Kompartmentsyndrom: Bessere Einschätzung verringert Eingriffe

25.04.2010 | Medizin

Die zweithäufigste Komplikation bei einer Fraktur des Unterschenkels ist das Kompartmentsyndrom. Bei der Therapie, der Spaltung der Faszien, geht man mittlerweile zurückhaltender vor, u.a. auch deswegen, weil man besser einschätzen kann, wann aus einem drohenden ein manifestes Kompartmentsyndrom wird.
Von Sabine Fisch

Hämatome, Ödeme oder Frakturen führen am häufigsten zur Ausbildung eines Kompartmentsyndroms. Die mittlere jährliche Inzidenz dafür wird mit 7,3 auf 100.000 bei Männern und 0,3 auf 100.000 Frauen angegeben. Nach der tiefen Beinvenenthrombose ist das Kompartmentsyndrom die häufigste Komplikation bei Frakturen des Unterschenkels. Statistiken zufolge sind 70 Prozent aller Kompartmentsyndrome traumatisch bedingt. Fünfzig Prozent davon entstehen durch stark dislozierte, meist geschlossene Schaftfrakturen und Dislokationen von großen Gelenken. Eine der häufigsten Lokalisationen des Kompartmentsyndroms ist der Unterschenkel nach einer Fraktur, Schienbein-Kantensyndrom genannt. „Auch nach ausgedehnten Operationen an der Hüfte oder am Bein kann es postoperativ zur Ausbildung eines Kompartmentsyndroms kommen“, berichtet Univ. Prof. Harald Hertz, ärztlicher Leiter des Lorenz Böhler Unfallkrankenhauses in Wien. Weitere Lokalisationen eines Kompartmentsyndroms: der Unterarm, die Füße sowie der Bauchraum nach ausgedehnten Operationen.

Unbeweglich lagern

In Wintersportgebieten sehen Unfallchirurgen das Kompartmentsyndrom nach Unterschenkelfraktur aufgrund von Sportunfällen. Dieses Syndrom kann sich relativ rasch entwickeln – mit Konsequenzen bei der Bergung. „Das Bein darf nicht unter Zug gehalten, sondern muss unbeweglich gelagert werden“, erläutert Univ. Prof. Michael Blauth, Vorstand der Universitätsklinik für Unfallchirurgie an der Medizinischen Universität Innsbruck. Dies geschieht entweder mittels Vakuumschienen oder indem Sandsäcke um die verletzte Gliedmaße gelagert werden.

Unerträgliche Schmerzen

Ein Kompartmentsyndrom tritt auf, wenn sich der Gewebedruck innerhalb einer Muskelloge akut erhöht, etwa aufgrund eines Hämatoms. Durch die Druckerhöhung im Gewebe kommt es zu einer akuten Durchblutungsstörung im Muskel. Auch die Nervenbahnen, die zum Muskel führen, werden unterbrochen. Es kommt zu einem akut einsetzenden, bohrendbrennenden, teils krampfartig auftretenden Schmerz, der zunehmende Tendenz zeigt. Störungen der Muskelfunktion, Druckschmerz und Verhärtung über dem Kompartment sind typische Zeichen, gefolgt von Parästhesien, Hypästhesien und rasch folgenden Sensibilitätsausfällen. „Treten im betroffenen Gebiet starke, auch durch Schmerzmittel nicht beherrschbare Schmerzzustände auf, ist dies ein wesentlicher Hinweis auf ein Kompartmentsyndrom“, erklärt Blauth. „Ein typisches Zeichen an der unteren Extremität ist eine deutliche Gefühlsstörung zwischen großer und zweiter Zehe am Oberfuß. Wird die Großzehe nach oben gebogen, so empfindet der Patient Schmerzen“, ergänzt Hertz.

Subfasziale Druckmessung

Die Diagnose wird meist nach einer subfaszialen Druckmessung gestellt. Dabei wird in das betroffene Gebiet eine Kanüle eingeführt, die über einen Infusionsschlauch mit einem Messgerät verbunden ist. Steigt der intramuskuläre Druck auf oder über 40 mmHg, ist dringender Handlungsbedarf gegeben, um eine Nekrotisierung des betroffenen Muskels zu vermeiden. „Dies kann zum völligen Funktionsverlust der betroffenen Extremität führen“, warnt Hertz. So kann es an Händen oder Füßen zur sogenannten Volkmannschen Kontraktur kommen, die in einer krankhaften Beugestellung der Hand- und Finger- beziehungsweise Fuß- und Zehengelenke resultiert. „Aufgrund der engmaschigen Überwachung von Frakturpatienten ist diese Komplikation zwar selten geworden, kommt aber leider immer noch gelegentlich vor“, berichtet Blauth. Differentialdiagnostisch muss abgeklärt werden, ob eine akute Venenthrombose oder Nervenlähmungen, ein Sudeck-Syndrom, akute Infektionen oder Inflammationen, eine Crush-Verletzung oder ein funktionelles Kompartmentsyndrom vorliegt.

Fasziotomie

Beim akuten Kompartmentsyndrom müssen die derben Faszien, die die betroffenen Muskeln umschließen, meist gespalten werden. „Dabei ist es essentiell, alle betroffenen Faszien zu spalten“, gibt Harald Hertz an. Am Unterschenkel und Unterarm existieren jeweils vier Kompartimente, die im Fall einer operativen Sanierung des Kompartmentsyndroms gespalten werden müssen. Manchmal kann sich ein akutes Kompartmentsyndrom aber auch von selbst zurückbilden. „Wir sind mit der Spaltung zurückhaltender geworden. Wir können heute besser einschätzen, wann aus einem drohenden ein manifestes Kompartmentsyndrom wird“, so Blauth. Wird ein Kompartmentsyndrom manifest, muss sofort chirurgisch eingegriffen werden.

Dabei erfolgt – am Beispiel Unterschenkel –eine parafibulare Dekompression aller vier Kompartments durch einen lateralen Zugang. Den Schnitt setzt der Chirurg zwischen Fibulaköpfchen und Außenknöchelspitze. „Eine lege artis durchgeführte Spaltung kommt mit einem Zugang aus“, hält Michael Blauth fest. Der wichtigste Aspekt einer Spaltungsoperation ist die Spaltung der tiefen dorsalen Faszie, weil in dieser die Blutgefäße und die Nerven lokalisiert sind. Auf dem Weg dorthin werden die drei anderen Faszien gespalten.

Nach der Operation wird die Wunde offengehalten. Um eine Schließung der Wunde mit eigener Haut zu fördern, werden beispielsweise Silikonbänder eingesetzt, damit sich die Hautränder langsam und gleichmäßig annähern können. Spalthaut kommt mittlerweile nur noch selten zur Anwendung. „Es sollte auf jeden Fall 14 Tage abgewartet werden, bevor eine Spalthauttransplantation erwogen wird“, zeigt sich Harald Hertz überzeugt. Nur wenn die Wundränder auch nach zwei Wochen nicht ausreichend angenähert werden können, sollte eine Spalthauttransplantation durchgeführt werden. Eine Meinung, der sich der Innsbrucker Unfallchirurg Michael Blauth anschließt: „Ich wehre mich dagegen, zu früh zu decken, denn in den meisten Fällen ist die Spalthauttransplantation mit Geduld und Abwarten absolut zu vermeiden.“

Gefürchtete Nekrose

Wird zu spät operiert, kann eine Reihe von Komplikationen auftreten: Besonders gefürchtet ist die irreparable Nekrose der Muskulatur. In der betroffenen Muskulatur bildet sich dann ein Narbenstrang, der mit einer entsprechenden Funktionsbeeinträchtigung der Extremität verbunden ist. „Früher konnte man noch Patienten mit sogenannten „Krallenhänden“ oder „Krallenfüßen“ sehen“, berichtet Michael Blauth: „Heute ist diese Komplikation aufgrund verbesserter Diagnostik und früher Therapie zum Glück selten geworden.“ Werden die Faszien rechtzeitig gespalten, ist die Prognose für den Patienten in der Regel gut.

Funktionelles Kompartmentsyndrom

Neben dem akuten Kompartmentsyndrom, das eine rasche Diagnose und Behandlung erfordert, wird immer öfter auch ein funktionelles oder chronisches Kompartmentsyndrom beobachtet. Dieses tritt vor allem bei Extremsportlern auf, die ihre Muskulatur zu rasch auftrainieren oder ständig zu stark belasten. Auch bei Bodybuildern, die ihre Muskeln –nicht selten aufgrund der Einnahme von Anabolika – zu rasch auftrainieren – kann ein funktionelles Kompartmentsyndrom auftreten. Ein funktionelles oder chronisches Kompartmentsyndrom wird konservativ behandelt: Die betroffene Extremität soll gekühlt werden. Die sportliche Betätigung ist einzustellen, bis die Beschwerden wieder abgeklungen sind. Zur Verhinderung eines Wiederauftretens sollte das Training auf ein vernünftiges Maß eingeschränkt und die Belastung langsam und schrittweise erhöht werden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2010