Öster­rei­chi­scher Lipidkon­sen­sus 2010: Neue Grenz­werte empfohlen

25.11.2010 | Medizin

Den wich­tigs­ten Ziel­pa­ra­me­ter des aktu­el­len Lipidkon­sen­sus stellt der LDL-Cho­le­ste­rin­wert dar. Neu ist auch, dass man für die Behand­lung von Pati­en­ten in der Pri­mär­prä­ven­tion Grenz­werte vor­ge­schla­gen hat, ab denen das LDL-Cho­le­ste­rin abge­senkt wer­den sollte.
Von Corina Petschacher

Um kar­dio- und zere­bro­vas­ku­läre Kom­pli­ka­tio­nen einer Dys­li­pi­dä­mie mög­lichst zu ver­mei­den, wer­den sowohl The­ra­pie­sche­men als auch Lipid­ziel­werte immer wie­der neu über­dacht. Im Zuge des­sen ent­stand der aktu­elle öster­rei­chi­sche Lipidkon­sen­sus 2010. Ging es bis­her haupt­säch­lich um Ziel­werte und The­ra­pie­sche­men in der Sekun­där­prä­ven­tion wur­den im neuen öster­rei­chi­schen Lipidkon­sen­sus die Emp­feh­lun­gen der Exper­ten auf die Pri­mär­prä­ven­tion von kar­dio­vas­ku­lä­ren Ereig­nis­sen inklu­sive neuer LDL-Cho­le­ste­rin-Ziel­werte aus­ge­dehnt und um die Beur­tei­lung und The­ra­pie von High-Den­sity-Lipo­pro­tein-Cho­le­ste­rin (HDL‑C) und Tri­gly­ce­ri­den (TG) erweitert.

Die Beur­tei­lung der Lipidwerte erfolgt unter Berück­sich­ti­gung des vas­ku­lä­ren Gesamt­ri­si­kos. Aus dem abso­lu­ten Risiko für vas­ku­läre Erkran­kun­gen und Kom­pli­ka­tio­nen eines Pati­en­ten lei­ten sich die jewei­li­gen Ziel­werte und The­ra­pie­stra­te­gien ab. Das kar­dio­vas­ku­läre Risiko wird dabei in vier Kate­go­rien (gering, mäßig, hoch, sehr hoch) ein­ge­teilt (siehe Tab. 1). Das Risiko für den jewei­li­gen Pati­en­ten und die ent­spre­chende Fest­le­gung der Behand­lungs­ziele sol­len laut Öster­rei­chi­schem Lipidkon­sen­sus 2010 in meh­re­ren Schrit­ten erfolgen.

Am Beginn steht die genaue Lipid-Dia­gnos­tik. Ein kom­plet­tes Lipid­pro­fil umfasst die Mes­sung des Gesamt­cho­le­ste­rins, des HDL-Cho­le­ste­rins und der Tri­gly­ce­ride nach einer Nüch­tern­pe­ri­ode von min­des­tens zwölf Stun­den, der Low-Den­sity-Lipo­pro­tein-Cho­le­ste­rin (LDL‑C)-Wert wird errech­net. Als nächs­ter Schritt soll zur Iden­ti­fi­zie­rung von Per­so­nen mit hohem oder sehr hohem vas­ku­lä­ren Risiko fest­ge­stellt wer­den, ob eine koro­nare Herz­krank­heit, eine zere­bro­vas­ku­läre Erkran­kung, eine andere mani­feste extra­ko­ro­nare Athero­skle­rose, ein Dia­be­tes mel­li­tus oder eine Neph­ro­pa­thie bestehen.

Zusätz­li­che Risi­ko­fak­to­ren, die neben Stö­run­gen des Lipid­stoff­wech­sels das kar­dio­vas­ku­läre Risiko beein­flus­sen, sol­len erho­ben wer­den. Dar­auf folgt die Zutei­lung der Pati­en­ten zu den jewei­li­gen Risi­ko­grup­pen. Da es auch Hin­weise auf eine sub­kli­ni­sche Athero­skle­rose oder End­or­gan­schä­den geben kann, wer­den Per­so­nen mit nied­ri­gem oder mitt­le­rem Risiko der jeweils höhe­ren Risi­ko­ka­te­go­rie zuge­teilt, wenn dar­auf hin­wei­sende Fak­to­ren gege­ben sind. Als Bei­spiele seien Lp(a) über 30 mg/​dl, eine Intima-media-Dicke > 800 μm, eine links­ven­tri­ku­läre Hyper­tro­phie, das Vor­han­den­sein eines meta­bo­li­schen Syn­droms sowie eine gestörte Glu­ko­se­to­le­ranz erwähnt. Ein wei­te­rer Punkt stellt die Fest­le­gung des Ziel­werts der LDL-Cho­le­ste­rin-Sen­kung für den jewei­li­gen Pati­en­ten, abhän­gig von der Risi­ko­gruppe, der er ange­hört, dar.

Neue LDL-Cho­le­ste­rin-Ziel­werte

„Den wich­tigs­ten Ziel­pa­ra­me­ter des aktu­el­len Lipidkon­sen­sus stellt der LDL-Cho­le­ste­rin­wert dar. Neu ist, dass man auch für die Behand­lung von Pati­en­ten in der soge­nann­ten Pri­mär­prä­ven­tion, also Pati­en­ten die noch kein kar­dio­vas­ku­lä­res Ereig­nis hat­ten, auf Grund zahl­rei­cher epi­de­mio­lo­gi­scher Stu­dien Grenz­werte vor­ge­schla­gen hat, ab denen man das LDL-Cho­le­ste­rin absen­ken sollte“, beschreibt Univ. Doz. Peter Fasching, Abtei­lungs­vor­stand der 5. Medi­zi­ni­schen Abtei­lung des Wie­ner Wil­hel­mi­nen­spi­tals, den Stel­len­wert der LDL-Cho­le­ste­rin­wert-Sen­kung im neuen Lipidkon­sen­sus (siehe Tab. 2). Dem­nach gel­ten für das LDL-Cho­le­ste­rin für die ein­zel­nen Risi­ko­ka­te­go­rien unter­schied­li­che Ziel- und Schwel­len­werte. Bei sehr hohem Risiko sollte der LDL-Cho­le­ste­rin­wert auf Werte unter 70 mg/​dl her­ab­ge­senkt wer­den, bei hohem Risiko auf unter 100mg/​dl, bei mitt­le­rem Risiko auf unter 130 mg/​dl und bei nied­ri­gem kar­dio­vas­ku­lä­ren Risiko auf unter 160mg/​dl. Beim Über­schrei­ten des LDL-Cho­le­ste­rin-Ziel­wer­tes wird zunächst eine reine Lebens­sti­län­de­rung emp­foh­len. Eine medi­ka­men­töse The­ra­pie wird nötig, wenn bei Pati­en­ten mit gerin­gem oder mitt­le­rem Risiko nach drei­mo­na­ti­gem Ver­such einer Lebens­stil­mo­di­fi­ka­tion die fest­ge­leg­ten Schwel­len­werte noch immer über­schrit­ten wer­den. Bei hohem und sehr hohem Risiko wird sofort mit einer medi­ka­men­tö­sen The­ra­pie begon­nen. Eine LDL-Cho­le­ste­rin-Sen­kung von min­des­tens 35 Pro­zent wird dabei ange­strebt.



HDL gewinnt an Bedeu­tung

Das soge­nannte „gute“ HDL-Cho­le­ste­rin löst Cho­le­ste­rin­mo­le­küle aus den Gefä­ßen, trans­por­tiert diese zur Leber und schützt dadurch die Gefäße. Beson­ders wich­tig ist die­ser Wert bei Pati­en­ten mit meta­bo­li­schem Syn­drom oder Typ 2‑Diabetes oder bei Pati­en­ten, bei denen trotz adäqua­ter Sen­kung des LDL-Cho­le­ste­rins ein kar­dio­vas­ku­lä­res Ereig­nis auf­ge­tre­ten ist. Man geht davon aus, dass im Nor­mal­fall bei Män­nern das HDL-Cho­le­ste­rin über 45 mg/​dl sein sollte, bei Frauen über 50 mg/​dl. Die High-Den­sity-Lipo­pro­te­ine sind in jüngs­ter Zeit mehr ins Bewusst­sein gerückt, da man mit einer Sen­kung der LDL-Werte allein kar­dio­vas­ku­läre Ereig­nisse nicht immer ver­hin­dern konnte und weil es neuere Medi­ka­mente gibt, die es erlau­ben, das HDL güns­tig zu beein­flus­sen, in dem sie den HDL-Cho­le­ste­rin­wert erhö­hen, wie zum Bei­spiel Niko­tin­säu­re­de­ri­vate. Bei Pati­en­ten, die trotz Sta­tin­the­ra­pie und einer Sen­kung des LDL-Cho­le­ste­rin­wer­tes ein kar­dio­vas­ku­lä­res Ereig­nis hat­ten, ist eine Kom­bi­na­tion aus Sta­tin­the­ra­pie und Medi­ka­men­ten zur HDL-Erhö­hung emp­feh­lens­wert. „Bei der Mono­the­ra­pie kom­men diese HDL-Modi­fi­ka­to­ren aller­dings nur zum Ein­satz, wenn Sta­tine nicht ver­tra­gen wer­den“, so Fasching.

Die grüne und die gelbe Box

Auf der einen Seite ori­en­tiert sich die Wahl der The­ra­pie einer Dys­li­pi­dä­mie an der lipidsen­ken­den Potenz des ein­ge­setz­ten Medi­ka­ments, um die vor­ge­ge­bene LDL-Cho­le­ste­rin­wert-Absen­kung zu errei­chen, auf der ande­ren Seite an der Reduk­tion der vas­ku­lä­ren Mor­bi­di­tät und Mor­ta­li­tät. Grund­lage der Ver­schrei­bung ist heute das Boxen­sys­tem. „Sta­tine aus der ‚grü­nen Box‘ (Stan­dard­sta­tine) sind zuerst zu ver­wen­den. Das ist eigent­lich nicht in allen Fäl­len sinn­voll“, betont Univ. Prof. Her­mann Toplak von der Uni­kli­nik Graz. Es gäbe erwar­tete Response-Aus­maße bei allen Sta­ti­nen. Mit einem LDL‑C von über 180 mg/​dl werde kaum jemals ein Grün­box-Sta­tin einen Ziel­wert von 100 mg/​dl unter­schrei­ten hel­fen. Toplak wei­ter: „Hier sollte man gleich ‚stär­ker‘ dosie­ren dür­fen – ein Ziel, das wohl noch eini­ger Ver­hand­lung bedarf.“ Der Vor­teil sei, dass stär­kere Potenz (Ator­vas­ta­tin, Rosuvas­ta­tin – hell­gelbe Box) auch frü­her helfe, den Ziel­wert zu errei­chen. „Des­we­gen wird bei aku­tem Koro­nar­syn­drom auch nicht gezö­gert und gleich hoch­do­siert und potent the­ra­piert. In der Neu­ro­lo­gie gibt es über­haupt nur Daten zur Hoch­do­sis-Sta­tin­the­ra­pie, nach Schlag­an­fall ist daher ent­spre­chend zu reagie­ren“, betont Toplak.

Bei der Behand­lung von Dia­be­tes-Pati­en­ten wie­derum gäbe es eigene Richt­li­nien zu beach­ten. Der Dia­be­ti­ker leide mehr als der Nicht-Dia­be­ti­ker. Der LDL-C-Wert sei schein­bar tief, aber oft wegen klei­ner, dich­ter LDL-Par­ti­kel. Des­we­gen sei der Dia­be­ti­ker mit KHK auch aggres­si­ver zu behan­deln als der Nicht­dia­be­ti­ker (LDLC-Ziel 70 mg/​dl). Auch beim Auf­tre­ten eines meta­bo­li­schen Syn­droms seien spe­zi­elle Dinge von Bedeu­tung: Ent­schei­dend sei hier die exakte Abklä­rung des kli­ni­schen Bil­des. Oft käme ein Hyper­to­ni­ker zur Blut­druck­ein­stel­lung und habe zufäl­lig auch höhere Lipidwerte, die dann oft auch zu behan­deln seien – die Frage dabei sei: auf wel­chen Ziel­wert? „Die Ziel­werte ändern sich fun­da­men­tal, wenn zusätz­lich noch ein Bauch und eine gestörte Glu­ko­se­to­le­ranz vor­lie­gen oder gar ein Dia­be­tes, der nur im OGTT erkannt wird“, erklärt der Experte wei­ter.

Tipps für die Praxis

Bei der Mes­sung der Lipidwerte im Rah­men von Gesun­den- und Vor­sor­ge­un­ter­su­chun­gen sieht Fasching eine wich­tige Maß­nahme. Als nächs­ter Schritt folge anhand des Lipidkon­sen­sus die Über­le­gung, in wel­che Risi­ko­gruppe der jewei­lige Pati­ent gehöre und das ent­spre­chende LDL-Ziel zu errei­chen. „Vor allem bei Pati­en­ten, die bereits ein kar­dio­vas­ku­lä­res Ereig­nis gehabt haben, muss dar­auf geach­tet wer­den, wel­ches Sta­tin ver­schie­ben wird, denn es gilt bei die­sen auf ein hoch­po­ten­tes Sta­tin zurück­zu­grei­fen – zumin­dest in den ers­ten Mona­ten nach dem Ereig­nis.“ Hier bestehe den Aus­sa­gen von Fasching zufolge oft die Schwie­rig­keit, dass beim Wech­sel der Pati­en­ten vom Kran­ken­haus in den nie­der­ge­las­se­nen Bereich oft die wei­ter­be­han­deln­den Ärzte die Pati­en­ten vom Hoch­do­sis-Sta­tin in der gel­ben Box auf die Stan­dard­the­ra­pie in der grü­nen Box umstel­len – nach dem Motto: Sta­tin ist Sta­tin! Fasching dazu: „Das reicht bei Hoch­ri­si­ko­pa­ti­en­ten nicht aus. Meine Bitte an alle Betei­lig­ten wäre, zunächst das kar­dio­vas­ku­läre Risiko des Pati­en­ten genau zu defi­nie­ren und die Begrün­dung der Ver­ord­nung des Hoch­do­sis-Sta­tins genau anzu­füh­ren und sich im nie­der­ge­las­se­nen Bereich an diese Ver­ord­nung zu hal­ten.“ Abschlie­ßend erklärt auch Toplak, dass die Ziel­wert-Ori­en­tie­rung in der The­ra­pie die „Stan­dard­the­ra­pie“ mit x mg eines Sta­tins ablö­sen wird müs­sen, um die Pati­en­ten so zu behan­deln, wie sie es erwar­ten dürfen.

„Klas­si­sche“ kar­dio­vas­ku­läre Risikofaktoren*

„Klas­si­sche“ kar­dio­vas­ku­läre Risi­ko­fak­to­ren laut öster­rei­chi­schem Lipidkon­sen­sus 2010:

  • Alter (Män­ner: > 45 Jahre; Frauen: > 55 Jahre)
  • posi­tive Fami­li­en­ana­mnese für prä­ma­ture KHK (männ­li­che erst­gra­dig Ver­wandte 55 Jahre; weib­li­che erst­gra­dig Ver­wandte 65 Jahre)
  • Rau­chen
  • Hyper­to­nie (RR > 140/​90 mmHg oder anti­hy­per­ten­sive Medikation)
  • HDL‑C 40 mg/​dl

Ein hoher HDL-C-Wert zählt als „nega­ti­ver“ Risi­ko­fak­tor:
Wird ein HDL‑C von > 60 mg/​dl gemes­sen, kann bei der Risi­ko­ab­schät­zung ein vor­han­de­ner posi­ti­ver Risi­ko­fak­tor abge­zo­gen wer­den.
* laut Öster­rei­chi­schem Lipidkon­sen­sus 2010-11-05

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 22 /​25.11.2010