Insu­li­ni­sie­rung bei Dia­be­tes: Zu spät, weil zu aufwändig?

10.05.2010 | Medizin

Im Gegen­satz zu vie­len ande­ren euro­päi­schen Län­dern wird in Öster­reich rela­tiv spät im Krank­heits­ver­lauf eines Dia­be­tes insu­li­ni­siert. Dies ist mög­li­cher­weise mit einer gewis­sen Scheu der Ärzte gegen­über der Insu­lin­ein­stel­lung zu begrün­den – stellt diese doch ins­ge­samt eine sehr auf­wän­dige The­ra­pie dar.
Von Alex­an­dra Bach­mayer

Bei einer geschätz­ten Zahl von 500.000 Typ 2‑Diabetikern in Öster­reich spielt der All­ge­mein­me­di­zi­ner eine zuneh­mend wich­tige Rolle bei deren Behand­lung. Anhand der Leit­li­nien, die von der Öster­rei­chi­schen Dia­be­tes Gesell­schaft (ÖDG) her­aus­ge­ge­ben wur­den, kann die The­ra­pie­er­wei­te­rung um Insu­lin zusätz­lich zu ora­len Anti­dia­be­tika auch in der Ordi­na­tion eines Haus­arz­tes durch­ge­führt wer­den, wie Univ. Prof. Chris­toph Eben­bich­ler von der Uni­ver­si­täts­kli­nik Inns­bruck bestä­tigt. Sei­ner Mei­nung nach sol­len in ers­ter Linie Pati­en­ten in Not­fall­si­tua­tio­nen mit einer gefähr­li­chen sym­pto­ma­ti­schen Hyper­glyk­ämie in einem Zen­trum the­ra­piert wer­den, wäh­rend die übri­gen Pati­en­ten durch­aus vom Haus­arzt ein­ge­stellt wer­den kön­nen. Univ. Prof. Tho­mas Wascher vom Hanusch-Kran­ken­haus in Wien gibt zu beden­ken, dass in Öster­reich im Gegen­satz zu ande­ren euro­päi­schen Län­dern wie Groß­bri­tan­nien oder Skan­di­na­vien rela­tiv spät im Krank­heits­ver­lauf insu­li­ni­siert wird. Er führt dies auf eine gewisse Scheu der Ärz­te­schaft gegen­über der Insu­lin­ein­stel­lung zurück.

All­ge­mein gilt, dass die Insu­lin­the­ra­pie erst nach Aus­schöp­fung der ora­len Anti­dia­be­tika zum Ein­satz kommt; ent­schei­dend ist der HbA1C-Wert. Beide Exper­ten sind sich darin einig, dass je nach Alter und Kom­or­bi­di­tä­ten für jeden Pati­en­ten ein indi­vi­du­el­les The­ra­pie­ziel ange­strebt wer­den soll. Laut Wascher ist Insu­lin dann indi­ziert, wenn die­ses indi­vi­du­elle The­ra­pie­ziel nach Aus­schöp­fung von sämt­li­chen zur Ver­fü­gung ste­hen­den ora­len Anti­dia­be­tika nicht erreicht wer­den kann. Und Eben­bich­ler ver­weist auf das Stu­fen­schema zur Dia­be­tes­the­ra­pie, das in den Leit­li­nien der ÖDG fest­ge­hal­ten ist. Dem­nach ist bei einem HbA1C-Wert unter 6,5 % keine Inter­ven­tion erfor­der­lich. Liegt bei einer Re-Eva­lu­ie­rung nach drei bis sechs Mona­ten der HbA1C-Wert zwi­schen 6,5 und 9%, also außer­halb des Ziel­be­rei­ches, wird Met­formin eta­bliert. Aus­nah­men hier­von sind ein BMI 22 kg/​m², eine Unver­träg­lich­keit oder eine sons­tige Kon­tra­in­di­ka­tion gegen den Wirk­stoff. In die­sem Fall wird ein ande­res ora­les Anti­dia­be­ti­kum gewählt. Liegt der HbA1C-Wert über 9,0% kom­bi­niert man Met­formin mit einem wei­te­ren ora­len Anti­dia­be­ti­kum einer ande­ren Sub­stanz­klasse. Fin­det sich nach einer neu­er­li­chen Re-Eva­lu­ie­rung drei bis sechs Monate spä­ter der HbA1C-Wert immer noch nicht im Ziel­be­reich, ergänzt man ein wei­te­res ora­les Anti­dia­be­ti­kum oder beginnt – zusätz­lich zu Met­formin – mit einer Insu­lin­the­ra­pie. Im Fall einer sym­pto­ma­ti­schen Hyper­glyk­ämie oder einer meta­bo­li­schen Dekom­pen­sa­tion ist der Trans­fer in ein Kran­ken­haus bezie­hungs­weise zu einem Spe­zia­lis­ten indi­ziert.

Zwei Wege

Wascher emp­fiehlt zwei Wege zur Insu­lin­ein­stel­lung. Die erste Mög­lich­keit besteht darin, zusätz­lich zu ora­len Anti­dia­be­tika ein­ma­lig abends ein rei­nes Ver­zö­ge­rungs­in­su­lin zu sprit­zen – „basal­un­ter­stützte orale The­ra­pie“, kurz BOT, genannt. Frü­her wurde diese Insulin­do­sis als „Bedtime-Insu­lin“ bezeich­net. Jeweils in der Früh erfolgt eine ein­ma­lige Blut­zu­cker-Mes­sung. Die zweite Vari­ante ist die Ver­ab­rei­chung eines Misch­in­su­lins ein­mal täg­lich zum Abend­essen. „Beide For­men sind aus­bau­fä­hig und kön­nen je nach Bedarf inten­si­viert wer­den“, erklärt Wascher.

Im Vor­der­grund muss bei der Insu­lin­the­ra­pie immer die indi­vi­du­elle Situa­tion des Pati­en­ten ste­hen. So sieht die Ein­stel­lung eines 50-jäh­ri­gen Pati­en­ten mit einem HbA1C von 14% und einem Blut­zu­cker von 350 mg/​dl anders aus als die eines nicht sym­pto­ma­ti­schen 80-jäh­ri­gen Pati­en­ten mit einem Blut­zu­cker unter 200 mg/​dl. Bei die­sem wird die Blut­zu­cker­ein­stel­lung nicht so strikt erfol­gen und man tole­riert auch HbA1C-Werte von 8%. Hin­ge­gen wird man beim 50-Jäh­ri­gen sofort mit der Insu­lin­ein­stel­lung begin­nen, um die sym­pto­ma­ti­sche Hyper­glyk­ämie zu the­ra­pie­ren. Ent­spre­chend dem Blut­zu­cker-Tages­pro­fil wird eine Insulin­do­sis gewählt, um einen HbA1C von 6,5% oder dar­un­ter zu erzie­len. In der Folge kann das Insu­lin schritt­weise redu­ziert und der Pati­ent letzt­lich auf ein ora­les Anti­dia­be­ti­kum ein­ge­stellt wer­den. Zusätz­lich muss eine Ände­rung der Lebens­ge­wohn­hei­ten mit Ernäh­rungs­um­stel­lung, Gewichts­re­duk­tion und ver­stärk­ter kör­per­li­cher Betä­ti­gung erfolgen.

Je jün­ger die Pati­en­ten sind, umso strik­ter ist auf die Ein­hal­tung des Ziel-HbA1C-Wer­tes von 6,5% zu ach­ten, um das Auf­tre­ten von Fol­ge­schä­den mög­lichst lange hin­aus­zu­zö­gern. Dies gilt in beson­de­rer Weise für Kin­der und Jugend­li­che, bei denen es eben­falls bereits zum Auf­tre­ten von Typ 2‑Diabetes kommt. Der jüngste Pati­ent, an den sich Eben­bich­ler erin­nern kann, war erst sech­zehn Jahre alt. „Lei­der gibt es für diese Alters­gruppe kaum Daten und nur wenig zuge­las­sene Medi­ka­mente“, erklärt der Experte. „Aber gerade bei Kin­dern und Jugend­li­chen muss man im Hin­blick auf die lange Krank­heits­dauer und das früh­zei­tige Auf­tre­ten von Kom­pli­ka­tio­nen auf die strenge Ein­hal­tung eines HbA1C-Wer­tes von 6,5% oder idea­ler­weise sogar von 6,0% achten.“

Auf die Frage nach der Häu­fig­keit von Kon­trol­len für Dia­be­ti­ker gene­rell emp­fiehlt Eben­bich­ler anfangs eine eng­ma­schige Über­wa­chung im Abstand von zwei Wochen. Die Pati­en­ten sol­len ein Blut­zu­cker-Tages­pro­fil und ein Blut­zu­cker-Heft füh­ren, anhand des­sen die Insulin­do­sis indi­vi­du­ell ange­passt wird. Nach guter Ein­stel­lung genü­gen wei­tere Kon­trol­len alle drei bis sechs Monate.

Beide Exper­ten geste­hen ein, dass die Insu­lin­be­hand­lung ins­ge­samt eine sehr auf­wän­dige The­ra­pie ist. Der Pati­ent soll bis zu drei- oder vier­mal täg­lich Blut­zu­cker mes­sen und meist mehr­mals täg­lich Insu­lin sprit­zen, abhän­gig davon, ob er auf eine kon­ven­tio­nelle Insu­lin­the­ra­pie, eine inten­si­vierte kon­ven­tio­nelle The­ra­pie, eine Kom­bi­na­ti­ons­the­ra­pie oder eine funk­tio­nelle Insu­lin­the­ra­pie ein­ge­stellt ist.

Wel­che Vor­teile hat nun eine Insu­lin­the­ra­pie gegen­über einer Behand­lung mit ora­len Anti­dia­be­tika? Eben­bich­ler dazu: „Im Gegen­satz zu ora­len Anti­dia­be­tika, bei denen es eine maximal ver­schreib­bare Dosis gibt, ist Insu­lin von der Dosis her nicht limi­tiert. Bei der Insu­lin­the­ra­pie han­delt es sich immer um den letz­ten Schritt in der Behand­lung des Typ 2‑Diabetes. Insu­lin besitzt ein hohes Poten­tial, den HbA1C-Wert in den Ziel­be­reich zu senken.“

Nach­teil Hypoglykämie

An Nach­tei­len nennt Wascher als ein­zig Ernst zu neh­mende Neben­wir­kung eine Hypo­glyk­ämie. Dies müsse der Pati­ent wis­sen und über ent­spre­chende Gegen­re­gu­la­ti­ons­maß­nah­men unter­rich­tet wer­den. Wei­ters kommt es unter Insu­lin häu­fig zu einer Gewichts­zu­nahme. Wascher betont dar­über hin­aus auch, dass jeder Pati­ent mit einem neu ent­deck­ten Typ 2‑Diabetes von Anfang an dar­über auf­ge­klärt wer­den muss, wie wahr­schein­lich eine Insu­lin­the­ra­pie ist.

Neu­ent­wick­lun­gen auf dem Gebiet der Insu­lin­the­ra­pie sind kurz- und lang­wirk­same Ana­log­in­su­line, die vor allem beim Typ 1‑Diabetes zum Ein­satz kom­men. Wei­ters gibt es Misch­in­su­lin-Ana­loga mit einem 50- bis 70-pro­zen­ti­gen, schnell wirk­sa­men Anteil. Ana­log-Insu­lin ist ein che­misch ver­än­der­tes Insu­lin mit einer ande­ren Ami­no­säu­ren­zu­sam­men­set­zung, das den Bedürf­nis­sen des Dia­be­ti­kers bes­ser ange­passt wer­den kann.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2010