Neue Grippe: Impfstoff im Überfluss

25.01.2010 | Medizin


Impfstoff im Überfluss

In ganz Europa stapeln sich die gelagerten Impfstoffreserven gegen die Neue Grippe. Während Deutschland und Frankreich auf Verkauf setzen, profitiert Österreich von flexiblen Lieferverträgen mit dem Impfstoffhersteller.  

Nachdem sich die Impfbereitschaft der europäischen Bevölkerung weit unter dem erwarteten Ausmaß befindet, versuchen nun viele europäische Länder, die zu viel bestellten Mengen der Impfdosen zu reduzieren. Allein in der Hansestadt Hamburg lagern rund 200.000 georderte Dosen der Vakzine, da sich nur etwa sechs Prozent der Einwohner impfen ließen. Die Bundesrepublik zieht nun die Konsequenzen und verhandelt seit Anfang Jänner mit dem Hersteller Glaxo-Smith-Kline, um die bestellte Menge von 50 Millionen Dosen zu stornieren. Laut Staatssekretär Schubert sei eine Änderung der Ausgangslage Verhandlungsbasis, denn bei der Bestellung der Vakzine sei man noch von der Notwendigkeit einer Zweifach-Impfung ausgegangen.

Neben der Reduktion von bestellten Impfstoffmengen wird auch der Verkauf von vielen europäischen Staaten in Erwägung gezogen. Immerhin haben nach Angaben des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bereits Länder wie Moldawien, Mazedonien, der Kosovo, Albanien, die Mongolei und die Ukraine im Kontext von Entwicklungshilfe Interesse an überschüssigen deutschen Impfstoffdosen gezeigt. Zu einer preislichen Einigung ist es aber noch nicht gekommen. Frankreich hat im Gegensatz bereits erfolgreich mit Ägypten und Katar verhandelt und 2,5 Millionen Dosen verkauft. Weitere Verhandlungen laufen derzeit mit Mexiko und der Ukraine. Dennoch musste das französische Gesundheitsministerium 50 Millionen Impfstoffdosen stornieren, da sich nur fünf Millionen ihrer Landsleute impfbereit zeigten.

Die österreichische Situation unterscheidet sich hingegen grundlegend durch die Beschaffenheit der Verträge mit den Impfstoffherstellern von der Frankreichs oder Deutschlands. Allerdings hält sich auch hier zu Lande die Nachfrage nach Impfungen in Grenzen. Eine flexible Regelung, die nur im Bedarfsfall zur Belieferung mit 16 Millionen Dosen Impfstoff führt, hat eine Reduktionspolitik, wie sie in anderen europäischen Staaten praktiziert wird, nicht notwendig gemacht. Zwar wurde der Anfang November gelieferte heimische Vorrat von 520.000 Dosen noch nicht aufgebraucht, jedoch können die österreichischen Impfstoffreserven nicht mit derart hohen Lagerbeständen wie sie in Deutschland oder Frankreich vorliegen, verglichen werden.

Bisher ließen sich 263.822 (Stand: 30. Dezember) Österreicher und Österreicherinnen gegen die Neue Grippe immunisieren. Die Ansteckungen innerhalb des Landes sind in den vergangenen Wochen leicht zurückgegangen. In der Adventzeit hat die Zahl der Neuerkrankungen laut Hochrechnungen des Wiener Grippeüberwachungssystems von 34 000 auf 16 000 bis 24 000 abgenommen. Auch die Zahl der stationären Aufnahmen verringerte sich in diesem Zeitraum von 172 bis 209 auf 140 und in der  Woche nach Weihnachten auf 99. Insgesamt kann in der Vorweihnachtszeit von 250.000 bis 300.000 Erkrankten (Stand: 30. Dezember) und seit Beginn der Influenza-Saison von 400.000 bis 500.000 (Stand: 30. Dezember) infizierten Österreichern ausgegangen werden.

Von einer Entwarnung kann folglich noch nicht gesprochen werden. WHOChefin Margaret Chan weist auf die Tatsache hin, dass der Höhepunkt der Epidemie zwar in Ländern wie der USA und Kanada überschritten sei, andere Staaten aber noch nicht von einer Abnahme des Virus sprechen können. Gerade in ländlichen Regionen Chinas breitet sich die Neue Grippe besonders rasant aus. Trotz Impfaktionen und einem Rückgang der Infektionen in großen Städten wie Peking und Shanghai befürchtet die chinesische Regierung eine hohe Zahl an Neuansteckungen in den ärmeren Gebieten des Landes.     

Verstärkter Impfeffekt durch Adjuvans

Einen durch das Adjuvans MF59 verstärkten Effekt der Impfung gegen die Neue Grippe haben Forscher des Schweizer Pharmakonzerns Novartis an Versuchstieren nachgewiesen. Folgt nach der Verabreichung der saisonalen Influenza Vakzine „Fluad“ die Impfung gegen die A(H1N1) Erreger, so sei eine intensivierte Immunisierung möglich. Zu dieser Erkenntnis gelangten die Wissenschafter durch den Vergleich von Frettchen aus acht Versuchsgruppen, die zuerst gegen die saisonale Grippe der Saison 2008/2009 und vier Wochen später gegen die Neue Grippe zum Teil mit Adjuvans und zum Teil ohne den Wirkstoffverstärker geimpft wurden. Am erfolgreichsten stellte sich eine Kombination der beiden Grippeimpfungen mit jeweils einem Adjuvans heraus, die bei den Nagern zu einer hohen Anzahl an Antikörpern und zu einer Schonung des Lungengewebes führte. Ausgangspunkt dafür könnten durch die erste Impfung aktivierte Zellen des Immunsystems sein. Unklar ist aber noch, wie relevant die im „Science Translational Medicine“ veröffentlichten Erkenntnisse für den Menschen sind, da einerseits lediglich vom Tierversuch ausgegangen werden kann und andererseits der Neue Grippe-Impfstoff „Focetria“ ohnehin mit Adjuvans versetzt ist.  


Interview  

„Das Influenzavirus ist schuld!“

Dass die Pandemie nicht solche Ausmaße angenommen hat, wie ursprünglich befürchtet wurde, daran ist allein das Influenza-Virus schuld. Das erklärt Univ. Prof. Michael Kunze, Vorstand des Instituts für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Wien, im Gespräch mit Birgit Oswald.

ÖAZ: Obwohl sie angekündigt war, ist es nicht zu einer Katastrophe in Bezug auf die Neue Grippe gekommen. Was hat Ihrer Ansicht nach Anlass zu nahezu panischen Warnungen vor einer Pandemie gegeben? Spielen Pharmakonzerne eine Rolle?
Kunze: Grundsätzlich ist bei der Influenza alles möglich, also auch Verläufe, die als relativ harmlos gelten. Aber von Harmlosigkeit kann keine Rede sein. In Österreich sind Hunderttausende Menschen erkrankt, es gab auch Todesfälle. Aber es stimmt: Im Vergleich zur Pandemie 1918 ist die Neue Grippe sehr mild verlaufen. Ich betone aber, dass nur in diesem Vergleich von „harmlos“ gesprochen werden kann, denn es ist sehr wohl sehr viel geschehen. Schuld daran ist allein das Influenzavirus, bei dem man nie genau weiß, was als nächstes passiert. Die Pharmaindustrie steckt sicher nicht dahinter, da die Nachfrage an Impfstoff viel größer war, als die Pharmaindustrie tatsächlich nachkommen konnte. Ich glaube eher, dass die Pharmaindustrie kein großes Geschäft, wenn nicht sogar Verluste, gemacht hat, weil jetzt die Nachfrage nach Impfstoffen extrem zurückgegangen ist. Es sind überall Lager von nicht verbrauchtem Impfstoff vorhanden. Von einer Inszenierung der Pharmaindustrie kann keine Rede sein. Es war eine Pandemie ausgerufen worden, erschreckende Bilder aus Mexiko vorhanden und außerdem ist eine weltumspannende Seuche aufgetreten und hat viele Tausende Todesopfer gefordert.

Glauben Sie, dass auch Inszenierungen der Medien Schuld tragen?

Es war ein Vorgang, der zu Beginn sicherlich sehr von den Medien beeinflusst war. Seit 24. April 2009 hat uns CNN Mexico City die Bilder geschickt und darauf sind die restlichen Medien aufgesprungen.

Sie haben die Impfstoffvorräte angesprochen, die in Österreich und anderen europäischen Ländern gelagert sind. Deutschland und Frankreich versuchen, die Vakzine zu verkaufen. Gibt es ähnliche Intentionen in Österreich?
Hier gibt es einen großen Unterschied zwischen Österreich und Deutschland. Während Deutschland eine Riesenmenge an Impfstoffen bestellt hat und nun darauf sitzen bleibt, hat Österreich nur eine kleinere Menge bestellt und bei Bedarf eine weitere Lieferung gesichert. Österreich hat mit der Industrie ganz andere Abkommen getroffen und steht dadurch jetzt auch besser da.

Was wird mit dem nicht benötigten Impfstoff passieren?
Das Ganze ist ja noch nicht vorbei. Es kann jederzeit eine zweite Welle kommen und Impfstoff benötigt werden. Gerade weil sich so wenige impfen haben lassen, ist die Ansteckungsgefahr hoch und wenn das Virus wiederkehrt, dann trifft es auch sehr viele Leute, die unvorbereitet sind.

Würden Sie eine Impfung zum jetzigen Zeitpunkt noch empfehlen?
Absolut. Die Neue Grippe kann wiederkommen und außerdem kann dieses Virus in der nächsten Saison das saisonale sein. Dann hätte der Körper schon erste Informationen bekommen.

Sind Sie mit der Vorbildfunktion von österreichischen Politikern in punkto Impfbereitschaft zufrieden?

Es war etwas ungeschickt, sich so zu äußern. Der Gesundheitsminister hat zumindest gesagt, er lässt sich im Moment nicht impfen und wartet, bis alle immunisiert sind, die es dringender brauchen. Auch prominente Mediziner haben sich zum Teil zu unqualifizierten Äußerungen hinreißen lassen, das ist für mich viel ärger als die Aussagen der Politiker.

Hat die Neue Grippe die saisonale Influenza verdrängt?
Momentan haben wir nur die Neue Grippe. Wie sich die Situation entwickelt, das weiß niemand. Es kann sein, dass die saisonale Grippe in ein bis zwei Monaten kommt – oder auch nicht. Ebenso ist es möglich, dass eine zweite Welle der Neuen Grippe kommt. Österreich hat sich sehr gut vorbereitet und seine Systeme erproben können. Es ist gut, dass es nicht zur großen Katastrophe kam, aber harmlos ist die Sache überhaupt nicht.

Wird die neue Ausbruchswelle in China auch Einfluss auf Europa und Österreich haben?

Na sicher. Es kann jeder Zeit wieder aus China zurückkommen, man denke nur an den Flugverkehr. Das kann niemand ausschließen.      


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2010