Kindergesundheit in Österreich: Negativ-Vorbild Erwachsene

25.03.2010 | Medizin

Die österreichischen Jugendlichen stellen ein Spiegelbild des Verhaltens der erwachsenen Bevölkerung dar. Das ist eine der Ursachen dafür, wieso Mädchen und Burschen so früh und so zahlreich zu Alkohol und Zigaretten greifen.
Von Birgit Oswald

Im Spitzenfeld liegen Österreichs Kinder bezüglich Rauchen, Alkoholkonsum und Lebensstil-Erkrankungen im Vergleich mit anderen Industriestaaten, wie ein entsprechender Bericht der OECD ergab. Besorgnis erregend sind die Zahlen, die exzessiven Alkoholkonsum betreffen: 22,7 Prozent der 13- bis 15-jährigen waren bereits mindestens zwei Mal betrunken. Besonders die Mädchen haben in puncto Alkoholkonsum erheblich aufgeholt. „Auf zwei problematisch trinkende Burschen kommt schon ein Mädchen. Wir haben also ein Verhältnis von 1:2. In 20 Jahren wird daher die Anzahl an Alkoholkranken erheblich ansteigen, dann wird auch bei den Erwachsenen ein Verhältnis 1:2 gelten“, prognostiziert der Leiter des Anton Proksch-Instituts in Wien, Univ. Prof. Michael Musalek.

Gründe für den hohen und frühen Alkoholkonsum der österreichischen Jugendlichen sieht Musalek mehrere: Einerseits sei die herrschende Bagatellisierung und leichte Erhältlichkeit von Alkohol schuld, andererseits spielen Nachahmungseffekte eine große Rolle. „Österreich liegt nicht nur bei den jugendlichen, sondern auch bei den erwachsenen Konsumenten und Alkoholkranken, sowie bei den problematischen Fällen im Spitzenfeld. Jugendliche spiegeln die Gesamtsituation Österreichs wider. Wenn Jugendliche in einem Milieu aufwachsen, in dem Alkohol eine große Rolle spielt und nicht tabuisiert ist, greifen sie eben auch früh zu Alkohol.“ 

Eine Verschärfung des Jugendschutzgesetztes, das den Kauf und Genuss von Alkohol erst ab dem 16. Lebensjahr vorsieht, sieht Musalek nicht als zielführend, da es nicht am Gesetz an sich sondern an der Akzeptanz des Gesetzes mangelt. Alkohol ist für Jugendliche unter 16 Jahre offensichtlich leicht zugänglich: Bereits 80 bis 90 Prozent der 15-Jährigen haben demnach mehrfach Erfahrungen mit dem berauschenden Getränk gemacht. Immerhin wurden seit dem Boom der Alkopops die Kontrollen verschärft, viel wichtiger sei jedoch, dass in der Bevölkerung ein Problembewusstsein geschaffen werde. „Die Menschen wissen noch immer sehr wenig über Alkohol. Dementsprechend kann keine Handlungskompetenz aufgebaut werden“, so Musalek.

Neben dem auffallend hohen Alkoholkonsum liegen die heimischen Jugendlichen auch beim Nikotingenuss weit vorne in der OECD- Statistik. 27 Prozent der 15-Jährigen rauchen regelmäßig; damit liegt Österreich um mehr als ein Drittel über dem OECD-Schnitt. Dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Genussmitteln gibt, ist naheliegend. Musalek dazu: „90 Prozent aller Alkoholkranken sind auch nikotinabhängig. Bei einem gleichzeitigen Entzug von beiden Suchtmitteln fällt die Langzeit- Prognose deutlich besser aus“, stellt der Experte fest.

Zu bedenken gilt, dass vor allem bei männlichen Jugendlichen Alkohol auch als Flucht vor ihren Problemen genutzt wird. Viele Jugendliche leiden an psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Burn out-Syndromen, welche bei Burschen oft nicht diagnostiziert werden. „ Angststörungen passen nicht zum männlichen Image und werden daher oft nicht erkannt, was häufig zur Selbstmedikation führt. Das Psychopharmakon, das am besten verfügbar ist und am besten schmeckt, ist der Alkohol“, erklärt Suchtexperte Musalek. Auch Univ. Prof. Gernot Sonneck, Vorstand des Instituts für Medizinische Psychologie der Medizinischen Universität Wien, sieht den frühen und hohen Alkoholkonsum der männlichen Jugendlichen als Zeichen einer Depression: „ Wir beschäftigen uns erst seit einigen Jahren mit der typisch männlichen Depression, die durch Anzeichen von Dysphorie, Aggressivität, Alkoholmissbrauch, Randalen etc. gekennzeichnet ist.“ Da männliche Jugendliche sehr selten Hilfe bei psychologischen Stellen suchen, „müssen Allgemeinmediziner besonders sensibel auf solch erste Anzeichen einer Depression achten“, betont Sonneck. Die klassische Frage „Wann haben sie sich zu letzt über etwas gefreut“ könne auf die typische Freudlosigkeit, die bei einer Depression auftritt, hindeuten. 

Auch Musalek betont die wichtige Rolle der ersten ärztlichen Anlaufstellen: „Es geht vor allem um Allgemeinmediziner und Fachärzte. Dorthin wenden sich Betroffene oft wegen Herzrasens, einem Herzangstsyndroms oder einer Blutungsproblematik hin. Dahinter stecken oft psychische Probleme oder problematischer Alkoholkonsum.“ Neben immer häufiger auftretenden psychosomatischen und psychosozialen Problemen sowie Lebensstilerkrankungen und Entwicklungsstörungen ist auch die Suizidgefahr und Risikobereitschaft besonders bei Burschen stark ausgeprägt. In der Altersklasse der 15- bis 19-Jährigen ist die Sterblichkeit doppelt so hoch wie etwa in Japan und 40 Prozent höher als im benachbarten Deutschland. „Die Suizidrate in Österreich ist generell höher als die in Deutschland, obwohl sie besonders in Wien deutlich zurück gegangen ist“, relativiert Sonneck. „Ärzte spielen eine große Rolle bei der Suizidprävention, da viele Betroffene beim Hausarzt mit körperlichen Beschwerden auftauchen. Das Kriseninterventionszentrum bietet deshalb Schulungen für Hausärzte an“. Bezogen auf Geschlechterunterschiede der Suizidrate sieht Sonneck vor allem die Gender-typischen Verhaltensmuster als Grund für die hohe männliche Suizidrate. „Generell ist es ein Gender-Problem, dass Männer ihre eigene Hilfsbedürftigkeit nicht wahrnehmen. Mädchen reden über ihre Probleme, Burschen erst dann, wenn sie diese schon bewältigt haben. Hilfe anzunehmen ist bei Männern in unseren Breiten noch sehr schlecht ausgeprägt.“

Selbst wenn junge Menschen Hilfe suchen, ist es schwierig, diese im ausreichenden Maß zur Verfügung zu stellen. Junge Patienten hätten vor allem mit monatelangen Wartezeiten auf Therapien, überlaufenen ambulanten und stationären Einrichtungen teils mit Aufnahmesperren, privaten Zuzahlungen oder fehlenden Zulassungen für Medikamente zu kämpfen. „Selbst in einer großen Stadt wie Wien gibt es zu wenige Therapieplätze. Auf einen Kassenplatz wartet man bis zu einem Jahr, das ist gerade für junge Menschen eine Katastrophe“, weiß Sonneck. Die Krankenkassen sind aber nur sehr eingeschränkt bereit, die Kosten für solche Therapien zu decken, als Folge nehmen österreichweit nur 0,3 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Behandlung in Anspruch. 

Das schafft auch Probleme bei Schulabgängern, die häufig aus sozial schwachen oder Familien mit Migrationshintergrund stammen. „Österreich hat zehn Prozent Schulabbrecher. Gerade unter diesen „Early school leavers“ sind viele sozial schwache Jugendliche, die sich eventuell notwendige Therapien nicht leisten können“, erklärt Sonneck. Laut OECD-Bericht gehen Österreichs Jugendliche zwar lieber in die Schule als in den Vergleichsländern. Die Kluft zwischen begabten und weniger begabten Schülern ist aber sehr groß, wobei die durchschnittliche Leistung der Kinder und Jugendlichen eher mittelmäßig ausfällt. Dem OECD- Bericht zufolge ist auch Mobbing ein an heimischen Schulen stark verbreitetes Problem. 16 Prozent der Schüler geben an, kürzlich gemobbt worden zu sein. „Es fehlen Ressourcen im Schulsystem. Wenn es genügend Schulärzte und Schulpsychologen gäbe, die aktiv vor Ort etwas tun könnten, ließe sich die Problemlage verändern“, erklärt Sonneck.

Und auch um die gesunde Lebensweise der Jugend insgesamt steht es folglich schlecht. Bei der Ernährung etwa fallen die männlichen Jugendlichen negativ in der Statistik auf: Nur in Finnland essen weniger männliche Jugendliche regelmäßig Obst. Somit hat sich auch der Anteil der Fettleibigen in Österreich in den vergangenen Jahren beinahe verdoppelt und ist im OECD- Vergleich am schnellsten gestiegen. 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2010