Inaktivitätsosteoporose: Liegen schafft Leiden

25.11.2010 | Medizin

Immobilisation, die beispielsweise durch permanentes Liegen in der Horizontalen verursacht wird, kann Knochenmasseverluste von bis zu zehn Prozent und mehr verursachen. Vor allem chronisch Kranke und polytraumatisierte Patienten sind von Inaktivitätsosteoporose betroffen.
Von Sabrina Amlacher

In Österreich sind rund 700.000 Personen – nach Schätzungen jede dritte Frau und jeder sechste Mann – von Osteoporose betroffen, eine Zahl, die sich bis zum Jahr 2040 durch die steigende Lebenserwartung verdoppeln und das Gesundheitssystem enorm belasten wird.

Laut WHO ist Osteoporose eine der zehn sozioökonomisch bedeutendsten Erkrankungen der Menschheit. Jede zweite Frau über 50 und jeder fünfte Mann über 60 ist somit akut gefährdet, einen Wirbelbruch zu erleiden. In Österreich gab es 1995 geschätzte 520.000 Wirbelkörper-Frakturen. Bis 2050 wird diese Zahl ohne entsprechende Gegenmaßnahmen auf mehr als 900.000 ansteigen. Rund ein Drittel aller Frauen nach dem Wechsel ist von Osteoporose betroffen; ungefähr zwei Drittel aller Frauen über 80 Jahren leiden ebenfalls daran. Der Knochenschwund stellt aufgrund des dabei bestehenden erhöhten Frakturrisikos ein Gesundheitsproblem dar, das in seiner Dimension mit Herzkreislauferkrankungen oder verschiedenen Krebserkrankungen vergleichbar ist.

Aufgrund mangelnder körperlicher Aktivität kommt es zur Inaktivitätsosteoporose. Diese ist unabhängig von ärztlich verordneter Ruhigstellung. „Inaktivitätsosteoporose bezeichnet einen Zustand des Knochens, bei dem durch fehlende physikalische Druck- und Zugkräfte sowohl der Knochenstoffwechsel als auch Material und Struktureigenschaften hinunterreguliert werden“, erklärt Univ. Prof. Heinrich Resch, Vorstand der II. Medizinischen Abteilung mit Gastroenterologie und Rheumatologie am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Wien. „Da auch der Knochenstoffwechsel nach dem Erfordernisprinzip funktioniert, kann Immobilisation etwa durch permanentes Liegen in der Horizontalen Knochenmasseverluste bis zu zehn Prozent und mehr verursachen“, so Resch. Die körperliche Inaktivität trägt gemeinsam mit endokrinologischen und alimentären Faktoren zur Osteoporose des älteren Menschen bei. Die Inaktivitätsosteoporose verursacht – ebenso wie die primäre Osteoporose – keine Symptome. Lediglich wenn Knochenmasse und Knochendichte so niedrig sind, dass Spontanfrakturen auftreten, kommt es zu Symptomen.

Nach einem Trauma entsteht bei Ruhigstellung der betroffenen Extremität eine epi- und überwiegend metaphysäre lokalisierte Osteoporose. Diese Inaktivität oder Teilbelastung verursacht unausweichlich eine Knochenentkalkung der verletzten Extremität. Die Höhe des Knochenverlustes hängt sehr wahrscheinlich mit dem Alter der Patienten, der Dauer der Immobilisation, dem Grad und der Häufigkeit der muskulären Anspannung sowie der Schwerkraftbelastung der unteren Extremität zusammen. „Betroffen von Inaktivitätsosteoporose sind Patienten mit chronischer Krankheit, polytraumatisierte Patienten, Patienten mit anderen Erkrankungen des muskuloskelettalen Apparates. Prinzipiell kann jede Person betroffen sein, die sich täglich weniger als 30 Minuten bewegt“, beschreibt Resch die Risikopatienten. „Letztlich gehört wohl auch die Osteoporose der Raumfahrer zur Inaktivitätsosteoporose“, führt Ass. Prof. Gerd Finkenstedt von der Endokrinologischen Ambulanz der Medizinischen Universität Innsbruck aus.

Drei Phasen

Bei Immobilisation verlieren sowohl junge als auch ältere Erwachsene Knochensubstanz. Besonders tragisch ist der Knochenverlust bei älteren Patienten mit Osteoporose, die wegen einer Fraktur nur für kurze Zeit immobilisiert werden mussten. Als Folge einer Immobilisation kann es nicht nur in der verletzten Extremität, sondern im ganzen Körper zum Verlust von Knochensubstanz kommen. Die Inaktivitätsosteoporose vollzieht sich in drei Phasen mit Knochenverlustraten, die fünf bis 20-fach über denen anderer kalzipenischer Erkrankungen liegen. Sehr wahrscheinlich führt die fehlende Stimulation durch die Bodenkräfte beim Gehen oder Stehen sowie auch nur ein fehlender muskulärer Reiz zu einer Entmkoppelung der ansonsten produktiv zusammenwirkenden Osteoklasten und Osteoblasten. Der Osteozyt nimmt hier eine zentrale Stellung in der Regulation ein. In Phase eins sind beide Zellarten vermehrt, aber es besteht nur bei den Osteoklasten eine unkontrollierte Aktivität mit Resorption der Knochenbälkchen. Die Osteoblasten sind im Gegensatz dazu inaktiviert; möglicherweise durch den fehlenden mechanischen Reiz einer Belastung. Demzufolge nimmt die Knochenneubildungsrate gegenüber dem normal belasteten Knochen eindeutig ab. Die Osteoblasten brauchen für ihre volle Funktionsfähigkeit immer einen passenden mechanischen Reiz, ohne den sie nicht in der Lage sind, genügend Knochenmasse zu bilden. In der zweiten Phase, die etwa in der 24. bis 32. Woche einer Immobilisation passiert, verlangsamt sich der Prozess, wobei immer noch die Osteoklastenaktivität unkontrolliert verläuft und die Osteoblastenaktivität vermindert ist. Die dritte Phase ist durch ein Steady State mit niedrigen Umbauraten gekennzeichnet.

Auch nach dem Ende der Immobilisierung kann der Knochenverlust noch immer voranschreiten. Für die Wiederherstellung der Knochendichte ist es auch von Bedeutung, wie intensiv etwa ein Bein, an dem ein operativer Eingriff vorgenommen wurde, später eingesetzt wird. Langfristig, also über zehn Jahre, scheinen auch Immobilisationsphasen von sechs bis sieben Wochen keine Minderung der Knochendichte zu bewirken, wenn das Bein wieder voll funktionsfähig ist. Nur bei dauerhaften Funktionseinschränkungen bleibt die Osteoporose bestehen. „Beste präventive Maßnahmen von Inaktivitätsosteoporose sind Bewegungstherapie und Mobilisation“, so Resch. Einfache Mittel zur Vermeidung des Knochenabbaus sind die freie Beweglichkeit, die volle Belastung und muskuläre Anspannung. Sind eine Teilbelastung oder Immobilisierung jedoch nicht zu verhindern, müssen weitere Anstrengungen unternommen werden, um den Knochenabbau so gering wie möglich zu halten. Dazu gehören häufige Anspannungen der Muskulatur der betroffenen Extremitäten und ein intensives Kraft- und Ausdauertraining des ganzen Körpers.

Neben dem dosierten Krafttraining und dem Einsatz der Elektrostimulation des Muskels ist die Aquatherapie eine besonders effektive Muskelanspannungsübung. „Wichtig zur Prävention von Inaktivitätsosteoporose ist die optimale Versorgung mit Protein, Kalzium und Vitamin D. Abhängig vom individuellen Frakturrisiko hilft auch eine spezifische medikamentöse Osteoporosetherapie“, so Finkenstedt. Die Continuous-Passive-Motion-Therapie auf der Motorschiene allein reicht zur Prophylaxe der Inaktivitätsosteoporose nicht aus. Zudem ist die Therapie mit Calcitonin, vielleicht auch mit Bisphosphonat, eine Möglichkeit, die Knochenresorption zu hemmen. „Bei immobilen Patienten hilft die Gabe von Antiresorptiva, um den Knochenresorptionsprozess zu bremsen“, erklärt Resch. Das entscheidende Problem der Inaktivitätsosteoporose liegt aber im verminderten Knochenaufbau. „Bewegung, Bewegungstherapie und Antiresorptiva können zur Stabilisierung der Knochenregulationsprozesse führen“, so Resch. „Zur Behandlung von Inaktivitätsosteoporose gibt es keine größeren kontrollierten Studien. Man kann aber davon ausgehen, dass die Medikamente, die in der Behandlung der postmenopausalen Osteoporose eingesetzt werden, auch bei der Inaktivitätsosteoporose eine Wirkung zeigen“, resümiert Finkenstedt.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2010