierten Körperbildes (körperliche und „psychologische“ Bedeutung der Hand, Einfluss der Amputation auf die persönliche Identität und Beziehungsstrukturen, Grad der individuellen Anpassung an den Verlust der eigenen Extremität, Vorhandensein von Phantomschmerzen, prothetisch-funktionale Aspekte); (b) realistische Einschätzung hinsichtlich der zu erwartenden Ergebnisse des operativen Eingriffs (Nutzen-Risiko-Verhältnis); (c) Evaluation des antizipierten Komforts mit einer transplantierten Hand gegenüber der Handprothese; (d) Strukturniveau der Persönlichkeitsorganisation, mit besonderer Berücksichtigung des individuellen Selbstwerts; (e) Coping-Strategien und Stressverarbeitungsmuster; (f) Risikofaktoren hinsichtlich einer möglichen psychisch-regressiven Verarbeitung.

Zur weiteren Validierung der Ergebnisse aus dem strukturierten klinischpsychologischen Interview empfehlen sich nachfolgend angeführte psychometrische Instrumente, wie sie als Testbatterie an der Innsbrucker Universitätsklinik für Medizinische Psychologie angewendet werden (siehe Tab. 1).

Eine klinisch-psychologische Diagnostik vor der Transplantation und eine assoziierte psychosoziale Nachsorge erfährt somit eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Erfassung der Eignung und der Behandlung von psychischen Morbiditäten von Transplantationskandidaten. Weitere psychologische Vorteile einer multidisziplinären Versorgung liegen in einer Verbesserung des subjektiven Körperbildes, sowie in einem Anstieg der eigenen Effizienz und Autonomie hinsichtlich der Bewältigung der Alltagsroutine.

*) A.o. Univ. Prof. Dr. Stefan Schneeberger, Univ. Prof. Dr. Gerhard Pierer,
Univ. Doz. Dr. Markus Gabl, Ass. Prof. Dr. Marina Ninkovic, Mag. Martin Kumnig, Dr. Timm Oliver Engelhardt, Univ. Prof. Dr. Johann Pratschke;

Universitätsklinik für Visceral-, Transplantations- und Thoraxchirurgie/Medizinische Universität Innsbruck, Anichstraße 35, 6020 Innsbruck;
Tel. 0512/504/80 339;
E-Mail: stefan.schneeberger@i-med.ac.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2010